Demütigung, Enteignung, Mord: Dieses Haus birgt ein dunkles Geheimnis
Robert Goldschmidts Stimme bebt, als er von jenem Tag im Jahr 1938 erzählt. „Damals haben meine Großeltern entschieden, ihre Tochter und ihre drei Söhne mit Kindertransporten nach England zu schicken. Einer davon mein Vater.“ Robert Goldschmidt macht eine Pause. Wir spüren, er muss sich ganz schön zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Dann fährt er fort: „Die Entscheidung muss furchtbar schwergefallen sein.“
Robert Goldschmidts Stimme bebt, als er von jenem Tag im Jahr 1938 erzählt. „Damals haben meine Großeltern entschieden, ihre Tochter und ihre drei Söhne mit Kindertransporten nach England zu schicken. Einer davon mein Vater.“ Robert Goldschmidt macht eine Pause. Wir spüren, er muss sich ganz schön zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Dann fährt er fort: „Die Entscheidung muss furchtbar schwergefallen sein.“
Gertrud, so hieß das Mädchen, Lasser, Gabriel und Alfred, Roberts Vater, das waren die Söhne. Dank der Entscheidung ihrer Eltern überlebten sie alle den Zweiten Weltkrieg, zahlten aber einen hohen Preis. „Die Kinder haben ihre Eltern nie mehr wiedergesehen.“ Als Robert Goldschmidt das ausspricht, brechen bei ihm alle Dämme.

Besuch aus London: Ihre Eltern und Großeltern lebten einst in diesem Haus
Wir sind in der Gegend, wo Hamburg so ziemlich am schönsten ist: in Rotherbaum. Moorweidenstraße, Ecke Feldbrunnenstraße. Direkt gegenüber vom Elysée-Hotel steht es: das dreistöckige, prächtige weiße Gründerzeithaus, das den Goldschmidts gehörte. Heute Sitz des Wasserstraßen- und Schifffahrsamtes Elbe-Nordsee. Auf der Homepage der Behörde steht lapidar: „Mit dem 1. September 1939 übernahm das Deutsche Reich, vertreten durch den Reichsminister des Inneren, Gebäude und Grundstück.“ Kein Wort von den Verbrechen, die sich hier abgespielt haben. Kein Wort über das Geheimnis, das dieses Haus birgt.
Das könnte Sie vielleicht auch interessieren: Dieser Star des FC St. Pauli floh vor den Nazis und ging zur Fremdenlegion
Die Geschichte der Goldschmidts wäre wohl endgültig dem Vergessen anheimgefallen, hätte Hamburg nicht diesen verwegenen Plan aus der Schublade geholt: den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge. Robert Goldschmidt, der 58-jährige Investmentmanager aus London, las in der Zeitung davon und nahm gleich darauf mit Daniel Sheffer in Hamburg Kontakt auf, dem Mann, der den Wiederaufbau der Synagoge zu seinem Lebenswerk gemacht hat.
Sheffer sagt, vor etwa zwei Jahren habe sein Telefon geklingelt. „Robert war am Apparat und hat mir erzählt, wie begeistert er sei von unserem Vorhaben, schließlich sei es die Synagoge seiner Großeltern und Urgroßeltern gewesen. Nebenbei erwähnte er, wie sehr es ihn schmerzt, dass es an dem Haus, das die Nazis seinen Vorfahren raubten, nicht einmal eine Erinnerungstafel gibt.“ Sheffer versprach, sich darum zu kümmern. Er hielt Wort. Dazu später mehr.

Familie Goldschmidt lebte 500 Jahre in Deutschland – bis die Nazis sie vertrieben
Die Goldschmidts. Schon seit 500 Jahren lebt diese Familie in Deutschland und ist seit dem 17. Jahrhundert in Hamburg ansässig. Samson Goldschmidt, der es als Versicherungsmakler – Spezialgebiet Schiffsversicherungen – zu Reichtum und großem Ansehen brachte, wuchs in der Straße Bei den Hütten auf, genauso wie seine elf Geschwister. Zu jener Zeit konnten sich Juden noch nicht aussuchen, wo in Hamburg sie sich ansiedelten. Ausschließlich in fünf Straßen der Alt- und in 14 Straßen der Neustadt waren sie geduldet.
Das könnte Sie vielleicht auch interessieren: Der Untergang von Hamburgs Chinatown
Erst 1860 änderte sich das. Im selben Jahr fiel auch die Torsperre. Innerhalb der Stadt kam es zu Wanderungsbewegungen: Die überwiegend orthodoxen und kleinbürgerlichen Juden siedelten sich jetzt vor allem im Grindelviertel an, während es die liberalen und assimilierten Juden, die mehrheitlich der Mittel- und Oberschicht angehörten, nach Harvestehude und in den alsternahen Teil Rotherbaums zog.

So auch Samson Goldschmidt, der mit seiner Familie das Haus Moorweidenstraße 14 bezog. Dort lebte und arbeitete er: Im Erdgeschoss waren neben den Wohnräumen die Kontore des Versicherungsunternehmens untergebracht, in das auch die Söhne David und Hermann nach Ende ihrer Schulzeit eintraten.
Nach dem Regierungsantritt Adolf Hitlers 1933 begann die systematische Entrechtung und Demütigung von Juden. Los ging es damit, dass die Patriotische Gesellschaft 1935 in vorauseilendem Gehorsam beschloss, alle jüdischen Mitglieder aus ihren Reihen auszuschließen. Auch bei Samson Goldschmidt wurde keine Ausnahme gemacht.
Juden ausplündern und ihnen das Leben zur Hölle machen – die Strategie der Nazis
Viele Juden hofften, dass der Spuk bald vorbei sein würde. Auch die Goldschmidts nahmen die Nazis anfangs nicht recht ernst. Das änderte sich spätestens am 9./10. November 1938, als es zu furchtbaren Pogromen kam. Nazis schlugen die Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte ein, schändeten unter anderem die Bornplatzsynagoge und steckten sie in Brand.

Für die Schäden, die Nazis angerichtet hatten, sollten Juden zahlen: Nazi-Deutschland setzte eine Kollektivstrafe von einer Milliarde Reichsmark fest und nahm jedem Juden, der mehr als 5000 Mark besaß, 20 Prozent seines Besitzes weg. Auch die Goldschmidts wurden gezwungen, diese sogenannte „Judenvermögensabgabe“ zu entrichten.
Die Juden nach Strich und Faden auszunehmen und ihnen gleichzeitig das Leben zur Hölle zu machen, sodass sie das Land verlassen – das war die Strategie der Nazis: Juden durften nichts mehr, nicht mal mehr auf Parkbänken oder in Straßenbahnen Platz nehmen, sie durften keine Schwimmbäder mehr besuchen, keine Radios besitzen, keine Betriebe führen. Schließlich wurden sie gezwungen, ihre Firmen und ihre Immobilien abzustoßen. Arisierung nannte sich das.
Das könnte Sie vielleicht auch interessieren: Warum Hitler diesen 17-jährigen Jungen aus Hamburg hinrichten ließen
Die Goldschmidts hatten inzwischen ihre Entscheidung getroffen: Sie wollten so schnell wie möglich Nazi-Deutschland den Rücken kehren! Samson Goldschmidt hatte keine andere Wahl, als sein wunderschönes Wohn- und Geschäftshaus weit unter Wert an den NS-Staat zu verkaufen. Kaum war dieser Deal unter Dach und Fach, flüchtete Samson nach Amsterdam.
Seine Kinder brachen ebenfalls ihre Zelte in Deutschland ab. Sohn Hermann und dessen Familie waren die Ersten, die ausreisten. Über die Niederlande gelangten sie in die USA. Etwa zur selben Zeit verließen Tochter Recha und ihr Mann Deutschland. Auch ihr Ziel: die Vereinigten Staaten.
David und Ketty Goldschmidt schicken ihre Kinder nach London – und sehen sie nie wieder

Salomons Sohn David und dessen Frau Ketty gelang die Flucht nicht. Sie schafften es im Herbst 1938 bzw. im April 1939 gerade noch, ihre drei Söhne und die Tochter mit Kindertransporten nach England zu schicken. Aber ihr Plan, wenige Wochen später zu folgen, scheiterte an der Gestapo. David Goldschmidt wurde verhaftet und eingesperrt. Als er mehrere Monate später freikam, befand sich Deutschland im Krieg – die Grenzen waren geschlossen, eine Flucht jetzt nicht mehr möglich. Im Juni 1943 wurden David Goldschmidt und seine Frau ins Ghetto Theresienstadt deportiert, den „Vorhof zur Hölle“. Sie starben am 28. September 1944 in Auschwitz.
Samson Goldschmidt, der gehofft hatte, in Amsterdam in Sicherheit zu sein, fiel den Nazis doch noch in die Hände: Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs besetzte Hitler-Deutschland die Niederlande, und so wurde der damals 82-Jährige am 9. April 1943 nach Sobibor deportiert und ermordet.

Samson Goldschmidts Enkel Lasser änderte seinen Namen in Leslie, kam kurz nach Kriegsende als Sergeant der britischen Armee nach Hamburg zurück und beantragte 1946 die Rückerstattung des Besitzes seiner Großeltern. Doch Hamburgs Oberfinanzpräsident als Vertreter des neuen deutschen Staates bestritt, dass der Verkauf des Hauses 1938 unter Zwang zustande gekommen war.
Vor 1945 wurden Juden verfolgt und ermordet und nach 1945 über den Tisch gezogen
Am Ende wurde ein fauler Kompromiss gefunden. Die Goldschmidts, die damals nicht die Kraft und auch nicht das Geld hatten, um sich auf einen endlosen Rechtsstreit mit der Bundesrepublik einzulassen, ließen sich 1953 schweren Herzens darauf ein: Gegen eine Zahlung von 25.000 D-Mark verzichteten sie auf ihre Ansprüche.

Dies ist bei weitem nicht der einzige Fall, bei dem es Deutschland nach dem Krieg versäumte, Unrecht wiedergutzumachen. Dieselben Juden, die vor 1945 von den Nazis entrechtet, ausgeplündert und deportiert worden waren, wurden nach 1945 von der jungen Bundesrepublik eiskalt über den Tisch gezogen. Ein Skandal, der in Vergessenheit geraten ist.
Das könnte Sie vielleicht auch interessieren: SS-Männer pinkeln auf die Heilige Schrift
Dass die Bundesrepublik heute an die Opfer des Nazi-Unrechts erinnert, ist deshalb wohl das Mindeste, was die Hinterbliebenen verlangen können. Daniel Sheffer von der Initiative Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge verhandelte monatelang mit Ämtern und Behörden über ein Schild, das daran erinnern soll, wer einst im Haus Moorweidenstraße 14 lebte.

Sheffer setzte sich durch. Vor ein paar Tagen wurde die Gedenktafel im Rahmen einer kleinen Feierstunde eingeweiht: Um sie zu enthüllen, reisten Robert Goldschmidt und seine Schwester, die Mathematik-Lehrerin Aviva Goldschmidt Kaufmann (52), aus London an. Sie waren dankbar und sehr gerührt. Die Art und Weise, wie die Bundesrepublik ihre Familie nach dem Krieg behandelte, thematisierten sie nicht – aus Höflichkeit.
Endlich erinnert eine Gedenktafel an das Schicksal der Goldschmidts
Immerhin wurden sie eingeladen, das Innere des Hauses zu besichtigen, in dem noch so viel an ihre Vorfahren erinnert: prunkvoller Stuck an den Decken, Reste eines alten Wintergartens und ein original erhaltenes wunderschönes Treppenhaus.

Die beiden Besucher aus London hatten etliche alte Fotos im Gepäck. Auf einem Bild ist Urgroßvater Samson Goldschmidt mit seinen Enkeln zu sehen. Sie stehen gemeinsam vor dem Hauseingang. „Unser größter Wunsch ist ein Foto, das uns beide an genau derselben Stelle zeigt“, sagte Robert Goldschmidt zum MOPO-Fotografen. Sekunden später ging dieser Wunsch in Erfüllung.