Was für eine Schauergeschichte: Das dunkle Geheimnis um das „Blutglas“ von Stade
Die Allermeisten, die so ein altes, schäbiges Glas irgendwo in einem Gebüsch finden, würden es nicht beachten oder es in den Müll werfen. Gut, dass sich Dietrich Alsdorf nicht so verhalten hat. Heute ist das zerbrochene Trinkgefäß, das er vor mehr als 50 Jahren als junger Mann entdeckte, eins der schaurigsten Ausstellungsstücke im „Schwedenspeicher“, dem historischen Museum der Stadt Stade. Das Glas, so sind Historiker überzeugt, wurde vor 170 Jahren für ein sehr bizarres Ritual genutzt.
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Die Allermeisten, die so ein schäbiges altes Glas irgendwo in einem Gebüsch finden, würden es nicht beachten oder es in den Müll werfen. Gut, dass Dietrich Alsdorf genau das nicht tat. Heute ist das Trinkgefäß, das er als junger Mann vor mehr als 50 Jahren entdeckte, eines der schaurigsten Ausstellungsstücke im „Schwedenspeicher“, dem historischen Museum der Stadt Stade. Das Glas, so sind Historiker überzeugt, wurde vor 170 Jahren für ein – gelinde gesagt – bizarres Ritual genutzt.
Alsdorf, damals Wehrpflichtiger und Hobbyarchäologe, ging im Sommer 1973 am Rande des Stader Stadtteils Riensförde spazieren, als er neben einem Acker im Gestrüpp das Trinkgefäß fand. Alt sah es aus, es war aus besonders dickem Glas, das bemerkte Alsdorf sofort. Also nahm er es an sich, reinigte es – und stellte es zuhause in den Schrank.
1856 wurde in dem Glas das Blut einer frisch hingerichteten Frau aufgefangen
Dort stand es viele Jahre – bis eines Tages seine Katze dagegen sprang. Das Glas fiel zu Boden und zerbrach. Darüber, dass er es trotzdem weiter in Ehren hielt und nicht in den Müll warf, ist Alsdorf heute froh. Denn inzwischen ist ihm klar geworden, um was für ein außergewöhnliches Stück es sich handelt.
Der 70-jährige Alsdorf ist von Beruf Grabungstechniker. Er hat bis zu seiner Pensionierung beim Kreisarchäologen von Stade gearbeitet. Heute schreibt er historische Romane. Bei seinen Recherchen für ein neues Buch stieß er dabei vor einiger Zeit auf einen Artikel, der im Mai 1856 im „Stader Sonntagsblatt“ erschien und der von der Hinrichtung einer 26-jährigen Magd namens Anna Margaretha Brümmer aus Balje im Kehdinger Land handelt. Die junge Frau war ungewollt schwanger geworden, der Vater wollte von dem Kind nichts wissen, und ganz alleine konnte sie es nicht großziehen – also vergiftete sie es.
Wegen Kindesmordes wurde sie in Stade vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Der Artikel im „Stader Sonntagsblatt“ schildert in aller Ausführlichkeit die Hinrichtung, die am 9. Mai 1856 unter großer Anteilnahme der Bevölkerung stattfand. Darin wird beschrieben, wie aus dem Publikum sechs Personen an den Richtstuhl traten und vor der Todgeweihten Gläser auf dem Erdboden abstellten. Nachdem Scharfrichter Christian Schwarz die Delinquentin mit dem Richtschwert enthauptet hatte, begannen die Gehilfen des Henkers damit, das Blut aufzufangen, das aus dem Rumpf der Getöteten schoss, und füllten es in die bereitstehenden Gläser. Die sechs Personen traten vor, nahmen das Blut in Empfang, tranken es in einem Zug aus, warfen die Gläser fort und eilten davon.
Vor 200 Jahren waren die Menschen überzeugt, dass Blut Krankheiten heilt – vorausgesetzt, es ist frisch
Alsdorf erzählt, wie „elektrisiert“ er war, als er das alles las. Denn der Richtplatz, an dem sich die Hinrichtung von Anna Margaretha Brümmer zutrug, befand sich nur wenige Meter entfernt von der Stelle, wo er 1973 seinen ungewöhnlichen Fund gemacht hat.
Das Blut eines Menschen zu trinken – heute unvorstellbar. Vor 200, 300 Jahren war das aber überhaupt nichts Ungewöhnliches.
Schon die römischen Gladiatoren nahmen das Blut ihrer besiegten Feinde zu sich, weil sie glaubten, deren Kraft gehe dann auf sie über. Im 15. Jahrhundert vertrat der deutsch-schweizerische Arzt Paracelsus die Theorie, dass das Trinken von Blut Krankheiten heilen könne. Vor allem gegen die „Fallsucht“ – heute sprechen wir von Epilepsie – sei es wirksam.
Blut galt damals als besonders heilsam
Die Menschen zu jener Zeit waren davon überzeugt, dass in menschlichen Überresten der Geist des Körpers steckt, von dem sie stammen. Blut galt als besonders heilsam, denn es sei, so die Vorstellung, die Essenz eines Menschen. Allerdings müsse das Blut frisch sein und noch die „Vitalität des Lebens“ enthalten, wenn es wirken soll. Besonders geschätzt wurde das Blut von jungen Männern und Jungfrauen.
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Der Glaube, dass Blut eine Medizin sei, hielt sich länger, als manche denken. Der letzte bekannte Versuch, das Blut einer hingerichteten Person zu trinken, ist aus dem Jahr 1908 überliefert.
Übrigens: Auch andere menschliche Körperteile wurden als Medizin verwendet. Höhepunkt des medizinischen Kannibalismus in Europa waren das 17., 18. und 19. Jahrhundert. Heiß begehrt: ägyptische Mumien. Europäische Ärzte mahlten Mumienteile zu einem Pulver, das als Tinktur gegen inneres Bluten eingenommen wurde.
Menschliche Schädel wurden gemahlen und konsumiert, um Kopfschmerzen zu lindern. Manchmal wurde dieses Pulver mit Schokolade vermischt und als Heißgetränk gegen Schlaganfälle und Blutungen serviert. König Karl II. von England mischte Schädelpulver mit Alkohol zu einem Trank, den er „The King’s Drop“ nannte.
Offene Wunden wurden mit menschlichem Fett behandelt
Die Körperteile frisch Verstorbener waren besonders begehrt. Menschliches Fett wurde benutzt, um äußere Leiden wie offene Wunden zu behandeln. Ärzte tränkten Bandagen in geschmolzenem Fett und legten sie auf Verletzungen, in der Hoffnung, Infektionen abzuwehren.
Zurück zum „Blutglas“ von Stade: Dietrich Alsdorf ist überzeugt, dass es sich bei seinem Glas um eines der Gefäße handelt, die vor 170 Jahren dazu verwendet wurden, das Blut von Anna Margartha Brümmer aufzufangen und zu trinken. Auch die Historiker im Museum „Schwedenspeicher“ halten diese Theorie für absolut wahrscheinlich. Und so haben sie das Glas in ihren Bestand aufgenommen.
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Das „Blutglas“ von Stade war erst kürzlich in einer Ausstellung zu sehen. Besucher konnten kommen, einen Blick darauf werfen und sich bei der Vorstellung, wozu es mal gedient hat, so richtig gruseln.
Übrigens: Die Bücher, die Dietrich Alsdorf, schreibt, sind für Geschichtsinteressierte ziemlich lesenswert. Sein neuestes Werk heißt „Die rote Lena – die wahre Geschichte der ,Giftmörderin‘ Anna Marlene Prink“, 18 Euro, ISNB 978-3-96045-305-5.