Der Morgen, als die Gestapo kam: Der Untergang von Hamburgs Chinatown
Der Duft von Ingwer, Soja und grünem Tee liegt in der Luft – und manchmal mischt sich auch ein Hauch Opium darunter. Über den chinesischen Tabak- und Gemüsegeschäften, den chinesischen Garküchen und den chinesischen Wäschereien prangen Schriftzeichen, die die wenigsten Mitteleuropäer entziffern können. Es gibt auch chinesische Tattoo-Studios und Herbergen für chinesische Seeleute. So sah sie Anfang des 20. Jahrhunderts aus: die Schmuckstraße auf St. Pauli – Hamburgs Chinatown. Das Leben blühte dort, bis die Nazis dem exotischen Viertel den Todesstoß versetzten.
Der Duft von Ingwer, Soja und grünem Tee liegt in der Luft – und manchmal mischt sich auch ein Hauch Opium darunter. Über den chinesischen Tabak- und Gemüsegeschäften, den chinesischen Garküchen und den chinesischen Wäschereien prangen Schriftzeichen, die die wenigsten Mitteleuropäer entziffern können. Es gibt auch chinesische Tattoo-Studios und Herbergen für chinesische Seeleute. Auf dem Trottoir bewegen sich hauptsächlich Menschen mit exotischer Kleidung und fremdem Aussehen. So sah sie Anfang des 20. Jahrhunderts aus: die Schmuckstraße auf St. Pauli – Hamburgs Chinatown.
Bald 80 Jahre sind vergangen, seit die Nazis dem Viertel den Todesstoß versetzten. Die sogenannte „Chinesenaktion“ am 13. Mai 1944 war von langer Hand vorbereitet. Rund 130 chinesische Männer wurden verhaftet, ins KZ geworfen oder in Gefängnisse gesperrt, gedemütigt, zur Zwangsarbeit gezwungen und misshandelt. Von denen, die die Torturen überlebten, wollten die meisten nach dem Krieg nur noch weg.
Die Hong-Kong-Bar, das letzte Überbleibsel des Chinesenviertels

Daher erinnert heute nicht mehr viel an Hamburgs Chinesenviertel. Geblieben sind ein paar Stolpersteine mit den Namen derjenigen, die dem Terror der Nazis zum Opfer fielen. Geblieben ist ein chinesisches Gräberfeld auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Und es gibt noch die „Hong Kong Bar“ am Hamburger Berg, eine dunkle Spelunke, wo wie eh und je junge Leute die Nacht zum Tage machen.
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Der Gründer der „Hong Kong Bar“ war 1926 nach Hamburg gekommen. Chong Tin Lam überlebte das Konzentrationslager schwer gezeichnet und blieb nach Kriegsende trotz dieser furchtbaren Erfahrung seinem St. Pauli treu. Als er 1983 starb, übernahm Tochter Marietta Solty die Kneipe. Bis zu ihrem Tod 2021 wurde sie nie müde, die Erinnerung an ihren Vater und an Hamburgs Chinatown wachzuhalten. Immer wieder gab sie Interviews.

Die Geschichte der Chinesen in Hamburg – sie begann Ende des 19. Jahrhunderts, und zwar genau zu der Zeit, als die Segelschiffe durch die Dampfer abgelöst wurden und Reedereien wie Rickmers, Norddeutscher Lloyd und Hapag für die schwere Arbeit unter Deck hartgesottenes Personal benötigten: Damals ließen sich junge Männer aus der südchinesischen Provinz Guandong, die der Armut ihrer Dörfer entfliehen wollten, als Heizer und Trimmer anheuern, manche auch als Wäscher, Köche oder Stewards.
Bei deutschen Seeleuten waren sie verhasst, denn die Chinesen erhielten nur ein Drittel der üblichen Heuer und standen im Ruf, den Einheimischen die Arbeitsplätze wegzunehmen. Chinesen galten einerseits als unterwürfig und genügsam, andererseits als hinterhältig und verschlagen.
Um 1890 tauchten die ersten Chinesen auf St. Pauli auf – es waren Seeleute

Ab den 1890er Jahren tauchten die ersten Chinesen in St. Pauli auf. Weil die Einheimischen den Anblick von Asiaten nicht gewohnt waren, erregten chinesische Seeleute Aufsehen, wenn sie Landgang hatten und abends durch das Amüsierviertel zogen: „Ganze Rudel von Chinesen“ treffe man jetzt auf St. Pauli an, so stellte 1901 die sozialdemokratische Tageszeitung „Hamburger Echo“ fest. Der abfällige Unterton war kaum zu überhören.
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Die meisten Deutschen betrachteten Chinesen als minderwertig. Weil die Behörden fürchteten, die Fremden könnten Seuchen einschleppen, achtete die Polizei penibel darauf, dass die chinesischen Seeleute die Abfahrt ihrer Schiffe ja nicht verpassten. Beantragte mal einer die Genehmigung, sich in der Stadt niederzulassen, bekam er eine schroffe Abfuhr. So gelang es den Behörden, die Gründung eines Chinesenviertels zu verhindern. Noch.

Ab 1921 ließen sich in größerer Zahl Chinesen auf St. Pauli nieder
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Karten neu gemischt: Die Regierungen in Berlin und Peking einigten sich 1921 auf ein bilaterales Friedensabkommen. Ab da konnten sich Deutsche in China und Chinesen in Deutschland wirtschaftlich frei betätigen. „Für die chinesischen Seeleute bot sich damit erstmals die Möglichkeit, der körperlich auszehrenden Arbeit als Heizer zu entkommen und wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen“, so der Hamburger Historiker Lars Amenda. Die Chinesen machten von dieser Chance reichlich Gebrauch: Besorgt stellten Hamburgs Behörden Mitte der 20er Jahre fest, dass „Chinesen niederen Standes in ständig wachsender Zahl“ in die Stadt drängten.

„Haus bei Haus ist von der gelben Rasse bewohnt, jedes Kellerloch hat über oder neben dem Eingang seine seltsamen Schriftzeichen“, so beschreibt 1930 Heimatdichter Ludwig Jürgens die Schmuckstraße auf St. Pauli. „Die Fenster sind dicht verhängt. Alles trägt den Schleier eines großen Geheimnisses. Geht ein Mensch über die Straße, vielfach mit kurzen, abgehackten Schritten, so ist es ein Chinese. Niemand weiß, was diese Menschen unter sich in den Wohnungen treiben. Ob sie wirklich dem Opium frönen oder der zweiten großen Nationalleidenschaft, dem Glücksspiel, nachgehen, keiner vermag es zu sagen.“
Kurt Tucholsky genoss die Exotik, die Polizei witterte die „gelbe Gefahr“
Unter chinesischer Leitung entstanden in den 20er Jahren auch solche Etablissements auf St. Pauli, die zu ihrer Kundschaft nicht allein Chinesen zählten, sondern sich ebenfalls bei deutschem und internationalem Publikum großer Beliebtheit erfreuten: beispielsweise das „Café und Ballhaus Cheong Sing“, das 1924 an der Großen Freiheit eröffnete und das über eine Tanzkapelle verfügte, die modischen Jazz zum Besten gab. „Das Fremde in der Nähe zog uns an“, erinnert sich Max Tau, ein Hamburger Jude, der in den 20er Jahren als Student viele Abende dort verbrachte. Kurt Tucholsky, Journalist, Schriftsteller und Nobelpreisträger, gehörte ebenfalls zu den Gästen. „Im chinesischen Restaurant sangen sie beim Tanzen, die ganze Belegschaft, einstimmig und brausend – eine Kleine hatte eine Kehle aus Blech – es klang wie aus einer Kindertrompete.“

Die einen genossen die multikulturelle Atmosphäre, sahen darin eine Bereicherung – die anderen hielten die Chinesen für eine Plage, faselten was von „gelber Gefahr“. Hamburgs Polizei neigte dazu, in jedem Chinesen einen Schmuggler oder einen Opiumdealer zu sehen. Die Ordnungshüter setzten alles daran, diesen vermeintlichen Sumpf auszutrocknen. Bei ihren Razzien wurden sie dann tatsächlich auch mal fündig: So flog im August 1921 am Pinnasberg eine als Wäscherei und Gemüsegeschäft getarnte Opiumhöhle auf, und im Oktober 1922 wurde eine Kellerkneipe im Haus Schmuckstraße 7 durchsucht, die, wie es hieß, aus zwölf ineinander verschachtelten Räumen bestand. Dort wurde Opium geraucht und Glücksspiel betrieben.
Die Legende vom geheimen Tunnelsystem unter St. Pauli hielt sich hartnäckig
Etwa zur selben Zeit machte in Hamburg eine Legende die Runde: Dass die Chinesen in die Unterwelt von St. Pauli ein geheimes Tunnelsystem gegraben hätten, um dort in großem Stil und verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit ihren kriminellen Geschäften nachzugehen. Zeitungen heizten die Gerüchteküche noch an. Die Polizei nahm dieses Hirngespinst sogleich für bare Münze, durchsuchte mehrere Gebäude – und fand nichts. Seltsam an der Geschichte ist, dass zur gleichen Zeit auch in San Francisco und New York die Mär von chinesischen Geheimtunneln im Umlauf war. So wie in Hamburg hausten auch dort viele Chinesen in Kellerwohnungen. Das hat – hüben wie drüben – die Fantasie der Nicht-Chinesen beflügelt.

Da es sich bei den meisten chinesischen Migranten um ehemalige Seeleute handelte, waren so gut wie keine Frauen darunter. Die jungen Männer waren also darauf angewiesen, unter einheimischen Damen auf Brautschau zu gehen. Es kam zu etlichen deutsch-chinesischen Liaisons: Fok Kam Sing etwa, der im Haus Schmuckstraße 18 und später in der Talstraße Restaurants betrieb, lernte beim Bummeln im Alsterhaus Hertha Witte kennen und lieben, bekam mit ihr drei Kinder und nach dem Krieg, als es endlich erlaubt war, heirateten die beiden.
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Ein anderes Beispiel: Chen Shing John, Inhaber zweier Restaurants und zweier Wäschereien. Er verliebte sich in die 27 Jahre jüngere Elise Vogelsang, die aus Chemnitz zugezogen war, und setzte zwei Kinder mit ihr in die Welt: Jonny und Renate. Die Eltern blieben bis zum Tod des Mannes ein Paar.
Am 13. Mai 1944 rückten Gestapo und Polizei an und warfen die Chinesen ins KZ
Eine Zäsur für die Chinesen stellte das Jahr 1933 dar: Die Nazis, die nun an der Macht waren, übten Druck auf die Reedereien aus, die daraufhin 600 chinesische Seeleute entließen. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs änderte sich das Leben der Migranten drastisch: 1941 erklärte China Nazi-Deutschland den Krieg – von da an galten alle chinesischen Staatsangehörigen als „feindliche Ausländer“. Durchsuchungen und Festnahmen häuften sich. Höhepunkt war die sogenannte „Chinesenaktion“ am 13. Mai 1944.

Es war ein warmer sonniger Frühlingstag. Stiefel knallten auf das Pflaster, Kommandos zerrissen die Luft: Auf Anordnung von Albert Schweim, Chef des Gestapo-Referats IV 1 C, das für die Überwachung von Ausländern zuständig war, wurde im Morgengrauen das komplette Chinesenviertel abgeriegelt. 200 Polizisten trieben 129 Männer vor sich her. Ziel: die Davidwache. Von dort wurden die Gefangenen mit Lastwagen in das KZ Fuhlsbüttel verfrachtet, wo Misshandlungen und Folter zum Alltag gehörten.
In einigen Fällen wurden die im Zuge der Aktion verhafteten Frauen als „Chinesen-Dirnen“ dem KZ Ravensbrück überstellt. Zwischen 60 und 80 Männer kamen ins Arbeitserziehungslager „Langer Morgen“ in Wilhelmsburg, wo sie unter furchtbaren Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Terror, mangelhafte Ernährung, fehlende Hygiene und harte Arbeit hatten zur Folge, dass mindestens 17 chinesische Gefangene starben. „Ich erinnere mich gut an einen von ihnen, der krank und völlig geschwächt jeden Tag von seinen Leidensgefährten buchstäblich zur Arbeitsstelle und zurück ins Lager geschleift wurde“, berichtet Mithäftling Gert Beschütz. „Eines Abends wurde er auf einer Schottschen Karre gefahren. Er war tot.“

Mai 1945. Endlich war der Krieg zu Ende. Chong Tin Lam, Besitzer der „Hong Kong Bar“, wurde nach elf Monaten Arbeitslager von alliierten Soldaten befreit. Er erholte sich von dem, was ihm angetan wurde, nie mehr ganz. „Er war ein gebrochener Mann“, so Tochter Marietta Solty.
Chen Shiang John brachte nur noch 37 Kilo auf die Waage, als er 1945 freikam
Auch Chen Shiang John befand sich in einem erbärmlichen körperlichen Zustand, als er 1945 zu seiner Frau und den Kindern zurückkehrte. „Meine Mutter erzählte immer, dass er noch 37 Kilo auf die Waage brachte und sieben gebrochene Rippen hatte“, erzählt Jonny John, der 76-jährige Sohn.

Nach Kriegsende konnten sich lediglich 30 Chinesen dazu durchringen, in Hamburg zu bleiben. Auf eine Wiedergutmachung hofften die NS-Opfer vergeblich. Bei dem, was den Chinesen passiert sei, habe es sich nicht um eine rassistisch motivierte Verfolgung gehandelt, so hieß es in den Ablehnungsbescheiden der Behörde, sondern um „normales polizeiliches Vorgehen gegen verdächtige Ausländer“.