Fotos zeigen grausames Schicksal: Als geflohene Juden zurück nach Hamburg mussten
Es sind erschütternde Szenen, die sich Anfang September 1947 im Hamburger Hafen abspielen. Auf britischen Schiffen werden Tausende Juden – die meisten Überlebende aus Nazi-Konzentrationslagern – gegen ihren Willen ins Land der Täter zurückgebracht, von britischen Soldaten mit Gewalt von Bord getrieben und in Internierungslager gesperrt, als wären sie Verbrecher. Dabei ist ihr einziges Vergehen, in Palästina leben zu wollen, der Heimat ihrer Vorväter, ihrem gelobten Land.
Als die Schiffe mit den Unglücklichen in Hamburg anlegen – genau 75 Jahre sind seither vergangen –, ist der Hamburger Schriftsteller Ralph Giordano („Die Bertinis“) Augenzeuge. „Dass die sich überhaupt bewegen konnten, Menschen, so grau, so blass, so aschfahl, die sich benahmen wie Traumwandler, sich marionettenhaft bewegten, die einfach nicht begreifen konnten, was da passierte.“
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Es sind erschütternde Szenen, die sich Anfang September 1947 im Hamburger Hafen abspielen. Auf britischen Schiffen werden Tausende Juden – die meisten Überlebende aus Nazi-Konzentrationslagern – gegen ihren Willen ins Land der Täter zurückgebracht, von britischen Soldaten mit Gewalt von Bord getrieben und in Internierungslager gesperrt, als wären sie Verbrecher. Dabei ist ihr einziges Vergehen, in Palästina leben zu wollen, der Heimat ihrer Vorväter, ihrem gelobten Land.
Als die Schiffe mit den Unglücklichen in Hamburg anlegen – genau 75 Jahre sind seither vergangen –, ist der Hamburger Schriftsteller Ralph Giordano („Die Bertinis“) Augenzeuge. „Dass die sich überhaupt bewegen konnten, Menschen, so grau, so blass, so aschfahl, die sich benahmen wie Traumwandler, sich marionettenhaft bewegten, die einfach nicht begreifen konnten, was da passierte.“
Giordano schreibt, dass ihn nach der Befreiung von der Nazi-Herrschaft „nichts mehr erschüttert hat als das, was da an diesem 8. und 9. September 1947 geschehen ist“.
- picture-alliance In Haifa wird die „Exodus“ von der jüdischen Bevölkerung unter Jubel willkommen geheißen. Doch die 4515 Flüchtlinge an Bord werden von den Briten zurückgeschickte nach Europa – und bei Lübeck interniert.
- picture-alliance Interniert im Land der Täter: „Exodus“-Flüchtlinge in ihrem Lager bei Lübeck. „Es kam mir vor, als wäre ich zurück in Nazi-Deutschland“, so eine Zeitzeugin.
- picture-alliance 8. September 1947: „Exodus“-Flüchtlinge erreichen an Bord des Transportschiffes „Ocean Vigour“ Hamburg und werden teilweise gewaltsam von Bord getrieben.
- dpa „Exodus“-Passagiere erreichen das Lager Pöppendorf bei Lübeck. „Es kam mir vor, als wäre ich zurück in Nazi-Deutschland“, erzählt eine Zeitzeugin.
- picture-alliance Blick in das Transportschiff „Runnymede Park“, das Flüchtlinge von der „Exodus“ nach Hamburg bringt. „Schwimmendes Auschwitz“, schreibt eine französische Zeitung.
- picture-alliance „Exodus“-Flüchtlinge werden nach Deutschland zurückgeschickte und im Lager Pöppendorf bei Lübeck interniert. Hier die Ankunft auf dem Bahnhof.
- picture-alliance „Exodus“-Flüchtlinge werden im Auffanglager in Pöppendorf interniert. Hier die Ankunft auf dem Bahnhof.
- picture-alliance Im Hafen von Haifa betrachten britische Soldaten die Schäden an der „Exodus“, die beim Gefecht mit der britischen Marine entstanden sind.
- picture-alliance Eigentlich war Palästina ihr Ziel: 1947 werden jüdische Flüchtlinge, die mit der „Exodus“ nach Palästina auswandern wollten, nach Deutschland zurückgeschickt und im Lager Pöppendorf bei Lübeck interniert.
Und nicht nur er ist entsetzt. Das Drama des Dampfers „Exodus“ und seiner Passagiere löst weltweit eine Welle der Empörung aus – und hat nicht weniger als die Gründung des Staates Israel zur Folge.
Drama um die 4515 „Exodus“-Passagiere führt zur Gründung des Staates Israel
Als 1945 der Nationalsozialismus besiegt ist, wollen zigtausende überlebende Juden nur eins – weg aus Europa und ein neues Leben in Palästina beginnen, das seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches 1922 Mandatsgebiet Großbritanniens ist. Je mehr Juden ins Land strömen, desto heftiger sind die Auseinandersetzungen, die sich jüdische und arabische Einwohner liefern. Ein Bürgerkrieg könnte die gesamte Region destabilisieren, das wissen die Briten, also untersagen sie die weitere Einwanderung von Juden ins Land.
Jetzt rächt sich das doppelte Spiel, das London im Ersten Weltkrieg gespielt hat: Um einerseits die Kriegsanstrengungen der USA zu steigern und andererseits die Araber als Verbündete gegen die Türken zu gewinnen, stellte die britische Regierung damals sowohl den Juden als auch den Arabern einen eigenen Staat in Palästina in Aussicht. Damit war der Samen des Nahostkonflikts gesät.
Die Jewish Agency for Palestine, die offizielle Vertretung der Juden in Palästina, denkt aber gar nicht daran, das britische Einwanderungsverbot zu respektieren. Im Gegenteil: Durch den Strom von Flüchtlingen will sie die Weltöffentlichkeit auf das ungelöste Problem der jüdischen Immigration aufmerksam machen und die Gründung eines jüdischen Staates erzwingen. Zwischen 1945 und 1948 kauft die Haganah, eine jüdische Untergrundorganisation, nach und nach 63 ausrangierte Dampfer auf, um damit Holocaust-Überlebende aus Europa nach Palästina zu bringen – bis auf fünf Schiffe werden alle von der britischen Marine aufgebracht, die Passagiere auf Zypern interniert. 10.000 sitzen dort in britischen Gefangenenlagern.
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In dieser Situation sticht die „President Warfield“ in See, die bald darauf zur „Exodus“ wird. Es handelt sich um einen alten US-Vergnügungsdampfer, der im Zweiten Weltkrieg als Truppentransporter eingesetzt war und bei Kriegsende ausgemustert wurde. Gebaut ist das Schiff für 500 Passagiere – doch als es am 11. Juli 1947 im Hafen der französischen Stadt Sète ausläuft, sind 4515 Juden an Bord: Männer, Frauen und Kinder – fast alle haben in deutschen Konzentrationslagern Höllenqualen durchlitten. Das Schiff ist so überfüllt, dass ein Flüchtling notiert: „Mein erster Eindruck war schlimm, es war, als würde ich eine Gaskammer betreten.“
Kommandant Jossi Joel Hamburger will die britische Seeblockade austricksen
Kommandant ist Jossi Joel Hamburger, 1919 in Jerusalem geboren, der den Auftrag hat, die britische Seeblockade auszutricksen. Der Plan ist, nachts vor der palästinensischen Küste die eigenen Positionslichter zu löschen, die britischen Schiffe vorbeifahren zu lassen und anschließend direkt auf den Strand zuzuhalten. Die „President Warfield“ ist für den Einsatz in flachen Gewässern gebaut – also wie geschaffen, um in Ufernähe auf Grund gesetzt zu werden.
Am 17. Juli verleiht die Crew dem Schiff auf hoher See einen symbolträchtigen Namen: „Exodus 1947“ – in Anlehnung an das 2. Buch Mose, das den Auszug der Israeliten aus Ägypten ins gelobte Land beschreibt. Die honduranische Flagge wird eingeholt, das weißblaue Banner mit dem Davidstern gehisst.
Kurz vor dem Hafen von Haifa, aber noch innerhalb internationaler Gewässer kommt es zum befürchteten Showdown: Fünf britische Zerstörer unter Führung des Kreuzers „Ajax“ verfolgen die „Exodus“ und fordern Kommandant Hamburger auf, die Maschinen zu stoppen. Als dies unterbleibt, setzt sich ein britisches Schiff quer davor, ein anderes rammt die „Exodus“ und die Briten gehen zum Angriff über. Ein sehr ungleicher Kampf: Sechs moderne Kriegsschiffe gegen einen verrosteten unbewaffneten Seelenverkäufer.
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Mit dem Mut der Verzweiflung wehren sich die Passagiere der „Exodus“. Sie verbarrikadieren das Schiff, werfen mit Konservendosen und schütten heißes Wasser auf die Angreifer, bewaffnen sich mit Holzlatten und Eisenstangen. Vier Stunden dauert der Kampf.
Als die Briten anfangen zu schießen, kapituliert Kommandant Hamburger
Eigentlich hat Kommandant Hamburger von der Haganah Anweisung, auf keinen Fall zu kapitulieren, sondern im äußersten Fall kollektiven Selbstmord zu begehen. Als aber britische Soldaten beginnen, ihre Schusswaffen einzusetzen, findet er, es ist genug Blut vergossen und kapituliert.
150 Menschen sind bei den Kämpfen verletzt worden, vier getötet, darunter ein britischer Soldat. Auch das Schiff hat einiges abgekriegt: die „Exodus“ ist durchlöchert wie ein Sieb, hat Schlagseite, droht zu kentern. Eins der britischen Schiffe nimmt es in Schlepptau und bringt es in den Hafen von Haifa, wo Tausende Juden versammelt sind, um es zu begrüßen. Aus den Bordlautsprechern erschallt das Lied Hatikwa, das Lied der Hoffnung, die spätere Nationalhymne Israels.
Die Flüchtlinge sind angekommen im Land ihrer Sehnsucht – aber bleiben dürfen sie nicht. Um ein deutliches Zeichen gegen die jüdische Einwanderung zu setzen, starten die britischen Behörden die „Operation Oasis“: Anders als bisher üblich werden die Passagiere nicht in Lagern auf Zypern interniert, sondern von drei Gefangenenschiffen nach Europa zurückgebracht.
Ziel: Frankreich. Dort weigern sich nahezu sämtliche Passagiere, von Bord zu gehen – nur 130 nehmen ein Asylangebot der Pariser Regierung an. Die übrigen lassen sich auch von der Drohung nicht schrecken, dass sie andernfalls nach Deutschland gebracht werden, dem Land, in dem viele von ihnen Furchtbares erlitten haben. Obwohl die Situation auf den Schiffen menschenunwürdig ist – die französische Zeitung „L’Humanité“ spricht vom „schwimmenden Auschwitz“ – harren die Flüchtlinge aus.
Zustände an Bord sind furchtbar: „Schwimmendes Auschwitz“
Womit wohl keiner gerechnet hat: Die Briten machen ihre Drohung tatsächlich wahr. Die Schiffe nehmen Kurs auf Hamburg, wo am 8. September 1947 Schriftsteller Ralph Giordano zuschaut, wie die völlig erschöpften Gefangenen unter dem Einsatz von Schlagstöcken von Bord getrieben werden. Verstörende Bilder gehen um die Welt, von britischen Soldaten, die auf Juden einschlagen, und gleichzeitig von britischen Offizieren, die sich um Verletzte kümmern, weinende Kinder trösten und alten Frauen beim Tragen ihres Koffers helfen.
Von Hamburg aus werden die Juden in Zügen mit vergitterten Fenstern nach Lübeck gebracht und von dort geht es weiter per Lkw ins Lager Pöppendorf im Waldeshusener Forst. Es ist mit elf Wachtürmen, einem zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun, Scheinwerfern mit Flutlicht und patrouillierenden Soldaten gesichert. „Ich hatte das Gefühl, wieder zurück in Nazi-Deutschland zu sein“, so eine Zeitzeugin. „Hunde, Stacheldraht und dauernd diese Maschinenpistolen. Das Einzige, was sie nicht getan haben: Sie haben uns nicht umgebracht.“
Mit großer Anteilnahme verfolgt die Weltöffentlichkeit das Schicksal der „Exodus“-Flüchtlinge. Es hagelt international Kritik an Großbritannien. Sogar US-Präsidenten Harry S. Truman weist seinen Botschafter in London an, der britischen Regierung sein Unverständnis zum Ausdruck zu bringen. So kommt es, dass die Briten die Gefangenen nach wenigen Wochen wieder freilassen. Und nicht nur das. Der „Exodus“-Skandal hat zur Folge, dass Großbritannien seine Verantwortung als Mandatsmacht Palästinas abgibt und dessen Zukunft in die Hände der Vereinten Nationen legt.
„Ich hatte das Gefühl, wieder zurück in Nazi-Deutschland zu sein“
Am 29. November 1947 ist dann der große Moment gekommen: Die UN-Vollversammlung stimmt der Teilung des Mandatsgebiets in einen jüdischen und einen arabischen Teil zu. Was so viel bedeutet wie: Die Juden bekommen ihren eigenen Staat. Der Westen begrüßt das, die arabische Welt fühlt sich verraten. Der Nahostkonflikts, der bis heute acht Kriege ausgelöst hat und immer noch immer gärt, beginnt damals.
Für die Juden geht ein Traum in Erfüllung. Als am 14. Mai 1948 die letzten britischen Soldaten Palästina verlassen, ruft David Ben Gurion, der erste israelische Ministerpräsident, in Tel Aviv den Staat Israel aus. Heute sind sich Historiker sicher: Ohne das Drama um das Flüchtlingsschiff „Exodus“ wäre dies so nicht denkbar gewesen, nicht zu diesem frühen Zeitpunkt. Und so hat sich die „Exodus“ tief im kollektiven Gedächtnis Israels verankert, gehört zum Gründungsmythos des Landes.
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Geschichte der „Exodus“: In Israel Teil des Gründungsmythos
Hierzulande ist die Geschichte dieses Schiffes und seiner Passagiere dagegen seltsamerweise völlig in Vergessenheit geraten: An den Landungsbrücken – am Eingang zur Brücke 3 – findet sich zwar eine unscheinbare Messingtafel, die aber kaum beachtet wird.