Hamburgs „Führer“: Wie ein Totalversager zum mächtigsten Mann Hamburgs wurde
Karl Kaufmann hatte absolut nichts auf der Habenseite. Keinen Schulabschluss, keine abgeschlossene Ausbildung, geschweige denn ein Studium. Im Gegenteil: Er war ein Blender, ein Dieb, durch und durch korrupt und psychisch labil. Kurz: ein Totalversager. Und doch: Er hat es geschafft. Dank der Skrupellosigkeit, mit der er Widersacher aus dem Weg räumte, und dank der Protektion Adolf Hitlers brachte es dieser Hilfsarbeiter zum mächtigsten Mann Hamburgs, ja sogar ganz Norddeutschlands.
- Deutsch (Deutschland)
MOPO+ Abo
für 1,00 €Jetzt sichern!Neukunden lesen die ersten 4 Wochen für nur 1 €!Zugriff auf alle M+-ArtikelWeniger Werbung
Danach nur 7,90 € alle 4 Wochen //
online kündbarMOPO+ Jahresabo
für 79,00 €Jetzt sichern!Spare 23 Prozent!Zugriff auf alle M+-ArtikelWeniger Werbung
Danach zum gleichen Preis lesen //
online kündbar
Karl Kaufmann hatte absolut nichts auf der Habenseite. Keinen Schulabschluss, keine abgeschlossene Ausbildung, geschweige denn ein Studium. Im Gegenteil: Er war ein Blender, ein Dieb, durch und durch korrupt und psychisch labil. Kurz: ein Totalversager. Und doch: Er hat es geschafft. Dank der Skrupellosigkeit, mit der er Widersacher aus dem Weg räumte, und dank der Protektion Adolf Hitlers brachte es dieser Hilfsarbeiter zum mächtigsten Mann Hamburgs, ja sogar ganz Norddeutschlands.
Karl Kaufmann. Gauleiter, Reichsstatthalter, Führer der Landesregierung, Chef der Staats- und Kommunalverwaltung und Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis X – kaum jemand anderes in Nazi-Deutschland vereinigte so viele Ämter auf sich, häufte so viel Macht an wie er. Gleichzeitig gab es aber auch kaum jemanden, der so viel Schuld auf sich lud.
Karl Kaufmann: Kaum einer hatte so viel Macht
Kaufmann höchstpersönlich gab den Anstoß zur Deportation Tausender Juden, ließ politisch Andersdenkende rücksichtslos verfolgen, quälen, foltern und ermorden. Er war Hitler treu ergeben. Erst als er erkannte, dass der Krieg verloren war, wechselte Kaufmann die Seite und leitete die Kapitulation der Stadt ein. Das tat er nicht, weil ihm an Hamburg oder an der Bevölkerung gelegen war. Seine eigene Haut wollte er retten. Mehr nicht.
Als Sohn eines mittelständischen Wäschereibesitzers wird Karl Kaufmann am 10. Oktober 1900 in Krefeld geboren. Er wächst in Elberfeld auf, ist ein schwieriges Kind. Der kleine Karl ist, wann immer er nicht seinen Willen bekommt, so jähzornig, dass er alles kurz und klein schlägt, erzählt ein Zeuge.
Nach mehrfachen Schulwechseln verlässt er 1917 die Oberrealschule ohne Abschluss und meldet sich während des Ersten Weltkriegs als Kriegsfreiwilliger. Die Kapitulation Deutschlands verhindert, dass er an die Front kommt. Darunter, dass er keine Gelegenheit erhalten hat, sich auf dem Schlachtfeld zu beweisen, leidet Kaufmann sehr.
Das ist wohl der Grund, weshalb er sich gleich darauf völkisch-antisemitischen paramilitärischen Gruppen anschließt. Als Angehöriger eines nationalistischen Freikorps ist er 1920 an der Niederschlagung der Roten Ruhrarmee und 1921 in Oberschlesien am Kampf gegen polnische Verbände beteiligt. Als 1923 Franzosen ins Ruhrgebiet einmarschieren, gehört er zu einer rechten Terrortruppe, die Sprengstoffanschläge auf Kohlenzüge und Eisenbahnbrücken verübt und auch vor Mord an Besatzungssoldaten und sogenannten „französischen Spitzeln“ nicht zurückschreckt.
Beruflich erleidet Kaufmann nur Fehlschläge. Erst will er Landwirt werden, bricht die Ausbildung aber ab. Anschließend beginnt er eine kaufmännische Lehre im Betrieb seines Vaters, die er ebenfalls nicht zu Ende macht. Kaufmann geht daraufhin nach Bayern, wird Hilfsarbeiter. Manchmal steckt ihm seine Mutter heimlich Geld zu.
Joseph Goebbels ist Karl Kaufmanns bester und einziger Freund
1922 schließt er sich der NSDAP an und ist aktiv an der Vorbereitung des Hitler-Putsches am 9. November 1923 in München beteiligt. Als Dank wird er 1925 zum Leiter des neuen NSDAP-Gaues Rheinland-Nord ernannt. Als Gaugeschäftsführer setzt Kaufmann einen damals völlig unbekannten Mann ein: Joseph Goebbels. Der spätere Reichspropagandaminister („Wollt ihr den totalen Krieg?“) ist zu dieser Zeit „bester und einziger Freund Kaufmanns“, wie Historiker Frank Bajohr schreibt.
Goebbels erlebt Kaufmann als „labil, innerlich total zerrissen, unrastig, ungegoren und ungezügelt“. Goebbels nennt Kaufmann „ein typisches Halbgenie ohne Halt und Ziel“. Anfang Januar 1926 ist Goebbels dabei, als sich sein Freund das Leben nehmen will, und hält ihn im letzten Moment davon ab: „Er schrie wie ein Besessener und wollte in die Wupper“, schreibt Goebbels in sein Tagebuch.
Kaufmanns Parteikarriere im Ruhrgebiet endet abrupt. Weil rausgekommen ist, dass er in die Parteikasse gegriffen hat, muss er 1928/29 seinen Rücktritt erklären. Außerdem wird ihm vorgeworfen, ein „Ordensschwindler“ zu sein: Er hat sich von einem Bekannten dessen Eisernes Kreuz II. Klasse ausgeliehen, sich damit fotografieren lassen und sich in der Öffentlichkeit als Frontkämpfer ausgeben.
Kaufmanns politische Karriere ist auf dem Tiefpunkt angekommen. Aber er hat Glück. Hitler gibt ihm noch eine Chance. Eine letzte Bewährungsprobe! Kaufmann ist dazu ausersehen, einen besonders verrufenen NSDAP-Gau auf Vordermann zu bringen, in dem jeder gegen jeden intrigiert, der außerdem finanziell und organisatorisch völlig am Ende ist – den Gau Hamburg. Da habe Kaufmann aber „einen schönen Stall auszumisten“, schreibt Goebbels in sein Tagebuch und fügt wenig optimistisch hinzu: „Ich fürchte, dass es ihm nicht gelingen wird.“
Das könnte Sie vielleicht auch interessieren: Als Adolf Hitler seine mörderischen Hamburg-Pläne schmiedete (historischer Podcast)
Doch Goebbels irrt sich: Kaufmann hat inzwischen dazugelernt. Er weiß sich jetzt im innerparteilichen Intrigenspiel durchzusetzen. In Hamburg gelingt es ihm, sich eine Hausmacht aufzubauen. Er schaltet seine innerparteilichen Widersacher aus, strukturiert die Parteiverwaltung um und macht aus der örtlichen NSDAP eine schlagkräftige Truppe.
Kaum ist im März 1933 die Macht im Hamburger Rathaus in Kaufmanns Händen, stellt er aus berüchtigten SA-Schlägern sogenannte Fahndungskommandos zusammen und lässt sie Jagd auf Kommunisten, Sozialdemokraten und Juden machen. Höchstpersönlich ordnet Kaufmann, der am 16. Mai 1933 zum Reichsstatthalter ernannt wird und damit auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen ist, die Errichtung des Konzentrationslagers Fuhlsbüttel an. Als er das Lager besichtigt, wirft sich ihm ein jüdischer Häftling blutüberströmt vor die Füße und bittet um Gnade. Kaufmann zischt nur: „Schafft ihn mir aus den Augen.“ Von dieser Art ist der Charakter von Hamburgs neuem starkem Mann.
Kaufmanns Regierungsstil: ein System aus Korruption und Patronage
In der Öffentlichkeit gibt sich Kaufmann als volksnaher Tribun, regiert selbstherrlich wie ein Kurfürst. Er ordnet eine Senkung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel an, erhöht die Löhne von Arbeitern und verlängert ihren Urlaub. Er finanziert die sogenannte „Weihnachtsspende des Reichsstatthalters“ für Bedürftige und übernimmt im Krieg Patenschaften für Kinder, die nach Luftangriffen zu Vollwaisen werden. Sozialpopulismus setzt Kaufmann bewusst ein, um die Menschen auf seine Seite zu ziehen. Er hat Erfolg damit. Viele Bürger verehren ihn, nennen ihn sogar noch nach dem Krieg „Kuddel Kaufmann“.
Hinter den Kulissen regiert der Reichsstatthalter die Stadt mit einem System aus Korruption und Patronage. Mit der Gründung der sogenannten „Hamburger Stiftung von 1937“ baut Kaufmann sich ein nur von ihm selbst kontrolliertes Finanzsystem außerhalb des städtischen Haushalts auf.
Die Stiftung speist sich aus öffentlichen Mitteln, aus Spenden der Hamburger Wirtschaft, aus Zwangsabgaben der städtischen Betriebe, vor allem aber aus sogenannten „Arisierungsspenden“. Zehn Millionen Reichsmark umfasst das Finanzvolumen der Stiftung. Geld, das Kaufmann dazu verwendet, sich die Loyalität von Parteigenossen zu erkaufen. Häuser, Geschäfte und Betriebe, die er Juden wegnimmt, verteilt er an Günstlinge.
Kaufmanns größte Schuld: die Deportation der Juden
Das dunkelste Kapitel in Kaufmanns Herrschaft ist die Vertreibung der Juden. Einen Bombenangriff auf Hamburg am 15. September 1941 nimmt er zum Anlass, Adolf Hitler inständig darum zu bitten, mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung beginnen zu dürfen. Nur weil Kaufmann für ausgebombte nicht-jüdische Bürger Ersatzwohnraum braucht, müssen kurz darauf Tausende die Reise in den Tod antreten. Historiker Frank Bajohr ist überzeugt: Kaufmanns Gesuch gab den entscheidenden Anstoß zur Deportation aller Juden aus Deutschland.
Im Sommer 1943, als britische Bomber weite Teile Hamburgs in Schutt und Asche legen, reift in Kaufmann die Erkenntnis, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist. Der Reichsstatthalter beginnt damit, sich auf eine Zeit nach Hitler vorzubereiten. Im Duvenstedter Brook, einem Naturschutzgebiet, das er seit 1939 auf Steuerzahlerkosten zu einem Privatdomizil hat ausbauen lassen, hortet er jetzt ungeheure Mengen an Genussmitteln, darunter 1000 Flaschen Wein und Spirituosen.
Kaufmann ist entschlossen, Hitlers Befehl, die Stadt bis zum letzten Mann zu verteidigen, zu ignorieren. Er arbeitet auf eine Kapitulation hin und mit Unterstützung eines Mitarbeiters der deutschen Gesandtschaft in Stockholm unterrichtet er die Briten von seinem Plan, die Stadt kampflos zu übergeben. Und tatsächlich: Als am 3. Mai 1945 britische Panzer über die Elbbrücken rollen, fällt kein Schuss. Noch am selben Tag wird Kaufmann von den Briten verhaftet. Vier Jahre bleibt er in Internierungshaft. Vor Gericht gestellt und bestraft wird er aber nie.
Das könnte Sie vielleicht auch interessieren: Die düstere Vergangenheit des KZ Wittmoor
Das liegt vor allem an einem Unfall, den Kaufmann 1946 auf einer Autofahrt nach Nürnberg erleidet. Dort soll er bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Zeuge aussagen. Kaufmann wird schwer verletzt. Ab da bescheinigen ihm Ärzte immer wieder von Neuem Verhandlungsunfähigkeit. Jahrelang. Weil die Ermittler den Gutachten offenbar misstrauen und glauben, dass es Kaufmann besser geht, als behauptet wird, lassen sie den Gefangenen ständig überwachen. Ergebnislos.
Weshalb Karl Kaufmann für seine Verbrechen nie zur Rechenschaft gezogen wurde
Karl Kaufmann lebt noch 20 Jahre. Obwohl angeblich schwer krank, ist er sehr wohl in der Lage, seine Aufgaben als Seniorchef eines Versicherungskonzerns und als Teilhaber einer chemischen Fabrik zu erfüllen. Ganz nebenbei mischt er auch noch mit bei einem Versuch alter Nazis, kleine Parteien wie die FDP zu unterwandern. „Naumann-Kreis“, so heißt die Verschwörer-Gruppe, der führende Köpfe der NS-Zeit angehören. Ihr Ziel ist es, ein Viertes Reich aufzuziehen.
Der britische Geheimdienst jedoch ist wachsam. Agenten Ihrer Majestät schlagen am 14. Januar 1953 zu. Codename „Operation Terminus“: Die Verschwörer werden verhaftet. Ein Gerichtsverfahren bleibt Karl Kaufmann aber auch diesmal erspart.
Der einst mächtigste Nazi der Stadt stirbt am 4. Dezember 1969 als wohlhabender Mann.