Verfolgung, Gefängnis, Tanzverbot: Wie Hamburgs Schwule kriminalisiert wurden
Als sich am 8. Mai 1945 das NS-Regime dort wiederfand, wo es hingehörte, nämlich auf dem Müllhaufen der Geschichte, da bedeutete das: Freiheit. Freiheit für Juden, für Kommunisten, für Sozialdemokraten. Freiheit für alle, die bis dahin von Gestapo, SA und SS gejagt worden waren. Nur für Schwule war das „Dritte Reich“ noch nicht zu Ende.
Denn der bereits seit 1872 gültige Paragraf 175 behielt in der jungen Bundesrepublik weiter Gültigkeit, und zwar in der von den Nazis verschärften Version. Zwei Hamburger Homosexuelle, der Kaufmann Oskar Kertscher und der Koch Günther Roebe, gingen dagegen an, versuchten der Homosexuellen-Verfolgung ein Ende zu setzen. Sie zogen 1951 bzw. 1952 vors Bundesverfassungsgericht – und scheiterten. Die höchsten deutschen Richter urteilten 1957, dass der Paragraf 175, der „Unzucht zwischen Männern“ unter Strafe stellte, mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Als sich am 8. Mai 1945 das NS-Regime dort wiederfand, wo es hingehörte, nämlich auf dem Müllhaufen der Geschichte, da bedeutete das: Freiheit. Freiheit für Juden, für Kommunisten, für Sozialdemokraten. Freiheit für alle, die bis dahin von Gestapo, SA und SS gejagt worden waren. Nur für Schwule war das „Dritte Reich“ noch nicht zu Ende.
Denn der bereits seit 1872 gültige Paragraf 175 behielt in der jungen Bundesrepublik weiter Gültigkeit, und zwar in der von den Nazis verschärften Version. Zwei Hamburger Homosexuelle, der Kaufmann Oskar Kertscher und der Koch Günther Roebe, gingen dagegen an, versuchten der Homosexuellen-Verfolgung ein Ende zu setzen. Sie zogen 1951 bzw. 1952 vors Bundesverfassungsgericht – und scheiterten. Die höchsten deutschen Richter urteilten 1957, dass der Paragraf 175, der „Unzucht zwischen Männern“ unter Strafe stellte, mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Polizei und Justiz verfolgten „Unzucht zwischen Männern“ auch noch nach 1945
Danach handelten Polizei und Justiz dann auch, machten vor allem in den 50er Jahren regelrecht Jagd auf sogenannte „175er“, wie Homosexuelle abfällig genannt wurden. Allein zwischen 1950 und 1969 eröffneten bundesdeutsche Staatsanwaltschaften mehr als 100.000 Ermittlungsverfahren gegen Schwule. 50.000 von ihnen wurden vor Gericht rechtskräftig verurteilt. Sechs Monate, acht Monate, zwölf Monate, 15 Monate: Für so lange Zeit gingen Männer ins Gefängnis – wegen ihrer sexuellen Orientierung. Viele verloren ihren Job, mussten ihre Karriere an den Nagel hängen. Nicht wenige nahmen sich das Leben, weil sie es nicht mehr aushielten.

Umso bemerkenswerter ist das, was am 22. Juni 1951 der Hamburger Richter Fritz Valentin tat. Sein sogenanntes Drei-Mark-Urteil schrieb Rechtsgeschichte. Valentin, der sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs als 16-Jähriger freiwillig an die Front gemeldet und als Jude die Nazi-Zeit in der Emigration in Großbritannien überstanden hatte, kehrte 1946 in seine Heimatstadt zurück, wurde erneut Richter – und dürfte in der Nachkriegszeit einer der ganz wenigen Juristen in Hamburg gewesen sein, die nicht mit den Nazis gemeinsame Sache gemacht hatten oder selbst Nazis waren. Sein Humanismus, seine geistige Unabhängigkeit spiegelte sich auch in dem Urteil wider, um das es hier geht.
Richter Valentins „Drei-Mark-Urteil“ kam einem Freispruch gleich
Landgerichtsdirektor Valentin hatte im Juni 1951 zusammen mit seinen Richterkollegen Wartemann und Schleusener über zwei Männer zu entscheiden, die vom Amtsgericht Blankenese wegen Verstoßes gegen Paragraf 175 zu acht Monaten Gefängnis verurteilt und wegen der Höhe der Strafe in Berufung gegangen waren. In zweiter Instanz musste nun Valentin Recht sprechen. Was tat er? Ganz gegen die Gepflogenheiten deutscher Gerichte reduzierte er die Strafe auf das niedrigste Strafmaß, das das Gesetz überhaupt vorsah, nämlich auf einen Tag Gefängnis – umgerechnet ein Tagessatz von drei D-Mark. Das kam einem Freispruch gleich, was damals für gewaltiges Aufsehen sorgte. Richter Valentin riskierte seine Karriere.

In seiner Urteilsbegründung schrieb er, dass die beiden Angeklagten zwar nach dem Gesetz bestraft werden müssten, der Unrechtsgehalt ihrer Taten aber als gering anzusetzen sei. Das Gesetz, so Valentin, erwarte von einem Homosexuellen, „seinen Trieb zu unterdrücken“. Damit verlange es von diesem Personenkreis etwas, was weit über die Anforderungen „hinausgeht, die das Gesetz sonst in seinen Geboten und Verboten an den Menschen richtet“.
Weiter schrieb Valentin, strafmildernd sei zu berücksichtigen, dass die Angeklagten erwachsene Männer seien, außerdem habe die „Tat“ in privaten Räumen stattgefunden, es sei weder „Verführung“ im Spiel gewesen noch habe es sich um Prostitution gehandelt, und ein Abhängigkeitsverhältnis liege auch nicht vor.
Anders als die Staatsanwaltschaft sah Valentin in dem Umstand, dass die Handlungen „nicht auf einen Partner beschränkt“ gewesen und dass sie in „besonderen Formen“ vollzogen worden seien, keine Merkmale für eine Strafverschärfung.
„Im Gefängnis in einem noch reichlicheren Maß Gelegenheit zu gleichgeschlechtlicher Betätigung“
Auch hinsichtlich des Zwecks einer Bestrafung – nämlich Erziehung, Besserung, Abschreckung, Prävention und Sühne – könne das Gericht nur zu einer milden Beurteilung kommen, so Valentin. Denn im Gefängnis hätten die Angeklagten in einem „noch reichlicheren Maße“ Gelegenheit zu „gleichgeschlechtlicher Betätigung“.

„Um einer falschen Auslegung“ seines Urteils vorzubeugen, betonte Valentin ausdrücklich, dass die „besonders milde Beurteilung“ in diesem Fall nicht verallgemeinert werden dürfe. Valentin vermied es im Interesse der Angeklagten gewiss ganz bewusst, in der Urteilsbegründung den Paragrafen 175 offen infrage zu stellen – andernfalls wäre sein Urteil möglicherweise wieder kassiert worden.
Wurde es nicht. Die Staatsanwaltschaft legte keine Revision ein.
Als Valentin am Tag nach dem Urteil ins Gericht kam, war sein Arbeitszimmer voll mit Blumen. Homosexuelle Männer hatten zum Dank unzählige Sträuße für ihn abgegeben. Valentin ließ sie sofort in ein Altersheim bringen, um jeden Verdacht der Bestechlichkeit zu vermeiden
Bundesweit bekannt wurde das Urteil, weil die Hamburger Schwulenzeitschrift „Die Freunde“ sofort einen Sonderdruck veröffentlichte und diesen bundesweit an Richter, Staatsanwälte und Medien verschickte. Titel: „Bisherige Rechtsprechung durchbrochen!“ In der Einleitung ist von einer „Bresche“ die Rede, „die durch ein mutiges Gericht in die bisherige Rechtsprechung geschlagen wurde“.
1961 sprach das Bezirksamt Mitte ein Tanz-Verbot gegen Schwule aus

Das Urteil machte vielen Schwulen Mut. Aber die Hoffnung, es werde sich jetzt endlich etwas ändern, platzte sehr schnell. Mit seiner liberalen und humanen Sichtweise blieb Valentin in Juristenkreisen noch lange allein.
Die Jagd auf Schwule ging unvermindert weiter. Sie verschärfte sich sogar noch. Eine Fahndungskommission mit dem Namen „Homo“ wurde gegründet. Fahnder in Zivil beobachteten das Treiben in den Schwulenkneipen, die sich vor allem in der Neustadt und rund um den Großneumarkt befanden. Auf diese Weise hofften die Strafverfolger, immer genau informiert zu sein über Veränderungen in „homosexuellen Verkehrskreisen“, beim „Strichjungen-Unwesen“ und beim „Transvestiten-Unwesen“.

1961 stellten Polizeibeamte der KK II D 4 bei einer routinemäßigen Überprüfung von 34 Schwulenlokalen fest, dass dort Männer „in geradezu widerwärtiger Weise miteinander tanzen“. Aufgrund dieses Berichts erteilte das Wirtschafts- und Ordnungsamt dem Inhaber des Lokals „Bohème“ am Valentinskamp die Auflage, das Tanzen zu unterbinden. „Durch das Tanzverbot sollten homosexuelle Cafés unwirtschaftlich gemacht werden“, sagt Ulf Bollmann, Archivar des Hamburger Staatsarchivs, der 2013 gemeinsam mit dem Historiker Gottfried Lorenz die Ausstellung „Liberales Hamburg? Homosexuellen-Verfolgung durch Polizei und Justiz nach 1945“ konzipiert hatte.
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Gegen das Tanzverbot reichten die Wirte des „Bohème“, der „Capri-Bar“, der „Roxi-Bar“ sowie des „Stadtcasinos“ eine Sammelklage ein, die das Hamburger Verwaltungsgericht am 26. Oktober 1961 mit der Begründung zurückwies, „dass der Tanz unter Männern, wie er in den Homo-Lokalen zelebriert wurde, gegen die guten Sitten verstößt“. Daraufhin blieben die Gäste weg, viele Bars kamen in finanzielle Schwierigkeiten und mussten schließen.

Der Chef des „Neu-Stadtcasinos“ am Alten Steinweg – Werner Landers, genannt „Therese“ – hatte 1963 eine Idee, wie er den Hamburger Behörden ein Schnippchen schlagen konnte. Nachdem auch er wegen Verstoßes gegen das Tanzverbot eine Strafe von 1800 Mark hatte zahlen müssen, begann er, einmal monatlich für seine Gäste Busfahrten ins tolerantere Hannover zu organisieren. Dort, im „Wielandseck“, konnten Schwule dann nach Lust und Laune tanzen.
Großer Sport unter Hetero-Jugendlichen: das „Schwulenklatschen“
Es waren nicht allein Polizei, Justiz und Behörden, die Homosexuellen das Leben schwer machten. In den 50er und 60er Jahren war Homophobie sehr verbreitet in der Gesellschaft. Für manche jungen Hetero-Männer stellte das sogenannte „Schwulenklatschen“ einen großen „Spaß“ dar. Sie lauerten an typischen Gay-Treffpunkten wie beispielsweise am Dammtorbahnhof Homosexuellen auf, gaben vor, sexuellen Kontakt zu suchen – und wer darauf einging, wurde nicht nur zusammengeschlagen, sondern anschließend zur Polizei gebracht und angezeigt.
Die Polizei tolerierte diese Praxis ganz offensichtlich, ja, befürwortete sie sogar. Zumindest unternahm sie nichts dagegen. Es ist überliefert, dass ein Polizist der Revierwache an der Feldbrunnenstraße 1947 zu jugendlichen Homosexuellen-Jägern sagte: „Für heute ist Schluss, Jungs, bringt morgen mehr.“

Für Homosexuelle, die während des Nazi-Regimes inhaftiert worden waren, bedeutete der Fortbestand des Paragrafen 175, dass ihnen eine Anerkennung als NS-Opfer versagt blieb. Wer nach 1945 einen Antrag auf Wiedergutmachung stellte, was ohnehin nur wenige wagten, wurde bitter enttäuscht. Nach dem Bundesentschädigungsgesetz hatten nur politisch und rassisch Verfolgte Anspruch auf eine Entschädigung. Nach Ansicht der Bundesregierung waren Homosexuelle keine „echten Gegner“ des NS-Regimes gewesen. Nicht einmal diejenigen wurden als NS-Opfer anerkannt, die von Nazi-Ärzten kastriert worden waren. Den Betroffenen wurde vorgehalten, sie hätten dem ja zugestimmt.
Wie eine solche Zustimmung zustande kam, zeigt der Fall des 1908 in Hamburg geborenen Büroangestellten Gustav Pannier, der zuerst 1937 und dann erneut 1941 wegen Verstoßes gegen Paragraf 175 verhaftet wurde. Er wurde vor die Wahl gestellt, entweder nach Verbüßung seiner Haftstrafe ins KZ eingeliefert zu werden – oder sich kastrieren zu lassen. Daraufhin beantragte er 1941 die Entmannung, die dann 1942 im Zentrallazarett des Untersuchungsgefängnisses Holstenglacis vorgenommen wurde.

Schwulen NS-Opfern wurde eine Entschädigung versagt
Anträge auf Wiedergutmachung seiner Leiden wurden nach dem Krieg mehrfach abgelehnt. Offenbar hatte Gustav Pannier 1946 die Hoffnung, bei Gesundheitssenator Friedrich Dettmann auf Verständnis zu stoßen – der war bis 1933 KPD-Bürgerschaftsabgeordneter gewesen und selbst NS-Verfolgter. Ihn bat Pannier um eine Anstellung als Bürokraft in der Behörde. Die Antwort des Senators kam einer Ohrfeige gleich: Wie er es wagen könne, so der Senator in einem Brief an Gustav Pannier, den Versuch zu unternehmen, durch seine Fürsprache einen besseren Posten zu ergattern. „Vergessen Sie doch nicht, dass Sie nach dem gesunden Volksurteil mit Recht bestraft sind, ganz gleich unter welchem Regime. Sie scheinen der irrigen Auffassung zu sein, dass Kommunisten irgendwie doch den homosexuellen Standpunkt teilen.“ Dettmann schloss mit den Worten, dass für ihn Homosexuelle „die abscheulichsten Kreaturen der Menschheit“ seien.

Ab Mitte der 60er Jahre zeichnete sich endlich so etwas wie ein Wertewandel in der Gesellschaft ab. Das führte zu mehr Toleranz Homosexuellen gegenüber. Die Zahl der Verurteilungen von sogenannten 175ern nahm deutlich ab. 1969 war es dann endlich so weit: Fast 100 Jahre nach Einführung des Paragrafen 175, 34 Jahre nach dessen Verschärfung durch die Nazis und 20 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik verabschiedete der Bundestag eine Reform des Sexualstrafrechts.
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Zwar blieb der Paragraph 175 noch bestehen, aber die Bestimmungen wurden deutlich geändert: Von nun an war einvernehmlicher Sex zwischen volljährigen Männern erlaubt. Zufall oder nicht – die neuen Regelungen entsprachen ziemlich genau dem Geist der Urteilsbegründung von Richter Valentin aus dem Jahr 1951.
1969 wurde der Paragraf 175 liberalisiert, 1994 ganz abgeschafft
Unter der von Willy Brandt (SPD) geführten sozialliberalen Koalition erfolgte 1973 eine weitere Liberalisierung des Paragrafen 175. Strafbar war nur noch Sex mit Minderjährigen, wobei das sogenannte Schutzalter von 21 auf 18 Jahre gesenkt wurde.
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Danach dauert es noch einmal 21 Jahre, bis der Paragraf 175 am 11. Juni 1994 ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde.

2002 ging der Bundestag daran, zunächst die Unrechtsurteile aufzuheben, die auf Grundlage des Paragrafen 175 während der Nazi-Zeit gefällt worden waren. 2017 hoben die Volksvertreter auch die Urteile auf, die nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen ergangen waren. Den Betroffenen wurde eine Entschädigung zugesprochen: 3000 Euro pro Urteil und 1500 Euro pro angefangenem Jahr des Freiheitsentzugs. Nicht viel. Aber immerhin eine Geste.