Napoleon, Nazis, nackte Brüste: Die Geschichte der legendären Herbertstraße
60 Meter lang und sieben Meter breit ist diese Fußgängerzone der ganz besonderen Art: Die Herbertstraße ist voller Widersprüche. Einerseits abgesperrt, und doch steht sie rund um die Uhr offen. Zwar gibt es keine richtigen Läden, aber trotzdem jede Menge Schaufenster. Und obwohl Autos verboten sind, findet nirgendwo in Hamburg so viel Verkehr statt wie hier. Aber wie kam sie zu ihrem Namen? Wie wurde aus ihr ein langgezogenes Bordell? Und warum wurde sie abgesperrt? Die MOPO erzählt die Geschichte von Hamburgs wohl berühmtester Straße – inklusive einmaliger historischer Fotos.
Herbertstraße. Dieser Name ist längst Synonym für Prostitution und käufliche Liebe. Dass es ausgerechnet eingefleischte Bordellgegner sind, die ihr diesen Namen verpasst haben – vorher hat sie nämlich Heinrichstraße geheißen –, das ist wirklich ein Treppenwitz der Geschichte.
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60 Meter lang und sieben Meter breit ist diese Fußgängerzone der ganz besonderen Art: Die Herbertstraße ist voller Widersprüche. Einerseits abgesperrt, und doch steht sie rund um die Uhr offen. Zwar gibt es keine richtigen Läden, aber trotzdem jede Menge Schaufenster. Und obwohl Autos verboten sind, findet nirgendwo in Hamburg so viel Verkehr statt wie hier. Aber wie kam sie zu ihrem Namen? Wie wurde aus ihr ein langgezogenes Bordell? Und warum wurde sie abgesperrt? Die MOPO erzählt die Geschichte von Hamburgs wohl berühmtester Straße – inklusive einmaliger historischer Fotos.
Herbertstraße. Dieser Name ist längst Synonym für Prostitution und käufliche Liebe. Dass es ausgerechnet eingefleischte Bordellgegner sind, die ihr diesen Namen verpasst haben – vorher hat sie nämlich Heinrichstraße geheißen –, das ist wirklich ein Treppenwitz der Geschichte.
Sozialdemokraten geben der Heinrichstraße 1922 ihren neuen Namen
Sozialdemokraten und Frauenrechtlerinnen der Abolitionisten-Vereinigung sind schon im Kaiserreich dafür eingetreten, Hamburgs Bordellstraßen abzuschaffen. 1922, vier Jahre nach der Abdankung des Kaisers, schreiten die SPD und ihr linksliberaler Koalitionspartner Deutsche Demokratische Partei (DDP), die jetzt im Rathaus das Sagen haben, zur Tat. Ihr Ziel ist es, die Bordelle in Büros, Kontore und Mietwohnungen umzuwandeln. Im letzten Schritt beschließt die Bürgerschaft am 17. Juli 1922, alle Straßen, die als Rotlichtbezirk in Verruf geraten sind, umzubenennen. Sozusagen als Zeichen für den Neuanfang.
Und so wird aus der Schwiegerstraße der Kalkhof, aus der Schützenstraße der Johanniswall, aus der Ulrikus- die Winkelstraße, aus der Klefeker- die Mauerstraße und aus der Heinrich- die Herbertstraße. Heute wissen wir: Zumindest in der Herbertstraße wird das Ziel, die Bordelle zu vertreiben, gründlich verfehlt.
100 Jahre Herbertstraße feiern wir in diesem Jahr – ein Jubiläum, das wir zum Anlass nehmen, die Geschichte des horizontalen Gewerbes Revue passieren zu lassen: Schon vor 800 Jahren, nämlich im 13. Jahrhundert, sind Prostituierte in Hamburg urkundlich erwähnt. 1428 gibt es bereits acht offizielle „Frauenhäuser“, unter anderem auf dem Kattrepel (Altstadt).
1428 gibt es bereits acht Frauenhäuser in der Hamburger Altstadt
Zunächst lassen die Stadtväter die Huren gewähren. Das ändert sich im 16. und 17. Jahrhundert im Zuge der Reformation und der sich ausbreitenden Geschlechtskrankheit Syphilis. 1666 wird am Alstertor ein Spinnhaus errichtet, in dem Frauen, die der Prostitution überführt sind, Zwangsarbeit verrichten müssen. Zusätzlich werden Huren am Pferdemarkt an den Schandpfahl gekettet und öffentlich zur Schau gestellt.
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Schon damals scheitern alle Versuche, die Prostitution zurückzudrängen. Die leichten Mädchen verschwinden nicht, sie weichen aus, siedeln sich außerhalb der Stadtmauern an – beispielsweise auf dem Hamburger Berg, der später in St. Pauli umbenannt wird. Es ist eine wilde Gegend, in der sich Gestrauchelte und Glücksritter niederlassen.
Bis Ende des 18. Jahrhunderts entstehen entlang der Elbe eine Reihe von Schiffswerften, Ölmühlen, Tranbrennereien und ein großes Hanfmagazin. Als sich nach der Französischen Revolution von 1789 viele Flüchtlinge niederlassen und die Nachfrage nach Wohnraum zunimmt, werden auf dem Hamburger Berg neue Straßen erschlossen und bebaut: die Davidstraße, die Erichstraße, die Friedrichstraße und die Heinrichstraße entstehen. Von Anfang an sind hier auch Huren zu Hause.
Napoleons Truppen sorgen für Hochkonjunktur in Hamburgs Freudenhäusern
Mit dem Einmarsch napoleonischer Truppen in Hamburg 1806 sind mit einem Mal jede Menge fremder junger Männer in der Stadt – da ist es klar, dass Bordelle nur so aus dem Boden schießen. „Zu den vier Löwen“ heißt eins der bekanntesten und es befindet sich an der Davidstraße. Gleich um die Ecke, zwischen Heinrich- und Friedrichstraße, entsteht 1813 ein Barackenlager für spanische Söldner. Von „lebhaftem Verkehr“ mit den Bewohnern schreibt der St. Pauli-Chronist Ernst Heinrich Wichmann augenzwinkernd.
Die Franzosenzeit ist vorbei, da legt 1816 an der Stelle, wo sich heute die Landungsbrücken befinden, das erste Dampfschiff an. In der Heinrichstraße entsteht ein Nebeneinander von sogenannten Logierhäusern und Bordellwirtschaften. In den Logierhäusern steigen die Matrosen ab, die sich jetzt immer zahlreicher auf St. Pauli herumtreiben. Und während sie auf eine neue Heuer warten, vertreiben sie sich in den Bordellen die Zeit und hauen ihr Geld auf den Kopf.
Wie sehr das Rotlicht-Geschäft floriert, belegen diese Zahlen: 1833 gibt es in der Heinrichstraße sechs Bordelle, zwei Jahre später sind es schon zehn. 1887 – inzwischen sind sämtliche Logier- in Freudenhäuser umgewandelt –, steigt ihre Zahl sogar auf 20. Inzwischen gibt es sogar ein allgemein gültiges Huren-Reglement. Das legt fest, dass jeder Bordellbesitzer den Frauen einen Morgen-Kaffee bereitstellen muss, dass er keine Dirne zum Beischlaf zwingen und den Freudenmädchen maximal die Hälfte ihres Hurenlohns für Kost und Logis abknöpfen darf.
Im Kaiserreich sind Bordelle nur in wenigen Straßen erlaubt – wegen der Moral
Ab 1880 verstärkt die Stadt die Bemühungen, die „grassierenden sittenwidrigen Umtriebe“ einzudämmen und besser zu kontrollieren. Wichtigste Maßnahme: die Kasernierung der Prostituierten. Auf St. Pauli erhalten ab 1. Januar 1900 nur noch solche Bordelle eine Konzession, die sich in der Heinrichstraße befinden. Nur noch in bestimmten Straßen sollen Prostituierte leben und arbeiten dürfen. Frauen, die in der „Dirnenliste“ stehen, dürfen sich nicht mehr frei bewegen, viele Straßen und Plätze, bestimmte Lokale und Theater nicht mehr besuchen.
Um Prostitution für den nachfragenden Mann so „gesund“ wie möglich zu gestalten, müssen sie sich regelmäßig ärztlich untersuchen lassen. Strafrechtlich belangt werden allein Frauen, nicht etwa die Freier. Prostitution gilt als „wahllose Preisgabe eines Weibes an Männer gegen Entgelt“ und wird als eine einseitig weibliche Verfehlung verstanden. Dabei blenden die Verantwortlichen aus, dass immer zwei dazugehören und dass es Prostitution überhaupt nur gibt wegen der männlichen Nachfrage danach.
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Die Kasernierung und staatliche Reglementierung der Prostitution zu beenden, das ist das Ziel, das 1922 SPD und DDP verfolgen, als sie die Bordellstraßen auflösen und umbenennen. Prostituierte unterliegen ab da keinen Wohnungsbeschränkungen mehr und sie dürfen sich jetzt überall aufhalten – außer auf dem Jungfernstieg und in der Gegend rund um den Hauptbahnhof.
Wer die Sichtblenden an der Herbertstraße aufgestellt hat? Die Nazis!
Als 1933 die Nazis an die Macht kommen, wird die Prostitution zwar nicht verboten, aber wer ihr nachgeht, läuft Gefahr, als kriminell verfolgt und interniert zu werden: Mehr als 1500 Hamburger Huren werden während der Nazi-Diktatur in Schutzhaft genommen. Es sind die NS-Machthaber, die an den Eingängen der Herbertstraße Sichtblenden aufstellen lassen, um – so wörtlich – das „sittenwidrige Geschehen“ und die „asozialen Elemente“ aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit zu verbannen.
Nachdem die Herbertstraße den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden hat, sorgt in den 50er Jahren das Wirtschaftswunder wieder für jede Menge Zulauf. „Bei Schichtwechsel wurde die Lohntüte – ratsch – aufgemacht, erst mal ein Fuffziger gebunkert, von dem Mutti daheim nichts wusste – und dann: nix wie rin in die Herbertstraße“, erinnert sich eine Zeitzeugin, die dort damals arbeitet.
Bis in die 60er Jahre sitzen die Prostituierten nicht einzeln, sondern zu zweit oder zu dritt in den Fenstern. Sie tragen keine Dessous, sondern Kostüm oder Abendkleid. Offiziell ist es ihnen verboten, sich ungeniert den Kunden auf der Straße zu präsentieren – sie müssen stattdessen hinter einem Vorhang sitzen. Allerdings halten sie sich daran nur, wenn gerade die Polizei patrouilliert. „Dann ging das überall ,Pst! Pst!‘ – und die Gardinen flogen zu.“
1964 dreht Jürgen Roland den Kinofilm „Polizeirevier Davidswache“ – ein Straßenfeger
Davon, wie es damals hinter den Kulissen der Herbertstraße aussieht, können sich 1964 Kinobesucher überzeugen, denn in jenem Jahr feiert in den Lichtspielhäusern der Streifen „Polizeirevier Davidswache“ Premiere.
Regisseur Jürgen Roland hat für seinen Krimi auch das Innenleben der Bordelle gedreht: Steile, hölzerne Treppen sind zu sehen, schmale Gänge und kleine, veraltet möblierte Zimmer, die gerade mal mit einem Waschbecken ausgestattet sind. Ein Bad? Fehlanzeige. Und warm werden die Räume auch nur, wenn jemand eine Mark in den Münz-Gaszähler wirft.
Domenica ist die ungekrönte Königin der Herbertstraße
Domenica Anita Niehoff, Deutschlands berühmteste Prostituierte, arbeitet von 1972 bis 1990 in der Herbertstraße. Ihr Domina-Studio befindet sich erst im Haus 10, später im Haus 7b. Kiez-Fotograf Günter Zint, ein enger Freund Domenicas, kann sich gut erinnern an „viele lustige Partys“, die dort gefeiert werden. Prominente geben sich bei Domenica die Klinke in die Hand. Sogar Fürstin Gloria von Thurn und Taxis ist unter den Gästen. „Ein anderes Mal traf ich einen späteren französischen Minister“, so Zint. „Und der Künstler Tomi Ungerer hat 1985 sogar für mehrere Wochen in Domenicas Haus gewohnt und dort sein Buch ,Schutzengel der Hölle‘ geschrieben.“
„Im Winter, bei Schnee, ist es hell und eigentümlich lautlos hier, und die erleuchteten Fenster wirken warm und einladend“, so Domenica über die Herbertstraße. „Ein paar rotnasige Typen mit Riesen-Teddys vom Dom stapfen durch. Schön ist auch, wenn der Nieselregen fällt und sich das rote Neonlicht auf den feuchten Pflastersteinen spiegelt. Nur am Tag wirkt die Straße grau und nüchtern. Erst in der Dämmerung, wenn die Laternen aufflammen, entfaltet sich der alte, ordinäre, abgetakelte Zauber der Puff-Straße.“
Im Februar 2009 stirbt die „Königin der Herbertstraße“. Nach ihrem Tod erweist der Kiez ihr die letzte Ehre. Ein Trauerzug führt einmal quer durch St. Pauli – inklusive Herbertstraße, versteht sich. Hunderte Menschen schließen sich an, zeigen, wie sehr sie Domenica schätzten. Nur selten ist einer Prostituierten so viel Ehre zuteil geworden.