Unfall in Hamburg: Warum mich Werft-Arbeiter nötigten, dieses Foto zu machen
Ich war 40 Jahre Polizeireporter bei der MOPO und habe Hunderte Unglücke im Großraum Hamburg fotografiert. Die allermeisten dieser Einsätze habe ich vergessen, vielleicht auch verdrängt. Doch die Eindrücke beim schweren Unfall vor beinahe 45 Jahren auf der Sietas-Werft in Neuenfelde haben sich in mein Gehirn eingebrannt. Dieses Unglück werde ich niemals vergessen. Lesen Sie hier, warum.
Ich war 40 Jahre Polizeireporter bei der MOPO und habe Hunderte Unglücke im Großraum Hamburg fotografiert. Die allermeisten dieser Einsätze habe ich vergessen, vielleicht auch verdrängt. Doch die Eindrücke beim schweren Unfall vor beinahe 45 Jahren auf der Sietas-Werft in Neuenfelde haben sich in mein Gehirn eingebrannt. Dieses Unglück werde ich niemals vergessen. Lesen Sie hier, warum.
Im November erschien in der MOPO-Wochenendausgabe der Bericht vom traurigen Zustand dessen, was heute von der ehemals so stolzen Traditionswerft Sietas noch übrig ist. Als ich den Artikel von Nina Gessner las, die Fotos von Florian Quandt betrachtete, da kam die Erinnerung wieder hoch an das, was am 21. März 1978 auf dem Werftgelände geschah.
Notarztwagen und Rettungshubschrauber auf der Sietas-Werft
„Wir haben hier einen Betriebsunfall und brauchen einmal einen Rettungswagen.“ Um 10.45 Uhr ging dieser eher lapidare Notruf der Werftleitung über 112 bei der Feuerwehr ein. Doch eine halbe Stunde später waren nicht einer, sondern acht Rettungswagen im Einsatz. Dazu zwei Notarztwagen, ein Bundeswehr-Rettungshubschrauber, ein Großraum-Rettungswagen und ein Löschzug. Was war geschehen?
Das 65 Tonnen schwere Heckteil eines Containerschiffs (1599 BRT) war aus seiner Halterung nach hinten gekippt und hatte sich in den Werftboden gerammt. Der Arbeiter Nuri C. (37) wurde von dem Schiffsteil geschleudert und von einem Lüfter aus Stahl erschlagen.

26 überwiegend türkische Arbeiter, die im Inneren des gekippten Hecks vor allem Schweißarbeiten ausführten, kamen in Krankenhäuser. Sieben von ihnen erlitten schwere Verletzungen und mussten stationär aufgenommen werden.
Ich hatte an diesem kalten Frühlingstag im Polizeifunk von dem Großeinsatz erfahren und war aus der MOPO-Redaktion, die sich 1978 noch im Pressehaus am Speersort befand, mit meinem VW Polo losgerast.
Werkschutz bewachte die Tore
Vor Ort traf ich auf die Kollegen von „Bild“ und „Abendblatt“. Doch zu fotografieren oder berichten gab es erst mal nichts. Die Werfttore waren vom Werkschutz verschlossen und wurden bewacht. Doch die vom Tod ihres Kollegen geschockten türkischen Werftarbeiter auf dem Gelände hatten „die Presse“ auf der Straße bemerkt und forderten den Werkschutz auf, uns sofort auf das Betriebsgelände zu lassen. Die Uniformierten weigerten sich. Da wurden sie von der Menge einfach beiseite geschoben und die Arbeiter öffneten selbst das Werkstor.
Fast zerrten sie uns Reporter auf das Gelände und redeten teils auf Deutsch, teils auf Türkisch, auf uns ein. Wir fotografierten das umgestürzte Schiffsteil. Doch das reichte den wütenden Arbeitern nicht. Ultimativ forderten sie die anwesenden Polizisten auf, die Plane vom Leichnam ihres Kollegen Nuri C. zu entfernen. Zu uns sagten die Werftarbeiter: „Fotografiert, was mit Nuri geschehen ist!“ So entstand mein vielleicht eindrucksvollstes Foto in 46 Jahren bei der MOPO. Bei dem Bild war es nicht die geschundene Leiche des 37-Jährigen im Vordergrund, die mich noch heute in den Bann zieht. Es waren die Gesichter seiner wütenden, aber auch tieftraurigen Kollegen, die sich demonstrativ hinter den Toten gestellt hatten.

Dann erschien Johann Jacob Sietas, Nachkomme einer stolzen Dynastie von Werftbesitzern seit 1635. Der 69-Jährige sprach lapidar von einem „Malheur“, das sich auf einer großen Werft eben nicht immer vermeiden lasse. Nun kochte die Stimmung endgültig hoch. Die Arbeiter warfen dem Eigentümer vor, die Sicherheit auf dem Firmengelände vernachlässigt zu haben. Sie wurden ins Innere des riesigen Heckteils geschickt, obwohl an den stützenden Pallhölzern noch gearbeitet wurde.
Der MOPO sagte damals ein Arbeiter: „Erst haben wir uns geweigert reinzugehen, doch der Meister hat gesagt, entweder ihr arbeitet dort, oder ihr werdet gefeuert.“ Kleinlaut räumte dann der Werftbesitzer Sietas ein: „Eine weitere Stütze hätte das Unglück womöglich verhindert.“ 1977 hatten die 1800 Beschäftigten der Werft 32 Schiffe fertiggestellt, so viele wie nie. Das Unternehmen war mehr als ausgelastet. Wurde deswegen die nötige Sicherheit auf dem Gelände vernachlässigt?

Die Werftarbeiter waren davon überzeugt und wurden immer wütender. Einer sagte: „Wir müssen die gefährliche Drecksarbeit machen und gelegentlich geht einer dabei drauf …“ Die Polizei schickte 22 Streifenwagen zum Unglücksort, die Beamten versuchten, die aufgebrachten Arbeiter zu beruhigen. Doch das gelang erst Mitarbeitern des türkischen Konsulats, die von den Türken alarmiert worden waren.
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Die Menschen umringten uns, alle wollten ihre Geschichte erzählen und auch die Erinnerung an Nuri C. wachhalten. Der 37-Jährige war 1973 als „Gastarbeiter“, wie man damals sagte, aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Seine Frau und die drei Kinder blieben in Ankara zurück. Jeden Monat schickte Nuri einen Großteil seines hart verdienten Geldes in die Heimat. Er selbst schuftete seit zwei Jahren bei Sietas und lebte mit Landsleuten unter üblen Bedingungen in einem Arbeiterwohnheim der Sietas-Werft am Estedeich. Sein Traum: noch ein paar Jahre in „Alemania“ hart arbeiten und dann genug Geld für ein Häuschen in der Heimat haben. Der Traum endete im Leichenschauhaus.