Experten streiten: War Helmut Schmidt wirklich der „Herr der Flut“?
Ob Helmut Schmidt je Bundeskanzler geworden wäre, wenn es 1962 nicht die Sturmflut gegeben hätte? Als vor 60 Jahren die Deiche brachen und sich 220 Millionen Kubikmeter salzig-brackiges Wasser in die Stadt fraßen, da machte Schmidt sich einen Namen als Krisenmanager – und empfahl sich so für höhere Aufgaben in Bonn. Vor allem ältere Hamburger sind dem damaligen Polizeisenator bis heute dankbar dafür, wie er die Katastrophe meisterte. Doch war er wirklich der „Herr der Flut“? Historiker sind uneins – hier streiten sich zwei Schmidt-Experten.
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Ob Helmut Schmidt je Bundeskanzler geworden wäre, wenn es 1962 nicht die Sturmflut gegeben hätte? Als vor 60 Jahren die Deiche brachen und sich 220 Millionen Kubikmeter salzig-brackiges Wasser in die Stadt fraßen, da machte Schmidt sich einen Namen als Krisenmanager – und empfahl sich so für höhere Aufgaben in Bonn. Vor allem ältere Hamburger sind dem damaligen Polizeisenator bis heute dankbar dafür, wie er die Katastrophe meisterte. Doch war er wirklich der „Herr der Flut“, zu dem der „Spiegel“ ihn stilisierte?
MOPO-Chefreporter Olaf Wunder lässt zwei Schmidt-Experten miteinander streiten. Der eine: Dr. Helmut Stubbe da Luz (70), Historiker an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr. Er sagt: Schmidts Rolle sei jahrzehntelang stark überhöht worden – nicht zuletzt von ihm selbst. Der andere: Dr. Meik Woyke (49), Vorstandsvorsitzender der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung. Er nennt Stubbe da Luz’ Thesen „fragwürdig“ und sagt, „polemische Mutmaßungen und Skandalisierungen“ führten in die Irre.
Helmut Stubbe da Luz: „So sagenhaft war seine Leistung gar nicht“
Der Historiker Dr. Helmut Stubbe da Luz, Privatdozent an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, rüttelt am „Denkmal Schmidt“. In seinem Standpunkt für die MOPO schreibt er: „Von einigen Medien ist 2020/2021 wieder einmal der Schmidt-Sturmflut-Mythos beschworen worden: vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und der Hochwasserkatastrophe in Südwestdeutschland. Habe es da nicht an einem genialen Krisenmanager wie Helmut Schmidt gefehlt? An einer Leitfigur, die beherzt, schneidig und unbürokratisch die Probleme beim Schopf gepackt hätte? Als Beleg für Schmidts Nimbus gelten vor allem seine sagenhaften Leistungen während der Sturmflut von 1962.
Vorsicht ist geboten: Denn so sagenhaft waren die gar nicht. Vor allem hat Helmut Schmidt 1962 weder Bundeswehr- noch sonstige NATO-Soldaten herangezogen. Schon lange bevor Schmidt am 17. Februar aus dem Schlaf geweckt wurde, leistete die Bundeswehr Katastrophenhilfe, entlang der gesamten Nordseeküste und auf der Grundlage einschlägiger Dienstvorschriften. Den Umstand, dass verbündete NATO-Einheiten dabei Unterstützung leisteten, hat Schmidt zwar Jahrzehnte später darauf zurückgeführt, dass er persönlich den NATO-Oberbefehlshaber für Europa, General Norstad, in dessen Hauptquartier bei Paris angerufen hätte. Doch bedurfte es dessen nicht, und das Telefonat ist sicherlich nie geführt worden.
Keineswegs also hat Schmidt – im Sinne des Allgemeinwohls und von seinem Gewissen geplagt – in diesem Zusammenhang das Grundgesetz missachtet. Als Landesminister hatte er keinerlei Kompetenz in puncto Bundeswehr. Der Regierung in Bonn war es zwar tatsächlich untersagt, die Streitkräfte in einem Notstand innenpolitischer Art in Anspruch zu nehmen, also etwa angesichts bürgerkriegsähnlicher Szenarien. Dagegen gebot das Grundgesetz dem Staat kategorisch, seine Bürger aus Todesgefahr zu befreien.
Gleichwohl hat Schmidt sich hernach gern jenes Verfassungsbruchs bezichtigt (sowie des Bruchs weiterer Normen des Grundgesetzes, der Hamburger Verfassung und des Strafgesetzbuchs). Zunächst wollte er sich damit in der Debatte über die Notstandsgesetze profilieren; sie sollten die genannte Lücke schließen und einen bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Innern legitimieren. Wer wohl, prahlte Schmidt, wisse aus eigener Erfahrung besser als er, wie sehr spezielle Verfassungsartikel für die Bewältigung eines ,übergesetzlichen Notstands‘ fehlten? 1968 wurden die Notstandsgesetze verabschiedet. Anschließend hat Schmidt seine Storys mit der Autorität des Verteidigungsministers, des Bundeskanzlers und des weisen Ex-Staatsmanns variiert.
1962, als die Deiche brachen, amtierte Schmidt erst acht Wochen als Polizeisenator des kleinen Bundeslands Hamburg. Immerhin war er bereits als künftiger Innensenator vorgesehen – zuständig für die innere Sicherheit insgesamt. Er sah sich als den starken Mann im Senat und in seiner Landespartei. Umso peinlicher für ihn, dass die Flut ihre Todesopfer allergrößten Teils schon gefordert hatte, als er in seiner Behörde erschien.
Die Polizeiführung hatte mit der Genehmigung von Schmidts Stellvertreter, Senator Drexelius, das Dringlichste und Menschenmögliche veranlasst; sie wollte sich von Schmidt auch nur ungern hineinreden lassen. Der Polizeisenator, um seine Autorität besorgt, setzte sich daher selbst an die Spitze des provisorischen Katastrophenstabs und kehrte den Weltkrieg–Zwei-Offizier heraus. Aber ist Schmidt mit seiner ,Schnauze‘ in dieser Position erheblich effektiver gewesen als die Beamten, die er – sehr viel später – als ,aufgeregte Hühner‘ in Misskredit gebracht hat? Das scheint nicht der Fall.
Bei der Erfüllung seiner politischen Aufgabe, als er nicht nur die Maßnahmen der Katastrophenabwehr im Senat vertrat und Regierungsbeschlüsse herbeiführte, sondern auch die einschlägigen Behörden koordinierte, ist Schmidt so vorgegangen, wie es als Standard in einer Katastrophenordnung gestanden hätte – wenn sie in Hamburg schon beschlossen gewesen wäre. Kompetenzgerangel hatte das bislang verhindert. Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein waren da schneller gewesen.
Mit nicht geringerem Engagement hat Schmidt sich zugleich ganz persönlich den Medien präsentiert. Manche Journalisten ergriffen gern die Gelegenheit, das komplexe Geschehen auf die zentrale Rolle eines vielversprechenden Nachwuchspolitikers zu reduzieren, eines ,Herrn der Flut‘, der, aus Berlin ,eingeflogen‘, die Bühne des Geschehens mit dem Ausruf ,Alles hört auf mein Kommando‘ betreten, gar ,die Macht ergriffen‘ hätte.
Die Schmidt-Sturmflut-Dichtung trifft vielfach auf Gutgläubigkeit und Gefallen. Aber sie widerspricht nicht nur der Wahrheit. Sie ist auch dazu geeignet, den irreführenden Eindruck zu erwecken, Krisen und schwere Unglücksfälle könnten von einem zauberhaften Retter gemeistert werden, einem gutwilligen Diktator.“
Meik Woyke: „Er hat den Krisenstab straff organisiert und Tausende gerettet“
Meik Woyke, der Vorstandsvorsitzende der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung widerspricht Stubbe da Luz energisch. Woyke zur MOPO: „In der Nacht zum 17. Februar 1962 brachen im Süden Hamburgs sowie in ganz Norddeutschland die Deiche. Mit einer derart katastrophalen Sturmflut hatten die Behörden nicht gerechnet. Der Erste Bürgermeister Paul Nevermann befand sich auf Kur, die meisten Senatoren waren nicht zu erreichen. Schmidt kehrte nachts von einer Innenministerkonferenz aus Berlin nach Hamburg zurück und erfuhr in den frühen Morgenstunden durch einen Telefonanruf von der Katastrophe. Er machte sich umgehend auf den Weg ins Polizeipräsidium und übernahm – systematisch denkend und gewohnt schneidig – das Kommando über die bereits laufenden Hilfs- und Rettungsmaßnahmen.
Schmidt agierte als Krisenmanager ausgesprochen unbürokratisch. Die Bundeswehr war schon alarmiert, er forderte zusätzliche Einheiten an und auch NATO-Soldaten. Schmidts Verdienst liegt darin, angesichts der Sturmflutkatastrophe den Krisenstab straff organisiert und geleitet zu haben. Dadurch hatte er großen Anteil daran, dass Tausende Hamburgerinnen und Hamburger vor den Wassermassen gerettet werden konnten.
Dass Streitkräfte der Bundeswehr und des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses im Inland eingesetzt wurden, sorgte in der Nachbetrachtung der Sturmflut für Diskussionen. Für Helmut Schmidt und sämtliche Rettungskräfte kam es in der Katastrophensituation darauf an, den Menschen schnell und effizient zu helfen. Die Frage, ob der Einsatz vom Grundgesetz gedeckt war, trat dabei in den Hintergrund. Bis heute gibt es verschiedene juristische Positionen dazu. Dagegen führen polemische Mutmaßungen und Skandalisierungen in die Irre. Fragwürdige Thesen ersetzen nicht die genaue und differenzierte wissenschaftliche Analyse.
Wer Schmidts Zeitzeugenberichte über sein Handeln in der Sturmflutkatastrophe über die fünf Jahrzehnte seit 1962 nachvollzieht, sollte unbedingt berücksichtigen, dass sich Erinnerungen verändern und in neue Perspektiven gerückt werden können. Das ist bei allen von uns so, geschieht nicht zwangsläufig mit politischer Absicht und gehört zum kleinen Einmaleins historischer Betrachtungen.
Offensichtlich waren die in Hamburg bestehenden Behördenstrukturen mit der Bekämpfung eines solchen Katastrophenfalls überfordert. Deshalb bekam Schmidt nach der Sturmflut den Auftrag, aus der traditionellen und schwerfällig gewordenen Polizei- eine leistungsstarke Innenbehörde für die Hansestadt aufzubauen.
Schmidts beherzter Einsatz gegen die Sturmflutfolgen förderte sein politisches Ansehen. Lediglich ein halbes Jahr nachdem Willy Brandt mit seinem konsequenten Auftreten gegen den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 im Rampenlicht der Weltpolitik gestanden hatte, formte sich von Schmidt das Bild eines zupackenden Krisenmanagers – zweifellos mit auf Deutschland beschränkter Reichweite. Als Politiker, der fachlich versiert war und gleichzeitig die Gesetze der sich ausprägenden Mediengesellschaft kannte, arbeitete er selbst an seinem Image. Die ihm von Journalisten zugeschriebene Bezeichnung als ,Macher‘ lehnte Schmidt hingegen ab. Er hielt sie für unpassend, weil er – bei allem Pragmatismus – großen Wert darauf legte, vernunftgeleitet und wertebasiert statt einfach nur hemdsärmelig gehandelt zu haben.
Der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung liegt es fern, Helmut Schmidt auf einen Sockel zu heben und als Denkmal auszustellen. Ihr Auftrag ist es vielmehr, ihn als Politiker, Elder Statesman und Publizisten kritisch zu würdigen und aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Die von der Stiftung in der Hamburger Innenstadt gezeigte Ausstellung ,Schmidt! Demokratie leben‘ trägt erheblich dazu bei, indem sie unterschiedliche Sichtweisen aufzeigt und einen Ort für Debatten über die Geschichte und die politischen Herausforderungen der Gegenwart bietet.“