Frauen, Koks, Erpressung: Die Skandale von Hamburgs schlimmstem Senator
Er war der skandalumwittertste Senator in der Geschichte Hamburgs. Heute mag so gut wie niemand eingestehen, ihm einst seine Stimme gegeben zu haben. Aber jeder fünfte Hamburger hat es getan. Die Rede ist von Ronald Barnabas Schill, dem Gründer der Partei Rechtsstaatlicher Offensive (PRO). Genau 20 Jahre sind vergangen seit jenem denkwürdigen Tag, an dem Bürgermeister Ole von Beust die Hutschnur riss, er seinen Innensenator feuerte und der wie ein begossener Pudel da saß. Was ist damals hinter den Kulissen genau passiert? Die MOPO rekonstruiert die Ereignisse.
„Wenn dieser Mann politische Macht bekäme, das wäre eine Katastrophe”, sage ich. Der Gastgeber und seine Frau schauen mich entgeistert an. „Wieso Katastrophe? Wir hoffen, dass er an die Regierung kommt. Dann räumt der mal so richtig auf in Hamburg!” Es ist das Jahr 2000. Der politische Senkrechtstarter jener Zeit heißt Ronald Barnabas Schill. Der Amtsrichter sorgt laufend für neue Schlagzeilen – und er ist überall in der Stadt Thema. Auch bei dem geselligen Abendessen in Hamburgs Norden, zu dem ich damals eingeladen bin. Nachdem klar geworden ist, dass unsere Positionen völlig unvereinbar sind, verläuft der Rest des Abends ziemlich eisig. Ja, so kann Populismus spalten.
Die Szene veranschaulicht gut die Stimmung in der Stadt vor gut zwei Jahrzehnten: Die einen verehrten Schill, die anderen hassten ihn. Dazwischen gab es nichts… Ich bin übrigens nie wieder bei meinen Bekannten zum Essen eingeladen worden. Und wiedergesehen habe ich die Leute auch nicht. Wie sie wohl heute – mit zwei Jahrzehnten Abstand – über Schill denken?

Kaum ein Mensch hat Hamburg je so lächerlich gemacht wie er. Am 19. August 2003 war endlich Schluss damit. Schon davor hatte er für endlos viele Skandale gesorgt, aber an diesem Tag – heute vor genau 20 Jahren – ging er einen Schritt zu weit: Als er es wagte, Ole von Beust (CDU) mit dessen Homosexualität zu erpressen, reagierte der Bürgermeister anders als erwartet. Statt klein beizugeben, jagte von Beust seinen Innensenator kurzerhand zum Teufel.
Schills Großvater war Kommunist und wurde im KZ Neuengamme ermordet
Ronald Barnabas Schill: Der peinlichste Senator, den Hamburg je hatte, wird 1958 geboren und wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Großvater Kurt Schill war kommunistischer Widerstandskämpfer und wurde am 14. Februar 1944 im Exekutionsbunker des KZ Neuengamme gehenkt, nachdem SS-Chef Heinrich Himmler persönlich die Hinrichtung angeordnet hat.

Ronald Schills Vater leidet ein Leben lang an traumatischen Kindheitserfahrungen und sucht im Alkohol Zuflucht. Ein Quartalstrinker, der gewalttätig wird, wenn er blau ist. „Ich wurde Zeuge, wie mein Vater meiner Mutter immer wieder Gewalt antat“, erzählt Schill in einem „Stern“-Interview. „Ich konnte nicht helfen. Es war schrecklich.“
Die Eltern trennen sich. Ronald Schill ist anfangs ein schlechter Schüler, aber als er bemerkt, dass man über Leistung Anerkennung erntet, stürzt er sich nur so ins Lernen. Er schafft den Numerus clausus, beginnt ein Psychologie-Studium. „Menschliches Verhalten ist das Spannendste überhaupt auf der Welt“, sagt Schill.
Ronald Schill wird Richter und macht durch überharte Urteile von sich reden
Nach zwei Semestern gibt er das Fach auf, wechselt an die juristische Fakultät, wird Richter und macht sich einen Namen mit skandalösen Urteilen. Einerseits spricht er im Februar 1997 einen Polizisten frei, dem vorgeworfen wird, Schwarze auf der Wache misshandelt zu haben. Andererseits verurteilt er die psychisch kranke Röntgenassistentin Agnes B. zu zweieinhalb Jahren Haft – weil sie Autos zerkratzt hat. Die MOPO tauft ihn „Richter Gnadenlos“.
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Für Aufsehen sorgt ein Strafverfahren gegen Schill wegen Rechtsbeugung. Im Mai 1999 lässt er während eines Prozesses zwei randalierende Zuhörer festnehmen und in Ordnungshaft stecken. Beschwerden der Rechtsanwälte leitet Schill einfach nicht weiter. So ist die dreitägige Haft bereits abgesessen, bevor das Oberlandesgericht über die Rechtmäßigkeit entscheiden kann.

Das hat Konsequenzen: Schill wird suspendiert, ins Zivilrecht strafversetzt – und fällt den Entschluss, sich an der in Hamburg regierenden SPD zu rächen, wie er später in der Talkshow von Sandra Maischberger erklärt: „Wenn ihr mir meinen Traumjob nehmt, dann nehme ich euch euren Traumjob.“ Sein Plan: „Ich gründe eine Partei und werde das Bundesland Hamburg innerhalb von 15 Monaten erobern. Dann seid ihr draußen und ich bin drin.“
Zu dieser Zeit ist in Hamburg das Gefühl weit verbreitet, dass sich die Stadt im Würgegriff des Verbrechens befinde. Spektakuläre Kriminalfälle beherrschen die Schlagzeilen: Da ist „Crash-Kid“ Dennis, der am laufenden Band geklaute Autos schrottet, aber statt ins Gefängnis auf Erlebnispädagogik-Reisen ins Ausland geschickt wird. Da ist der Mord an dem Tonndorfer Lebensmittelhändler Willi Dabelstein – verübt von zwei jugendlichen Intensivtätern, mit denen die Justiz immer viel zu milde verfahren ist. Und der Hauptbahnhof ist Drogenumschlagplatz Nummer eins.
Schill verspricht, die Kriminalität in Hamburg in seinen ersten 100 Tagen zu halbieren
Schill gibt dem verbreiteten Unbehagen über die Sicherheitslage eine Stimme und ein Gesicht. Er gründet die Partei Rechtsstaatliche Offensive und macht vollmundige Versprechen: Etwa, dass er innerhalb von 100 Tagen nach Regierungsantritt das Verbrechen in der Stadt halbieren werde. Als sich dann auch noch zwei Wochen vor der Wahl die Attentate des 11. September ereignen und herauskommt, dass sich einige der Täter in Hamburg auf die Anschläge vorbereitet haben, ist klar: Schill ist nicht mehr zu stoppen.
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Bei der Bürgerschaftswahl am 23. September 2001 verliert die SPD nach 44 Jahren die Macht. Schills Partei holt aus dem Stand 19,4 Prozent. Die SPD bleibt zwar stärkste Fraktion in der Bürgerschaft, aber CDU, Schill und FDP erringen zusammen genug Sitze, um eine neue Regierung zu bilden. Der Christdemokrat Ole von Beust wird Bürgermeister. Schill, der den Posten des Innensenator bekommt, freut sich diebisch: „Ich habe Olaf Scholz die größte Niederlage seines Lebens zugefügt. Ich liebe es, Menschen in Extremsituationen zu bringen. Am liebsten Frauen im Bett. Aber zur Not auch mal Herrn Scholz“, zitiert ihn der „Stern“.

Schill hat versprochen, in Hamburg aufzuräumen. Doch kaum im Amt wird klar, dass davon nicht die Rede sein kann. Im Gegenteil, er gilt bald als der mit Abstand faulste Innensenator in Hamburgs Geschichte. Erst um 11 Uhr kommt er in die Behörde und weil er morgens der Letzte ist, geht er am Nachmittag auch als Erster. Die Arbeit überlässt er seinem Staatsrat Walter Wellinghausen. „Der hat mir den Rücken freigehalten, deswegen konnte ich es mir leisten, mein lasterhaftes Leben fortzusetzen“, sagt Schill später in einem Interview. „Ohne Wellinghausen hätte ich ja selbst arbeiten müssen.“
Im Bundestag hält er eine Skandalrede – bis ihm der Saft abgedreht wird
Viel Zeit verbringt Schill im Promi-Club „Insel“ an der Alster, beschäftigt sich mit dem, was ihm am meisten Spaß bereitet: Frauen vernaschen. Die „Bunte“ berichtet über Quickies auf Partys und über lautes, immer wiederkehrendes Gestöhne aus der Wohnung Schills, das Nachbarn zur Verzweiflung treibt. Später bekennt er: „Mir sprangen die Frauen mit gespreizten Beinen entgegen.“ Für Frauen seien Männer mit Macht eben noch unwiderstehlicher als Männer mit Geld …
Anfang 2002 machen Gerüchte die Runde, wonach Schill drogenabhängig sei. Die Bombe platzt, als das NDR-Magazin „Panorama“ einen Zeugen präsentiert – selbst Mitglied der Schill-Partei –, der eidesstattlich versichert, er habe dreimal gesehen, wie Schill bei verschiedenen Anlässen ein schwarz-blaues Döschen aus der Tasche zog. Darin habe sich ein weißes Pulver befunden, das sich Schill auf das Zahnfleisch aufgetragen habe. Der Haartest, den Schill daraufhin machen lässt – die Untersuchung findet in München statt –, spricht allerdings eine andere Sprache. Ergebnis: von Kokain keine Spur!

Kurz darauf der nächste Skandal: Im Sommer 2002 hat eine Flutkatastrophe an Elbe und Donau zu schweren Überschwemmungen geführt und deshalb soll es am 29. August 2002 in einer Bundestagsdebatte eigentlich um Hilfe für die Flutopfer gehen. Eigentlich. Dann tritt Schill ans Mikrofon und hält eine Brandrede gegen Asylbewerber und bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge, gegen angebliche Luxusgefängnisse mit Schwimmbad und gegen die angeblich desaströse Finanzpolitik der Bundesregierung. Von Zwischenrufen („Sprechen Sie doch mal zum Thema!“) lässt er sich nicht beirren, stellt dann sogar den Beitritt Polens zur EU infrage, weil dies viel zu kostspielig sei. Als ihn nach Ende der 15-minütigen Redezeit Bundestagsvizepräsidentin Anke Fuchs (SPD) auffordert, zum Ende zu kommen, weigert er sich, das Podium zu verlassen. Als ihm Anke Fuchs schließlich den Saft abdreht, beginnt Schill zu pöbeln, räumt nur unter heftigem Protest das Pult.
Am nächsten Tag bricht ein Sturm der Empörung los: Der Münsteraner Ortsverband der Schill-Partei will den eigenen Vorsitzenden sogar aus der Partei ausschließen, weil der diese „gnadenlos blamiert“ habe. „Jämmerlich“, „dümmlich“, „perfide“, „peinlich“, so wird die Rede von den Medien kommentiert. Die Quittung der Wähler ist deutlich: Schills Partei erringt bei der Bundestagswahl im September 2002 jämmerliche 0,25 Prozent. Die Hoffnung, an das Sensationsergebnis von der Bürgerschaftswahl im Jahr davor anknüpfen zu können, erfüllt sich nicht.
Der tiefe Fall: Schill erpresst den Bürgermeister und wird gefeuert

Und dann kommt der Tag aller Tage: der 19. August 2003, dessen Verlauf Ole von Beust in seinem Buch „Mutproben“ detailliert schildert. Für den Bürgermeister ist es der erste Tag nach den Sommerferien. Mit wachsender Sorge hat er während seines Segelurlaubs beobachtet, wie ein Skandal um Walter Wellinghausen, Schills rechter Hand, immer höhere Wellen schlägt. Der Vorwurf: Neben seinem Amt als Staatsrat hat Wellinghausen auch noch als Anwalt und Aufsichtsrat für eine Klinik gearbeitet. Eine verbotene Nebentätigkeit. Für von Beust ist klar: Wellinghausen muss weg. Sofort.
Pünktlich um 9.30 Uhr tritt Schill zum Rapport an. Er ist bewaffnet, wie Ole von Beust später erfahren wird. Ein bisschen Smalltalk über den Urlaub, dann kommt der Senator zur Sache: „Ich höre, du willst Wellinghausen entlassen?“ Beust nickt. „Das kannst du nicht“, sagt Schill. Der Bürgermeister ist überrascht: „Wieso? Denk mal darüber nach, ob das nicht auch für dich besser so ist.“ Wellinghausen sei eine Belastung.
Schill wird laut, geht zum Angriff über. „Nein, ohne Wellinghausen geht das nicht. Der ist eine wichtige Stütze. Und außerdem kannst du das nicht.“ Der Bürgermeister fragt: „Warum soll ich das nicht können?“ Da explodiert Schill: „Weil du deinen Liebhaber zum Senator gemacht hast. Roger Kusch. Er ist dein Freund. Ich weiß es aus sicherer Quelle. Du hast mit ihm eine sexuelle Beziehung und du hast ihn zum Justizsenator gemacht.“
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Für einen Moment ist Stille. Dann läuft Schill zu Hochform auf: „Wenn du Wellinghausen entlässt, dann bist du geliefert. Dann bist du dein Amt los.“ Schill droht, er werde der Öffentlichkeit mitteilen, dass der Bürgermeister sein Amt für persönliche sexuelle Neigungen missbraucht habe. „Heute Abend, Prime-time!“, fügt Schill mit drohender Geste hinzu.
Nun wird der Bürgermeister laut: „Raus. Verlass sofort mein Büro! Ich will dich nie wieder sehen. Das war’s!“ Ole von Beust handelt jetzt sehr schnell. „Mir war intuitiv klar, dass ich noch vor ihm mit der Sache raus musste“, schreibt er in seinem Buch. „Der, der zuerst draußen ist, der bringt den anderen in die Defensive und ist damit im Vorteil.“
Für mittags lädt er zu einer Pressekonferenz ein. Für Schill die schwärzeste Stunde seines Lebens. Der Bürgermeister teilt den Journalisten mit, dass Ronald Schill ihn mit seiner Homosexualität erpressen wollte und dass der Innensenator hiermit entlassen sei. Ohne Fragen zu beantworten, verlässt von Beust den Raum. Der „Partynator“ gefeuert, zum Teufel gejagt. Ein desaströser Abgang.
Schill lebt heute in Rio de Janeiro und tritt in zweifelten TV-Shows auf
Das Haar zerzaust, die Augen übermüdet, über der Oberlippe eine dicke Herpeswunde – so tritt Schill im Anschluss vor die Presse. Nichts mehr ist übrig vom schillernden Triumphator. Schill wiederholt den Vorwurf, dass der Bürgermeister eine Affäre mit seinem Justizsenator habe. Zeugen hätten ihm von eindeutigen Geräuschen erzählt, die aus der Wohnung des Bürgermeisters am Hansaplatz gedrungen seien. Ein Bürgermeister und ein Justizsenator im Liebesrausch… Schill redet sich um Kopf und Kragen, merkt es aber nicht.

Wenig später verlässt er das Land, taucht in Rio de Janeiro unter, kauft sich ein Häuschen in der Favela Pavão-Pavãozinho und lebt dort von 1400 Euro Richterpension. Seither ruft er sich alle paar Jahre mal in Erinnerung. Schreibt entweder ein Buch, in dem er seine Sex-Abenteuer ausbreitet. Oder wirkt in zweifelhaften Reality-Shows mit: 2016 nackt bei „Adam sucht Eva“, 2020 bei „Promis unter Palmen“, zuletzt bei „Kampf der Realitystars – Schiffbruch am Traumstrand“. Mit Schiffbruch kennt er sich ja aus.
Was geblieben ist von Schill – abgesehen von vielen furchtbaren Skandalen und den Erinnerungen daran? Die dunkelblauen Uniformen der Polizei! Die hat er eingeführt, ließ sie von Star-Designer Luigi Colani entwerfen. Wenigstens eine Sache hat Ronald Barnabas Schill ganz gut gemacht.