Bombenalarm in Hamburg: Noch genug Blindgänger für 125 Jahre
Auch 80 Jahre danach schlummern noch rund 2500 nicht detonierte Bomben in Hamburgs Untergrund. Durchschnittlich 20 werden jährlich entschärft. Der Hamburger Historiker Helmut Stubbe da Luz über die Geschichte des Kampfmittelräumdienstes.
Auch 80 Jahre danach schlummern noch rund 2500 nicht detonierte Bomben in Hamburgs Untergrund. Durchschnittlich 20 werden jährlich entschärft. Der Hamburger Historiker Helmut Stubbe da Luz über die Geschichte des Kampfmittelräumdienstes.
5. Juli 2023, kurz nach 20 Uhr. Die S-Bahn in Richtung Harburg Rathaus muss in Hammerbrook unerwartet stoppen und zurückfahren. Der Grund: In Wilhelmsburg ist eine Fliegerbombe entdeckt worden, die entschärft werden muss. Deshalb ist im Umkreis von 1000 Metern „luftschutzmäßiges Verhalten“ angesagt. Das leuchtet nicht allen Anwohnern und Bahnpassagieren ein. So dauert es Stunden, bis der Detonator aus der Bombe entfernt ist und kontrolliert gesprengt werden kann.

Kein Einzelfall in Hamburg. Auch 80 Jahre nach der „Operation Gomorrha“ werden immer wieder Blindgänger entdeckt. Allein bei den sechs „Gomorrha“-Angriffen zwischen dem 24. Juli und dem 3. August 1943 hatten 2700 Kampfflugzeuge 9400 Tonnen Abwurfmunition über der Stadt ausgeklinkt – mit entsetzlichen Folgen. Jede zweite Wohnung wurde zerstört, rund 42.000 Menschen wurden getötet – mehrheitlich in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli, als sie beim Feuersturm verbrannten oder erstickten. Die Quittungen für die Angriffskriege des NS-Regimes. Die Folgen sind bis heute spürbar, denn ein Teil der Bomben ist damals nicht explodiert.
KZ-Insassen, Zwangsarbeiter und Zuchthäusler mussten im Krieg Bomben entschärfen
Die ersten Luftangriffe auf Hamburg hatte es im Mai 1940 gegeben. Ab da sahen sich die Behörden mit dem Problem von Blindgängern und deren Entschärfung konfrontiert. Jetzt trat der Sicherheits- und Hilfsdienst (SHD) auf den Plan: Er bündelte den Reichsluftschutzbund und weitere Hilfsorganisationen. Sprengkommandos wurden von der Luftwaffe gestellt, an ihrer Spitze stand jeweils ein Feuerwerker. Er hatte Hilfskräfte für körperliche Schwerstarbeit dabei, darunter ortsansässige Handwerker, die für den Kriegsdienst zu alt waren, aber auch Zuchthausinsassen, KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter, darunter sogar Kriegsgefangene.
Das könnte Sie vielleicht auch interessieren: Kinder im Feuersturm – wie die Opfer bis heute leiden
1941 meldete sich Arthur Wolowski, Jahrgang 1918, gelernter Buchdrucker, freiwillig fürs Sprengkommando. Er war homosexuell und saß wegen „widernatürlicher Unzucht“ im Gefängnis. Innerhalb eines Jahres wirkte er dabei mit, 57 Sprengbomben, zwei Minen, 83 Brandbomben und einen Flak-Blindgänger unschädlich zu machen. Strafgefangene genossen gegenüber KZ-Insassen und Zwangsarbeitern das Privileg, nur aufgrund freiwilliger Meldung eingesetzt zu werden. Sie erhielten manchmal kleine Vorteile bei der Lebensmittelverteilung und durften hoffen, ein wenig eher freizukommen.

Am 3. März 1943 traf ein schwerer Angriff die westlichen Vororte von Hamburg, vor allem Rissen und Wedel. Die Bomben waren eigentlich für den Hamburger Hafen gedacht, aber die Zielmarkierungen wurden aus Versehen ein paar Kilometer zu früh abgeworfen. Um 22 Uhr fiel eine Sprengbombe zwischen zwei Villen an der Langelohstraße (Osdorf), unweit der Bahnstrecke Altona–Blankenese. Der Aufschlagzünder versagte, und die Bombe bohrte sich in den weichen Boden, acht Meter tief.
Arthur Wolowski starb am 4. März 1943, als ein Blindgänger detonierte
Während des Krieges kümmerten sich die Sprengkommandos vorwiegend um Blindgänger, die an der Oberfläche lagen oder knapp darunter. Bei tiefer liegender Munition behalf sich der SHD manchmal damit, eine Betondecke darüber auszubreiten. Im besagten Fall aber erforderte die Aufrechterhaltung des Bahnbetriebs eine schnelle Räumung. Am Morgen des 4. März trafen zwei Feuerwerker der Luftwaffe ein, und sieben Strafgefangene begannen damit, die Bombe freizuschaufeln. Um 10.50 Uhr gab es eine furchtbare Detonation, die Männer wurden weggeschleudert oder verschüttet.
Das könnte Sie vielleicht auch interessieren: Operation Gomorrha – wieso die Bomben auf Hamburg dieser Frau das Leben retteten

Drei Männer starben, darunter Arthur Wolowski. Er erhielt eine Beerdigung auf Staatskosten. Immerhin sei der Verstorbene, so hieß es, freiwillig im Dienst am Vaterland „gefallen“, gewissermaßen an der Heimatfront, deshalb verdiene er dieselbe Hochachtung wie getötete Soldaten. Wolowskis Schwester bekam die Mitteilung, ihr Bruder habe vermutlich nur kurz gelitten: „Er wird nach dem Niederfallen der aufgewirbelten Erdmassen so schwer bedeckt worden sein, dass der sofortige Tod eingetreten ist.“
Hamburg erlitt zwischen 1940 und 1945 nicht weniger als 213 Luftangriffe. Am Ende, so steht es im „Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland“, waren 50 bis 60 Prozent aller Wohnungen zerstört sowie 40 bis 50 Prozent der Innenstadt. Der damals wegzuräumende Trümmerschutt umfasste 45 Millionen Tonnen. Aber wer kann sich so etwas schon vorstellen?
Von 107.000 Sprengbomben, die auf Hamburg fielen, sind 14.000 nicht hochgegangen
Über die Bombenlast, die mit alledem als Folge oder Ursache verbunden war, gab es schon ganz unterschiedliche Schätzungen. Aktuell kann ungefähr wie folgt gerechnet werden: 107.000 Sprengbomben sind im Zweiten Weltkrieg auf Hamburg gefallen. Bei einer angenommenen Blindgängerquote von 13 Prozent ergibt sich eine Menge von knapp 14.000 dieser gefährlichen Objekte. Davon wurden bereits während des Kriegs 6300 beseitigt. Von Kriegsende bis heute wurden weitere 5063 entschärft.
Das könnte Sie vielleicht auch interessieren: Arthur Harris – dieser Mann wollte Hamburg von der Landkarte bomben

Als Hamburg am 3. Mai 1945 kapitulierte, stellten die Sprengkommandos der Wehrmacht ihre Tätigkeit ein. Ein einziges davon – es stand unter dem Befehl von Hauptmann Walter Merz – folgte der Bitte der Polizei, die Arbeit fortzusetzen: Nicht zuletzt – wie Merz sich später erinnerte – weil schon viel zu viele Kinder beim Spielen mit herumliegender Munition verletzt oder gar getötet worden waren. Die britischen Besatzer ließen Merz und seine Kameraden aus guten Gründen gewähren, beaufsichtigten sie und gaben ihnen Anweisungen.
Walter Merz: Der Draufgänger unter Deutschlands Feuerwerkern
1946 wurde Merz’ Sprengkommando formal dem Aufräumungsamt der Baubehörde unterstellt. 1948 entstand eine eigene Dienststelle – „Blindgängerräumung und Sprengung“ –, die provisorisch in einem Schuppen an der Alsterkrugchaussee untergebracht war. Die Währungsreform erleichterte die Rekrutierung zusätzlichen Personals, und im Zusammenhang mit dem Besatzungsstatut von 1949 ging die Zuständigkeit für die Beseitigung von Kriegsmunition ganz auf die deutsche Seite über. Eine während des Krieges von der Polizei zusammengestellte Datensammlung mit mehr als 700 Einschlagstellen tauchte auf, denen jetzt systematisch nachgegangen wurde.

Walter Merz entwickelte sich zum einfallsreichsten und bekanntesten Feuerwerker in ganz Deutschland. Er persönlich vollführte die beschwerlichsten und waghalsigsten Aktionen. Bald nachdem Merz 1961 in den Ruhestand gegangen war, durfte sein Nachfolger Erich Frodermann sich darüber freuen, dass einige Tausend jener Luftbilder beschafft werden konnten, die die angloamerikanischen Angreifer seinerzeit zur Auswertung ihrer Bombardements aufgenommen hatten. In den folgenden Jahrzehnten kamen noch mehrere zehntausend weitere Aufnahmen hinzu.
1972 wurde aufgrund von Luftbildauswertung und nach Einsatz einer „Förstersonde“ an der Eilbeker Tonistraße eine 500-Pfund-Bombe entdeckt. 4000 Menschen mussten evakuiert, der S-Bahn-Verkehr eingestellt werden. Sieben Männer brachten die Bombe zum Jacobipark. Dort wurde sie in einer abgedeckten Grube gesprengt. Ein größerer Trichter entstand, aber nicht ein einziges Fenster der umliegenden Häuser ging kaputt. Frodermann wurde gefeiert. Die MOPO brachte am nächsten Tag ein Foto der Kampfmittelräumer auf der Titelseite. Schlagzeile: „7 Männer trugen den Tod“.
Annica Sewzyk verbindet Luftbilder und Landkarten zu einer 3D-Projektion

1995/96 wechselte die Kampfmittelerkundung und -räumung in den Zuständigkeitsbereich der Innenbehörde, als Bestandteil der Berufsfeuerwehr. Deren Referat „Gefahrenerkundung Kampfmittelverdacht“ (GEKV) ist heute mit modernster Technik ausgestattet. Die Referatsleiterin Annica Sewzyk hat an der HafenCity-Universität Geomatik studiert. Die Luftbilder können miteinander sowie mit Landkarten digital verbunden werden, und auf dem Computerbildschirm erscheint eine 3D-Projektion.
Annica Sewzyk wünscht sich, dass die akribische Arbeit ihrer fast 50 Mitarbeiter in der Öffentlichkeit bekannter wäre. Aktuelles Beispiel: Die Bombe, die Sprengmeister Michael Hein am 5. Juli 2023 in Wilhelmsburg entschärft hat, war nicht etwa „bei Bauarbeiten gefunden“ worden, wie es danach hieß. Die Realität sieht so aus: Auf der Grundlage eines Antrags war das Referat GEKV tätig geworden und hatte nach aufwendiger Recherche einen Verdacht entwickelt.

Sprengmeister Ronald Weiler, Leiter des Referats „Kampfmittelräumdienst“, pflichtet seiner Kollegin gern bei: „Die öffentliche Aufmerksamkeit richtet sich meist auf die Bediensteten, die unter Lebensgefahr die Entschärfung vornehmen. Aber die Grundlage unseres Einsatzes ist die theoretische Arbeit.“
Theoretiker und Praktiker, die gemeinsam hochgefährliche Waffen identifizieren und unschädlich machen, eint auch ein Stück Welt- und Menschenbild: Wer den aktuellen Gebrauch bestimmter Munitionssorten auf unserer Erde beobachte, könne den Eindruck entwickeln, die Menschheit in ihrer Gesamtheit habe seit dem Zweiten Weltkrieg hier nicht viel dazugelernt.
Bis der Kampfmittelräumdienst aufgelöst werden kann, werden noch viele Jahre vergehen. Die Experten schätzen, dass heute, 80 Jahre nach der „Operation Gomorrha“, noch rund 2500 Blindgänger in Hamburg unentdeckt sind. Angenommen, Jahr für Jahr werden davon 20 unschädlich gemacht, dauert es statistisch noch 125 Jahre, bis die Gefahr restlos beseitigt ist.
Ein „Blockbuster“, mit dem Häuser abgedeckt wurden, wog 8000 Pfund

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass irgendwo etwas Verdächtiges entdeckt wird. Zu einem besonders großen Einsatz kam es am 17. Juli, als auf einer Baustelle im Schanzenviertel ein Bagger auf eine britische 500-Pfund-Bombe stieß. Sie war mit einem tückischen Langzeitzünder ausgerüstet, 5000 Menschen mussten für die Entschärfung ihre Wohnungen verlassen. Die Bombe wurde mit riesigen Wasserkissen bedeckt. In einer der verzwicktesten Aktionen der vergangenen Jahrzehnte wurde zuerst der Zünder von der Bombe abgesprengt und dann in die Luft gejagt.
Übrigens: Bomben mit einem Gewicht von 500 Pfund zählten zu den kleinsten. Ein „Blockbuster“, mit dem Häuser abgedeckt wurden, brachte 8000 Pfund auf die Waage. Und es gab noch größere Exemplare.