x
x
x
  • Auf­ge­nom­men ver­mut­lich in den 40er Jahren: Seit sie zwölf Jahre alt ist, hilft Anita Haendel ihrem Vater, dem Wirt der Ober­ha­fen­kan­ti­ne. Später übernimmt sie den Laden.
  • Foto: MOPO-Archiv

Ein wahrlich schräger Ort: Anita Haendel und Hamburgs letzte Kaffeeklappe

Von Glück sagen kann, wer Anita noch kennengelernt hat. Denn der hat ein Hamburger Original erlebt – und so was gibt’s heute ja gar nicht mehr. Hummel Hummel, Zitronenjette und Anita Haendel – sie muss man in einem Atemzug nennen. Die Frage ist, was eigentlich uriger war: diese alte, spindeldürre Dame, die am 1. Februar 1997 starb, oder die Kneipe, hinter deren Tresen sie praktisch ihr ganzes Leben stand – sogar noch am Tag, bevor sie das Zeitliche segnete.

Von der Oberhafenkantine ist hier die Rede. Von dieser letzten Hamburger Kaffeeklappe, die seit 1925 gleich gegenüber vom alten Fruchthof auf dem Kai balanciert – und dabei im Laufe der Jahrzehnte das Gleichgewicht verloren hat. Das Haus unterhalb der Oberhafenbrücke – einst mit 800 Zügen pro Tag die meistbefahrene Brücke Europas – steht so schief da wie ein Segelschiff im Sturm, sodass den Gästen der Kaffee in der Tasse über Bord zu gehen droht.

Oberhafenkantine: Hamburgs letzte Kaffeeklappe

Dass die Oberhafenkantine überhaupt noch existiert – ein Wunder. Wie oft hieß es, sie sei baufällig und müsse abgerissen werden!? Bei Sturmfluten wurde sie immer wieder beschädigt, sodass diverse Betreiber entnervt aufgaben – aber die hamburgischste aller Hamburger Kneipen ist immer noch da. Seit 95 Jahren. Und sie wird auch – ganz locker – das Hundertste schaffen.

Hermann Sparr hat das Gebäude 1925 errichten lassen. Legenden ranken sich darum, wie es kam, dass das kleine, drei mal siebeneinhalb Meter große Häuschen aus den gleichen bläulich glasierten Steinen gemauert ist wie das Chilehaus. Angeblich haben damals direkt am Oberhafen die Schuten mit den Ziegeln für das berühmte Kontorgebäude festgemacht … Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Anita Haendel arbeitet in der Oberhafenkantine, seit sie 12 ist

Anita ist gerade zwölf Jahre alt, als ihr Vater Hermann Sparr sie als Küchenhilfe in den Familienbetrieb holt. Und von da ab wird sie die Kneipe 72 Jahre lang nur zum Schlafen verlassen. Sie erlebt durch die Fenster der Oberhafenkantine einen großen Teil von Hamburgs Geschichte mit: Als junges Mädchen sieht sie noch die Gemüseschuten und die Vierländerinnen in ihren Trachten, die an den Deichtorhallen ihre Ware feilbieten.

Im Krieg sieht sie die Bomben fallen, die die Oberhafenkantine immer wieder nur knapp verpassen. Und Anita muss auch mitansehen, wie am benachbarten Hannoverschen Bahnhof Menschen unter Geschrei und Gebrüll in die Güterwaggons gezwungen werden. Es ist eine Fahrt in den Tod. Nach Theresienstadt. Oder gleich nach Auschwitz.

Hamburgs schrägster Ort: die Oberhafenkantine. Weil Sturmfluten und Gezeiten die Spundwand hinterm Haus unterspülte, steht die Oberhafenkantine so schräg da am Kai, dass dem Gast der Kaffee in der Tasse über Bord zu gehen droht.

Hamburgs schrägster Ort: die Oberhafenkantine. Weil Sturmfluten und Gezeiten die Spundwand hinterm Haus unterspülte, steht die Oberhafenkantine so schräg da am Kai, dass dem Gast der Kaffee in der Tasse über Bord zu gehen droht.

Foto:

Morgenpost Bildarchiv ©

Aber was auch immer passiert ist in all der Zeit: Auf sie ist Verlass. Sie, die irgendwann die Nachfolge ihres Vaters antritt, steht jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe auf, nimmt um 4.28 Uhr die S-Bahn und ist rechtzeitig im Laden, wenn die Bahnarbeiter vom nahen Rangierbahnhof kommen, um nach der Nachtschicht ihren „Lütten“ und ’ne hausgemacht Frikadelle für zwei Mark zu bestellen oder einen Eintopf oder ein Rundstück warm.

Barkassenschipper und Seeleute gehören zu den Stammgästen. Mitarbeiter von Hafenbetrieben ebenfalls. Man kennt sich.

In den 80er Jahren kommt junges Szenevolk zur Kaffeeklappe

Bis dann irgendwann in den 80er Jahren Werber, Fotografen und junges Szene-Volk die Kaffeeklappe für sich entdecken und diesen – im wahrsten Sinne des Wortes – schrägsten Ort Hamburgs total „hip“ und „kultig“ finden und hier abends ihre Partys feiern.

Aber der Zahn der Zeit nagt unnachgiebig am Gebäude. Die Gezeiten und Sturmfluten unterspülen die Spundwand hinterm Haus, sodass es weiter absackt und immer mehr in Schräglage gerät. Die Existenz der Oberhafenkantine ist massiv gefährdet – auch noch aus ganz anderen Gründen. Im Erbpachtvertrag, den Hermann Sparr 1925 mit dem Liegenschaftsamt ausgehandelt hat, ist geregelt, dass Schluss ist, sobald kein Nachkomme mehr den Betrieb weiterführt.

Anita Haendel stirbt am 1. Februar 1997, einen Tag vor ihrem 84. Geburtstag. Danach führen zwei gute alte Freunde den Betrieb weiter: Günther Engel (damals 73) und Marianne Volkmann (damals 71). Aber nur drei Monate lang. Dann steht ein Mann vom Ordnungsamt vor der Tür und stellt die Baufälligkeit des Gebäudes fest. Er untersagt die Gastronomie. Für immer. So sieht es jedenfalls aus.

Die Mutter von Tim Mälzer öffnet hier eine Kneipe

Einige Jahre steht das Haus leer und vergammelt, wird dann aber 2005 restauriert und dann wieder als Kneipe eröffnet. Eine Zeitlang tritt Christa Mälzer, die Mutter des Fernsehkochs Tim, in Anita Haendels Fußstapfen. Doch als 2007 Orkan „Tilo“ schwerste Schäden anrichtet, gibt sie auf.

Seit nunmehr neun Jahren ist Sebastian Libbert Inhaber der Oberhafenkantine – und durchlebt wegen Corona gerade schwere Zeiten. Aufgeben aber ist nicht seine Sache. Er hat auf Außer-Haus-Verkauf umgestellt: täglich von 12 bis 15 Uhr gibt’s Speisen zum Mitnehmen. Frikadelle im Brötchen (4,50 Euro). Kartoffeneintopf (7,50 Euro). Currywurst mit Röstkartoffeln (12,50 Euro).

Lecker. So lecker, als stünde immer noch Anita hinterm Herd.

Email
Share on facebook
Share on twitter
Share on whatsapp