Blutsonntag von Altona: 18 Menschen sterben – und mit ihnen die Demokratie
Dass Schüsse fallen, ist geplant, dass Menschen sterben, einkalkuliert. Im Sommer 1932 sucht die rechtskonservative Reichsregierung unter Franz von Papen händeringend nach einem Anlass, um die verhasste SPD-geführte Regierung in Preußen abzusetzen. Der „Blutsonntag von Altona“ kommt ihr da sehr gelegen. Bei Auseinandersetzungen in den engen Straßen der Altonaer Altstadt finden vor 90 Jahren 18 Menschen den Tod.
Dass Schüsse fallen, ist geplant, dass Menschen sterben, einkalkuliert. Im Sommer 1932 sucht die rechtskonservative Reichsregierung unter Franz von Papen händeringend nach einem Anlass, um die verhasste SPD-geführte Regierung in Preußen abzusetzen. Der „Blutsonntag von Altona“ kommt ihr da sehr gelegen. Bei Auseinandersetzungen in den engen Straßen der Altonaer Altstadt finden vor 90 Jahren 18 Menschen den Tod.
Der 17. Juli 1932 ist ein regnerischer Tag. Ab 12.30 Uhr versammeln sich rund 7000 SA- und SS-Männer aus Altona, Hamburg und Schleswig-Holstein am Altonaer Rathaus. Dieser riesige Schlägertrupp marschiert erst durch Ottensen und Bahrenfeld, bevor er sich der Altstadt nähert, die im Volksmund „Klein Moskau“ genannt wird. In den Elendsquartieren des Arbeiterviertels leben vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten. Dass Hitlers Schergen es wagen, hier ihren Propagandaauftritt zu veranstalten – eine gezielte Provokation.

Altonas Polizeipräsident ist im entscheidenden Moment auf Wahlkampfreise
Altonas Polizeipräsident Otto Eggerstedt (SPD) hat sich bis zuletzt geweigert, den Nazi-Aufmarsch zu verbieten. Ein folgenschwerer Fehler. Die KPD versucht noch durchzusetzen, dass die SA wenigstens eine andere Route nimmt. Aber Eggerstedt, der erneut für den Reichstag kandidiert, ist im entscheidenden Moment nicht in der Stadt, sondern auf Wahlkampfreise. Und auch sein Stellvertreter, Oberregierungsrat August Schabbehard, hat Urlaub.
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Während die Sozialdemokraten ihre Leute auffordern, dem Nazi-Aufmarsch fernzubleiben, sich nicht provozieren zu lassen, sind die Kommunisten entschlossen, sich den Nazis in den Weg zu stellen. Die KPD fordert alle „klassenbewussten Arbeiter“ auf, sich „auf die Straße“ zu begeben. Das Ziel: „den Zug der Hitlerbanden zu verhüten“.

Der „Altonaer Blutsonntag“ ist nur insofern ein ungewöhnlicher Tag, als dass die Zahl der Opfer besonders hoch ist. Ansonsten steht politischer Mord in der Endphase der Weimarer Republik längst auf der Tagesordnung. Die Weltwirtschaftskrise, die am 24. Oktober 1929 mit dem New Yorker Börsenkrach begonnen, eine durch Krieg und Inflation geschwächte deutsche Wirtschaft doppelt hart getroffen und viele Millionen Menschen arbeitslos gemacht hat, ist ein Glücksfall für Extremisten rechts wie links. KPD und NSDAP haben immer mehr Zulauf.
Politischer Mord ist in der Enphase der Weimarer Republik an der Tagesordnung
Ein entscheidender Wendepunkt für den Fortgang der Geschichte ist der 30. Mai 1932. Dieser Tag markiert den Anfang vom Ende der Weimarer Republik: Reichspräsident Paul von Hindenburg – alles andere als ein Anhänger der Demokratie – entlässt Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) und gibt die Regierung in die Hände des deutschnationalen Draufgängers Franz von Papen. Ein gewaltiger Ruck nach rechts!
Papen, der im Reichstag nur bei wenigen nationalliberalen und deutschnationalen Abgeordneten Unterstützung hat, bemüht sich um eine Tolerierung seiner Regierung durch die NSDAP – und tut alles, was Adolf Hitler will. Papen löst das Parlament auf, schreibt zum 31. Juli 1932 Neuwahlen aus und – das ist das Entscheidende – hebt das SA- und SS-Verbot auf, das sein Vorgänger Brüning zwei Monate zuvor verhängt hat.

Wieder von der Leine gelassen, liefern sich die Nazi-Schläger überall im Reich Straßenschlachten mit Kommunisten und Sozialdemokraten, verüben Attentate und Morde. In Eckernförde überfallen sie am 10. Juli das Gewerkschaftshaus, erstechen zwei Landarbeiter. Zwei Tage später wird in einem Wassergraben in Dithmarschen die Leiche eines KPD-Funktionärs gefunden. Kaum noch ein Tag ohne Blutvergießen. Innerhalb nur eines Monats, von Mitte Juni bis Mitte Juli 1932, sterben bei Auseinandersetzungen politischer Gegner 99 Menschen.
Hindenburg ernennt Franz von Papen zum Reichskanzler – eine fatale Entscheidung
Vor diesem Hintergrund findet er statt: der Propagandamarsch der SA, der als „Altonaer Blutsonntag“ in die Geschichte eingeht. Es ist kurz nach 16 Uhr, als die braune Kolonne die eng bebaute Altstadt Altonas erreicht. Als der Zug in die Kirchenstraße schwenkt, rufen 20 bei einem Pissoir versammelte Kommunisten: „Heil Moskau!“ und: „Nazi verrecke!“ Flaschen und Steine fliegen. Es kommt zu Prügelszenen mit SA-Männern. Passanten werden mit Bierflaschen und Messern angegriffen. Polizisten geben Warnschüsse ab, treiben die Kontrahenten auseinander.

Schon rund 1000 Braunhemden sind vorbeimarschiert, als es kurz vor 17 Uhr an der Straßenkreuzung Große Marienstraße/Johannisstraße/Schauenburger Straße (heute Schomburgstraße) zum Showdown kommt: Eine Gruppe von Kommunisten eröffnet mit Pistolen das Feuer. Der Angriff gilt dem Altonaer SA-Sturm 2-31 unter dem berüchtigten Sturmführer Richter (daher der Name „Richter-Sturm“). Die Einheit besteht zum Teil aus ehemaligen Kommunisten – also aus „Verrätern“, deshalb ist sie als Ziel ausgewählt worden.
In den engen Straßen Altonas sterben viele Unbeteiligte durch Querschläger
Alles geht sehr schnell: Die Angreifer feuern um sich und verschwinden. Die SA-Männer Heinrich Koch und Peter Büddig brechen tödlich getroffen zusammen. Erschossen wird auch die 44-jährige Hausfrau Helene Winkler, die der NS-Frauenschaft aus Eppendorf angehört und die vermutlich am Straßenrand gestanden hat und dem SA-Aufzug zuschaute.

Jetzt wird’s chaotisch. Um die Tausenden von SA-Leuten aus der Schusslinie zu bekommen, wird der Teil des Zuges, der noch nicht am Tatort vorbeimarschiert ist, von der Polizei durch die Große Bergstraße in Richtung Altonaer Hauptbahnhof abgedrängt. Wenig später treffen Beamte der Hamburger Ordnungspolizei und der in Reserve gehaltenen Bereitschaft der Polizei Altona ein und machen sich daran, in den Straßen und Gassen die Schützen zu suchen.
Anna Raeschke wird vom Lärm zum Fenster gelockt – da trifft sie eine Kugel
Vor allem die Polizisten aus Hamburg gehen rigoros vor. Seit dem Hamburger Aufstand im Oktober 1923, als Kommunisten versuchten, die Hansestadt zum Ausgangspunkt einer Revolution zu machen – rund 100 Menschen kamen damals ums Leben –, glaubt die Polizei, gegen die „kommunistische Gefahr“ mit besonderer Härte vorgehen zu müssen.

Die Polizisten dringen in Häuser ein, durchsuchen sie, nehmen insgesamt 90 Personen fest, schießen in den Straßen auf Fenster, die nicht geschlossen sind. 15 weitere Menschen sterben – viele werden von Querschlägern getroffen. Das Tragische: Bei den meisten Opfern handelt es sich um völlig Unbeteiligte.
Hausfrau Anna Raeschke, wohnhaft Kleine Marienstraße 23 a, tritt angelockt vom Lärm auf der Straße ans Fenster – in dem Moment trifft sie eine Kugel im Kopf. Als ihr zwölfjähriger Sohn Ferdinand sie findet, steckt noch das Stück Brot in ihrem Mund, an dem sie gerade kaute.
Erna Sommer winkt einem Nachbarn zu – und wird erschossen
Günther Miersch – damals noch ein Kind – wird Augenzeuge, wie sein Vater ums Leben kommt. „Die Polizei rief: ‚Fenster zu, sonst wird geschossen!’“, erzählt er. „Meine Mutter hat sich aber nicht ans Fenster getraut. Als mein Vater nach Hause kam, beugte er sich hinaus, um die Läden zu schließen, die damals nach außen aufgingen. Ein Polizist kniete mit seinem Gewehr auf dem Boden, mein Vater wurde wie ein Vogel abgeschossen. Meine schwangere Mutter bekam einen Schreikrampf und verlor später ihr Kind.“

Im zweiten Stock des Hauses Große Marienstraße Nr. 25 wird die 19-jährige Erna Sommer, Mutter eines zweijährigen Kindes, durchs geschlossene Fenster erschossen, als sie gerade einem Bekannten im gegenüberliegenden Haus zuwinkt. Polizisten auf der Straße haben geglaubt, die Frau gebe Zeichen.
Die Polizei rechtfertigt später ihr Vorgehen damit, dass aus Fenstern und von den Dächern aus auf sie gefeuert worden sei. Doch das ist eine Lüge. Es hat diese Schüsse nicht gegeben.
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Mindestens zwölf der Toten gehen allein auf das Konto eines von Oberleutnant Franz Kosa geleiteten Hamburger Polizeikommandos. Kosa ist Nazi und wird sich später, nach Hitlers Machtübernahme, einen Namen machen als Führer des berüchtigten NS-„Kommandos zur besonderen Verwendung“, das mit aller Brutalität Gegner des Nazi-Regimes jagt, misshandelt und ermordet.
Die Nazis versuchen das Blutvergießen den Kommunisten in die Schuhe zu schieben
Es ist die kommunistische „Hamburger Volkszeitung“, die dem Ereignis den einprägsamen Namen gibt: „Blutsonntag in Altona! Die Mörderbanden der SA wüten unter dem Schutz der Eggerstedt-Polizei gegen Arbeiter!“ – so steht es montags drauf auf der Titelseite. Genau das Gegenteil verbreitet die NSDAP auf einem Wahlflugblatt: „Altona! Rotmord über Deutschland“, heißt es da. Die Nazis sind bemüht, das Blutvergießen den Kommunisten in die Schuhe zu schieben.

Kanzler Franz von Papen nutzt die günstige Gelegenheit. Am 20. Juli 1932, also drei Tage nach dem Blutvergießen, verübt er den Staatsstreich, den sogenannten „Preußenschlag“: Mit der Begründung, sie sei unfähig, die öffentliche Ordnung sicherzustellen, entlässt der Reichskanzler die SPD-Regierung Preußens unter Otto Braun und setzt die Verfassung außer Kraft.
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Das Ergebnis der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 zeigt, dass die Demokratie am Ende ist. Während die Kommunisten leicht zulegen, Liberale, Sozialdemokraten und Konservative verlieren, wird die NSDAP mit 37,3 Prozent – 19 Prozent mehr als 1930! – stärkste Partei.
Franz von Papen nutzt die Gelegenheit und holt zum „Preußenschlag“ aus

Im Januar 1933, sieben Monate später, wird Adolf Hitler Reichskanzler. Die beiden in Altona zu Tode gekommenen SA-Männer werden als Märtyrer gefeiert, gleichzeitig verhaften die Nazis die vermeintlichen Haupttäter des Blutsonntags – ausschließlich Kommunisten.
Der erste der sogenannten „Blutsonntags-Prozesse“ beginnt am 8. Mai 1933. Die Verhandlungen werden auf Grundlage einseitiger Ermittlungen und mit gefälschten Beweisen, Sachverständigengutachten und Zeugenaussagen geführt. Vier unschuldige Männer werden schuldig gesprochen und am 1. August 1933 im Hof des Altonaer Amtsgerichts mit dem Handbeil hingerichtet: Bruno Tesch, Walter Möller, Karl Wolff und August Lütgens. Die ersten Justizmorde in Nazi-Deutschland! Noch zwölf weitere Kommunisten werden im Laufe der Zeit wegen angeblicher Beteiligung am „Altonaer Blutsonntag“ zum Tode verurteilt.

Auch auf den ehemaligen Altonaer Polizeipräsidenten Otto Eggerstedt machen die Nazis Jagd. Er versteckt sich, wird verraten, eingesperrt und so schwer misshandelt, dass er ins Altonaer Krankenhaus muss. Den Aufenthalt dort wollen Sozialdemokraten nutzen, um ihm zur Flucht zu verhelfen. Der Plan wird verraten und Eggerstedt am 12. August 1933 ins KZ Esterwegen überstellt, wo er zwei Monate später von SA-Männern erschossen wird – „auf der Flucht“, wie es offiziell heißt.
Erst 1992 hebt das Landgericht Hamburg die Todesurteile gegen Tesch, Lütgens, Möller und Wolf auf. Weitere Urteile des Sondergerichts im Zusammenhang mit dem „Altonaer Blutsonntag“ werden 1996 und 1998 für null und nichtig erklärt. Endlich Gerechtigkeit, nach so langer Zeit.

Nach August Lütgens und Walter Möller sind heute Parks benannt, es gibt einen Bruno-Tesch-Platz und eine Karl-Wolff-Straße.