Hamburgs Nachtwächter: Sie riefen die Uhrzeit aus und jagten Spitzbuben
5. Mai 1842. Ein denkwürdiger Tag in Hamburgs Geschichte. Es ist nachts gegen ein Uhr, als ein Ruf durch die schlafende Stadt gellt: „Füer! Füer in de Diekstraat“. Es ist der Nachtwächter, der die Flammen als Erster bemerkt. Er ruft nicht nur, er schwingt auch seine Rätel, um so seine Kollegen und natürlich die Feuerwehrleute zu alarmieren, die Wittkittel, die wenig später ausrücken, aber nicht viel bewirken. Drei Tage fressen sich die Flammen durch die Altstadt. Ein Drittel Hamburgs wird in Schutt und Asche gelegt. Aber ohne die frühzeitige Warnung des Nachtwächters wären vielleicht sehr viel mehr Menschen ums Leben gekommen.
Die Deichstraße, wo damals alles begann, fast 180 Jahre später. Ein Abend im November 2021. Wieder ist hier ein Nachtwächter unterwegs, der allerdings nicht nach Feuer, sondern nach seiner Touristengruppe Ausschau hält: Ingo Vierk heißt der Mann, der sich immer, wenn die Sonne untergeht, in „Soaven Paul“ verwandelt und dann mit Hellebarde und rußgeschwärzter Laterne bewaffnet Fremde durch die Hansestadt führt.

5. Mai 1842. Ein denkwürdiger Tag in Hamburgs Geschichte. Es ist nachts gegen ein Uhr, als ein Ruf durch die schlafende Stadt gellt: „Füer! Füer in de Diekstraat“. Es ist der Nachtwächter, der die Flammen als Erster bemerkt. Er ruft nicht nur, er schwingt auch seine Rätel, um so seine Kollegen und natürlich die Feuerwehrleute zu alarmieren, die Wittkittel, die wenig später ausrücken, aber nicht viel bewirken. Drei Tage fressen sich die Flammen durch die Altstadt. Ein Drittel Hamburgs wird in Schutt und Asche gelegt. Aber ohne die frühzeitige Warnung des Nachtwächters wären vielleicht sehr viel mehr Menschen ums Leben gekommen.
Die Deichstraße, wo damals alles begann, fast 180 Jahre später. Ein Abend im November 2021. Wieder ist hier ein Nachtwächter unterwegs, der allerdings nicht nach Feuer, sondern nach seiner Touristengruppe Ausschau hält: Ingo Vierk heißt der Mann, der sich immer, wenn die Sonne untergeht, in „Soaven Paul“ verwandelt und dann mit Hellebarde und rußgeschwärzter Laterne bewaffnet Fremde durch die Hansestadt führt.

Da sind sie auch schon: Mitglieder einer Hamburger Wohnungsbaugenossenschaft, die ihn an diesem Abend gebucht haben. Vierk schleicht sich von hinten ran, macht sodann mit einem lautstarken „Moin!“ auf sich aufmerksam, und zwar so lautstark, dass alle erschrecken.
Nachtwächter bemerkten den Brand 1842 in Hamburg
Ein bisschen grimmig schaut er aus: „So eine Ansammlung vieler fremder Menschen“, sagt Vierk im Kasernenhof-Ton, „sieht ein Hamburger Nachtwächter gar nicht sehr gerne!“ Die Leute kichern, lachen. Er fährt fort: „Aber wie ich höre, habt ihr die Bitte geäußert, von mir bei eurem Besuche der Hansestadt vor lichtscheuem Gesindel beschützt zu werden. Nun dann. Folget mir!“
90 Minuten werden die Leute nun eine Menge über die Geschichte der Stadt und ihrer Nachtwächter erfahren. „Habt ihr euch schon gefragt, warum mein Hut so groß ist? Nun, weil der ehrwürdige Rat in seiner Weisheit beschlossen hat, dass die Bürger nach 22 Uhr ihre Nachttöpfe aus dem Fenster leeren dürfen … Und wisst ihr auch, was Torschlusspanik ist? Die bricht aus, wenn Feiernde auf St. Pauli die Zeit vergessen und dann das Rennen anfangen, damit sie rechtzeitig zurück in der Stadt sind, bevor die Tore schließen.“ Nach einer Pause fügt „Soaven Paul“ genüsslich hinzu: „In meiner grenzenlosen Güte wäre ich natürlich bereit, noch mal aufzusperren – gegen einen Torschilling, versteht sich.“

Früher hat Ingo Vierk in der Speicherstadt gearbeitet, hat für einen Hamburger Pfeffersack Waren kontrolliert, Gewürze aus aller Welt – „meine schönste Zeit“. Nun ist er seit zehn Jahren als Nachtwächter unterwegs. Vierk hat den Anspruch, den Touristen keine Märchen zu erzählen, sondern – natürlich lustig und unterhaltsam verpackt – historische Wahrheiten zu vermitteln. Deshalb hat er lange in Archiven geforscht. Auch heute noch verschlingt er alles, was er an Informationen über Nachtwächter bekommen kann.
Schon im Jahr 1300 gab es in Hamburg Nachtwächter
Besonders stolz ist er darauf, ausgerechnet im Staatsarchiv in München Unterlagen gefunden zu haben, die belegen, dass es Nachtwächter in Hamburg schon im Jahr 1300 gab. Damals, als die Stadt an Alster, Bille und Elbe noch ein unbedeutender Flecken auf der Landkarte war, reichten zwölf vereidigte Stadtdiener und ein paar ehrenamtliche Bürger aus, um des Nachts für Sicherheit zu sorgen.
Während des Dreißigjährigen Krieges trieb sich im 17. Jahrhundert immer mehr lichtscheues Gesindel in der aufstrebenden Handelsstadt herum, deshalb wurden 60 ausgediente Soldaten für die Nachtwache rekrutiert. Als auch das nicht ausreichte, um der Kriminalität Herr zu werden, riefen die Stadtväter 1671 die sogenannte Rätelwache ins Leben – benannt nach dem merkwürdigen Instrument, von dem schon die Rede war. Anderswo sagt man auch Knarre, Klapper oder Rassel dazu.

Die Truppe war nach militärischem Vorbild aufgebaut, hatte einen Kommandanten an der Spitze, allerlei Hauptleute und Fähnriche und 483 „Gemeine“. Die Hauptwache befand sich auf dem Pferdemarkt (heute Gerhart-Hauptmann-Platz), wo die Männer jeden Abend eine Stunde vor Torschluss unter den Augen der Bevölkerung eine Parade abhielten. Trommelwirbel ertönte, das Pfeifen der Querflöten war zu hören. Und im Takt der Marschmusik knallten Stiefel aufs Pflaster.
War die Zeremonie beendet, zogen die Männer ihre schicken blauen Uniformröcke wieder aus, legten für die Nacht ihr wärmendes und weit weniger schmuckes Gewand an und schwärmten aus. Grauer, langer Mantel, Pelzmütze, am Koppel ein Säbel, in der einen Hand die erwähnte Rätel, in der anderen eine Lanze: So zogen sie durch die Straßen, die, wenn überhaupt, spärlich von ein paar Tranfunzeln beleuchtet, meist aber rabenschwarz waren.
Jeden Abend kurz vor Torschluss war Parade auf dem Pferdemarkt
Hamburgs Nachtwächter waren immer zu zweit unterwegs und teilten sich die Aufgaben: Der „Röper“, der Rufer, ging voran. Immer wenn die Turmuhr voll oder halb schlug, ließ er die Rätel schwingen, sodass ein knarrendes Geräusch ertönte. Gleich darauf rief er: „De Klock hett teihn slaan, teihn is de Klock!“ Diese Prozedur wiederholte er so lange, bis er seinen kompletten Wachbezirk abgelaufen hatte.

Zwölf Schritte dahinter folgte ihm der „Slieker“, der Schleicher, der darauf zu achten hatte, dass Fenster und Türen geschlossen waren. Und ständig lauschte er nach verdächtigen Geräuschen.
Die Geschichte von Hamburgs Nachtwächtern ist spannend und faszinierend. Umso erstaunlicher, dass bis heute niemand auf die Idee kam, sie ausführlich aufzuschreiben. Abertausende Bände zur Geschichte der Hansestadt gibt es – aber keinen einzigen über die Männer, die jahrhundertelang für Sicherheit sorgten, während die anderen den Schlaf der Gerechten schliefen.
Wie viele Nachtwächter in den Diensten der Stadt standen? Was alles zu ihren Aufgaben gehörte? Wer die Menschen waren, die diesen Job übernahmen?
Der „Röper“ lief vor und rief die Zeit aus, der „Sliker“ folgte im Abstand von zwölf Schritten
Wir machen uns auf Spurensuche und stoßen auf ein Buch aus dem Jahr 1838: „Hamburg, wie es ist“ heißt es. Autor Eduard Lehmann porträtiert darin sämtliche Einrichtungen der Stadt, und schreibt von den Nachtwächtern in großer Hochachtung: „Es sind in aller Regel nicht altersschwache, gebrechliche, schlaftrunkene Menschen“, so Lehmann, „sondern kräftige, im mittleren Alter stehende gesunde Männer, die vor einem Raufbolde, vor einem Scandalmacher oder Spitzbuben nicht fliehen, sondern ihm kühn Stand halten.“

Lehmann weiter: „Von 9 Uhr abends bis 6 Uhr morgens im Winter, im Sommer aber von 10 bis 4 Uhr versehen sie den Dienst. Sie haben das Recht, jede Weibsperson, die sich nach 11 Uhr auf der Straße ohne männliche Begleitung sehen lässt, sofort zu verhaften. Bei ausbrechendem Feuer haben sie dem nächsten Militärposten sofortige Anzeige zu machen, so wie sie bei störendem Nachtlärmen, bei Prügeleien und in allen die Nachtruhe der Bürger störenden oder tumultarischen Scenen sofort einzuschreiten berechtigt sind.“ Lehmann schließt: „Möchte doch in allen Städten des deutschen Vaterlandes so trefflich für die nächtliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit der Einwohner gesorgt werden.“
In anderen Quellen hört sich das ganz anders an: Demnach rangierte das Ansehen der Nachtwächter auf derselben Stufe wie das der Totengräber und Henker – also ganz weit unten. Während der allabendlichen Parade machten sich die Leute lustig über die, wie sie fanden, „jämmerliche Truppe“ und zerrissen sich das Maul über das mitleiderregende Bild, das sie abgaben: „De Scheven staht achtern, die Graaden staht vörn“. Alle lachten sich tot.
Jugendliche verspotteten die Nachtwächter als Nacheulen
Jugendliche machten sich einen Spaß daraus, den Nachtwächtern aufzulauern und sie bei ihrem Spottnamen zu rufen: „Uhlen“ – Nachteulen. Die Frechdachse waren gut beraten, schnell das Weite zu suchen, denn es galt: „Grölt in ’t Ohr di een: Uhl!, haust du fix em op ’t Muul!“
Zwar hatten die Nachtwächter kaum eine Chance, flüchtende Missetäter einzufangen – schon der lange Mantel hinderte beim Laufen – , doch waren sie sehr geschickt darin, ihre Lanze so gezielt zwischen die Beine des Delinquenten zu werfen, dass dieser ins Trudeln geriet, hinfiel und leicht verhaftet werden konnte.

Nachtwächter war ein sehr schlecht bezahlter Beruf. So schlecht, dass selbst die Nachtwächter-Ordnung ihnen auferlegte, sich für den Tag einen zweiten Job zu suchen, weil die geringe Entlohnung nicht ausreiche, um eine Familie zu ernähren. Das Arbeiten rund um die Uhr hatte natürlich Folgen: Nachtwächter erschienen völlig übermüdet zum Dienst und suchten sich während ihres nächtlichen Rundgangs ein Kellerloch oder einen Treppenverschlag und hielten ein Nickerchen – was ihren Ruf auch nicht gerade verbesserte.
Von den zahlreichen strengen Verboten, die in der Nachtwächter-Ordnung aufgelistet sind, lässt sich leicht ableiten, welche Dienstvergehen unter ihnen sonst noch verbreitet waren: Untersagt war etwa das Betteln und Hausieren. Tatsächlich nutzten die Nachtwächter jede Gelegenheit, den geringen Sold aufzubessern – etwa, indem sie Ortsunkundigen, die nicht mehr zurück ins Gasthaus fanden, den Weg wiesen. Oder sie passten Kutschen ab, die im Begriff waren zu halten, hielten die Tür auf und halfen den Herrschaften beim Aussteigen. Jedes Mal streckten sie dann die Hand aus.
Für jeden, den ein Nachtwächter einsperrte, bekam er ein Kopfgeld
Es gab eine verhängnisvolle Regelung: Demnach bekam ein Nachtwächter für jeden, den er festnahm und ins Gefängnis sperrte, eine Art Provision. Das führte dazu, dass es besonders Findige unter ihnen gab, die zusahen, möglichst viele Passanten einzufangen – egal, wie viel sie nun verbrochen hatten. Am nächsten Morgen, wenn der Delinquent freikam, kassierten die Nachtwächter ab. 5 Mark und 14 Schillinge hatte ein Gefangener für den Aufenthalt im Kerker zu zahlen, es sei denn, er wollte noch länger verweilen.

Sehr gerne sprachen die Nachtwächter dem Alkohol zu. Als der zuständige Senator Hieronymus Hudtwalcker 1834 von dieser Unsitte hörte, war er darüber so verärgert, dass er in einem Tagesbefehl schrieb: „Da ich mit großem Missfallen bemerke, dass das Laster des Trunkes immer mehr bei dem Korps der Nachtwache einreißt, Trunkenbolden aber die Wache der Stadt und die Sicherheit der Personen nicht anvertraut werden kann, so verfüge ich …“ – und es folgte eine ganze Litanei an Verboten und Androhungen härtester Strafen.
So viel zu den Missetaten der Nachtwächter. Noch ein Wort über die Art und Weise, wie sie die Zeit ansagten. Anderswo, in London, Rom oder Paris, waren Nachtwächter bekannt dafür, dass sie sangen, in Versform das Wetter ansagten oder zur Erbauung der Bürger christliche Verse vortrugen. So was gab es in Hamburg nicht. Was aber nicht an der Sprachfaulheit der Nachtwächter lag! Sie hatten den klaren Befehl, auf alle Schnörkel und alles Lärmende zu verzichten – schließlich sollten die Bürger nicht geweckt werden.
Daran, dass die Nachtwächter Plattdeutsch sprachen, hatte lange Zeit niemand was auszusetzen gehabt. Ende des 18. Jahrhunderts – inzwischen war Hamburg zu einer Handelsmetropole aufgestiegen – fürchteten die Stadtväter mit einem Mal, dass die Mundart auf Fremde hinterwäldlerisch wirken könnte, und so erhielten die Nachtwächter den Befehl, künftig die Zeit Hochdeutsch auszurufen. Tja, diese Anordnung wurde allerdings alsbald zurückgenommen, und zwar nachdem es Beschwerden gab über das Kauderwelsch, das die Nachtwächter plötzlich sprachen. Das sollte Hochdeutsch sein?
Gaslicht war der Anfang vom Ende der Nachtwächter
Mehr als 500 Jahre haben die Nachtwächter mit all ihren Eigenarten und Schrulligkeiten zu Hamburg gehört wie der Michel, die Elbe und die Alster. Dann aber ging es mit ihnen zu Ende. „Das Gaslicht war schuld, das ab 1846 Einzug hielt in Hamburg“, erzählt Ingo Vierk seinen erstaunten Gästen. „Plötzlich waren die Straßen hell in der Nacht. Und dadurch natürlich auch viel sicherer.“

Am 4. Dezember 1852 ging der letzte Kommandant der Nachtwache, Johann Christian Grapengießer, in den Ruhestand und mit ihm der Rest der Truppe. Damit verschwand eines der letzten Relikte des Mittelalters. Die Neuzeit hielt Einzug in Gestalt des Constablers, wie der Schutzmann in Hamburg anfangs hieß.
„Uhl“ hatten die Bürger den Nachtwächter herablassend geschimpft. Für seinen Nachfolger fanden sie ebenfalls bald einen passenden „Ökelnaam“, und der klang nicht zufällig ganz ähnlich: „Udl“. Manch älterer Hamburger benutzt ihn noch heute.
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