Böser Verdacht: Gab berühmte Hamburger Naturforscherin Morde in Auftrag?
Es gab im 19. Jahrhundert keine größere und bedeutendere Naturforscherin als sie. In Hamburg ist deshalb sogar eine Straße nach ihr benannt. Und doch fällt ein Schatten auf das Andenken von Amalie Dietrich, denn seit vielen Jahrzehnten hält sich hartnäckig ein unerhörter Verdacht: Dass sie Morde in Auftrag gab – nur um die Skelette und Schädel in Hamburg ausstellen zu können. Bis heute wird sie in Australien „Angel of Black Death“, Todesengel der Aborigines, genannt. Wer war diese Frau?
Es gab im 19. Jahrhundert keine größere und bedeutendere Naturforscherin als sie. In Hamburg ist deshalb sogar eine Straße nach ihr benannt. Und doch fällt ein Schatten auf das Andenken von Amalie Dietrich, denn seit vielen Jahrzehnten hält sich hartnäckig ein unerhörter Verdacht: Dass sie Morde in Auftrag gab – nur um die Skelette und Schädel in Hamburg ausstellen zu können. „Angel of Black Death“, Todesengel der Aborigines, so wird sie in Australien bis heute genannt.
160 Jahre sind vergangen, seit Amalie Dietrich am 15. Mai 1863 auf dem Klipper „La Rochelle“ den Hamburger Hafen Richtung Australien verließ, zusammen mit 444 deutschen Auswanderern an Bord. 119 Tage dauerte die Reise. Auf dem fünften Kontinent angekommen, unternahm die damals 42-jährige Frau ausgedehnte Forschungsreisen, sammelte Pflanzen, Insekten, Reptilien. Und auch menschliche Leichen.

Unterwegs war sie im Auftrag des privaten natur- und völkerkundlichen „Museums Godeffroy“, das sich am Alten Wandrahm in Hamburg (heute Speicherstadt) befand und europaweit großes Ansehen genoss. Eigentümer des Museums war der Hamburger Kaufmann Johan Cesar Godeffroy (1813-1885), der bedeutendste Reeder der Stadt mit Geschäftsverbindungen rund um den Erdball – ein früher „Global Player“. Aus Prestigegründen, um aller Welt zu zeigen, wie mächtig und reich er war, unterhielt Godeffroy neben seinen geschäftlichen Unternehmungen auch noch ein Privatmuseum, das nach und nach zur größten völkerkundlichen Sammlung jener Zeit heranwuchs. Godeffroy, den die Hamburger halb bewundernd, halb spöttisch „König der Südsee“ nannten, engagierte Naturaliensammler und Naturforscher, die in seinem Auftrag Südsee-Insel um Südsee-Insel und den australischen Kontinent erforschten.

Vor 160 Jahren startete Amalie Dietrich ihre Expeditionsreise nach Australien
An dieser Stelle kommt Amalie Dietrich ins Spiel, denn auch sie stand auf Godeffroys Gehaltsliste: Die 1821 in Siebenlehn in Sachsen geborene Frau hatte nur eine dürftige Volksschulausbildung. Alles, was sie über Pflanzen und Heilkräuter wusste, hatte sie von ihrem Mann gelernt, einem Apotheker und Botaniker. Viele Jahre war Amalie Dietrich quer durch Europa gereist – immer auf der Suche nach seltenen Pflanzen, die sie an Apotheken und botanische Gärten verkaufen konnte. In der Fachwelt war sie aufgrund ihrer ausgedehnten Reisen schon bald sehr bekannt.
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Nach der Trennung von ihrem Mann ging Dietrich nach Hamburg, lernte 1862 den Reeder Godeffroy kennen und bat darum, in sein Wissenschaftler-Team aufgenommen zu werden. Godeffroy lehnte zunächst ab. Aber als Amalie Dietrich Empfehlungsschreiben bekannter Gelehrter vorlegen konnte, ließ er sich doch noch breitschlagen.
Zehn Jahre durchstreifte Amalie Dietrich weite Teile des Fünften Kontinents. Godeffroy bereute es nicht, dieser ungewöhnlich mutigen Frau eine Chance gegeben zu haben, denn wann immer eines seiner Schiffe in Hamburg einlief, waren Kisten mit Artefakten an Bord, die Amalie Dietrich gesammelt hatte.
Cesar Godeffroy soll Amalie Dietrich beauftragt haben, Skelette mitzubringen

Im Januar 1865 äußerte Godeffroy einen besonderen Wunsch. Er wusste, dass sich Amalie Dietrich darauf vorbereitete, den Norden des Kontinents zu durchstreifen. „Wir freuen uns, dass Sie nördlicher gehen wollen“, schrieb er, „und möchten Sie nochmals bitten, nicht nur Skelette von dort vorkommenden Säugetieren, sondern auch möglichst Skelette und Schädel von Eingeborenen zu senden.“
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Begeistert schien Amalie Dietrich von diesem Auftrag nicht zu sein. „Es hilft nichts, Godeffroys wollen es für die Sammlung haben, da darf ich mein Gefühl nicht fragen“, schrieb sie im September 1869. Irgendwie gelang es ihr, den Wunsch ihres Auftraggebers zu erfüllen: Insgesamt sandte sie – fein säuberlich in Kisten verpackt – 13 Skelette samt Schädel nach Hamburg. Von zwei der Leichen nannte sie sogar die Namen: Es handelte sich um die Aborigine-Frauen Wulure und Mammi.

Die Frage, die seit Jahrzehnten immer wieder gestellt wird, lautet: War Amalie Dietrich wirklich „nur“ eine Grabräuberin? Australische Autoren behaupten, dass es sich bei ihr um den „Angel of Black Death“, den Todesengel der Aborigines, gehandelt habe. Sie berufen sich auf ein 1908 erschienenes Buch von Henry Ling Roth, in dem es heißt, dass eine namentlich nicht genannte deutsche Forscherin zumindest versucht habe, weiße Siedler dazu zu überreden, Aborigines zu töten, um deren Skelette nach Hamburg senden zu können.
Wurden Amalie Dietrich die Morde nur angedichtet, weil sie eine starke Frau war?
In Schutz genommen wird die Forscherin von der Hamburger Südsee-Expertin Antje Kelm: Amalie Dietrich nachzusagen, dass sie, um ihren wissenschaftlichen Ehrgeiz zu befriedigen, Morde in Auftrag gegeben habe, sei eher „eine jener Legenden, die sich um Personen ranken, die ein Leben führen, das von den gerade herrschenden gesellschaftlichen Normen abweicht“.

Ob Amalie Dietrich nun Menschen töten ließ oder ihr die Morde nur angedichtet wurden, weil sie so eine ungewöhnlich starke Frau war – das wird sich nicht mehr klären lassen. Fest steht allerdings, dass zu jener Zeit weiße Siedler australische Ureinwohner nach Belieben ermordeten, ohne dass die Täter Sorge haben mussten, dafür bestraft zu werden. Aborigines galten als Menschen zweiter, eher dritter Klasse. Aberhunderte menschlicher Überreste gelangten auf dunklen Wegen in europäische Museen.
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Im März 1873 kehrte Amalie Dietrich an Bord des Seglers „Susanne Godeffroy“ nach Hamburg zurück, arbeitete zunächst als Kuratorin im „Museum Godeffroy“, dann im Botanischen Museum der Stadt Hamburg. 1891 erholte sie sich von einer Lungenentzündung nicht und starb während eines Besuches bei ihrer Tochter Charitas Bischoff in Rendsburg.

Nach der Insolvenz von Godeffroys Reederei 1879 wurde auch dessen naturhistorische Sammlung verkauft. Die Gebeine der Aborigines landeten im Leipziger Grassi-Museum für Völkerkunde, das im Dezember 1943 bei einem alliierten Luftangriff von Brandbomben getroffen wurde. Alles dort verbrannte.