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Henriette Hell
  • Die Hamburgerin Henriette Hell ist Autorin, Journalistin und DJane.
  • Foto: Melina Mörsdorf Photography

„Techno, Trash und Konfetti: Mit 30 beginnt der beste Teil unseres Lebens!“

Die Erwartungen an Frauen ab 30 Jahren sind hoch, findet die Hamburger Bestsellerautorin Henriette Hell (36). Verheiratet sollten sie sein, möglichst schon Mutter – und bitteschön auch noch Karriere machen. Dabei kann man ihrer Meinung nach auch wunderbar ohne all das glücklich werden: In ihrem neuen Buch „Ihr könnt mich mal… So nehmen wie ich bin – Mein ziemlich geiles Leben ohne Kind und Karriere“ schreibt Hell über ihr Leben als unverheiratete und kinderlose Mittdreißigerin und räumt mit überholten Rollenklischees auf. Dieser Text stammt aus dem Kapitel „Mein Leben mit 30“.

Ich werde demnächst 35 und habe absolut keine Ahnung, was mich in meinem neuen Lebensjahr erwartet. Ein paar verrückte Geschäftsideen befinden sich schon in der Pipeline und der Plan für meine Geburtstagsparty steht: Ich feiere zusammen mit meiner Freundin Funny. Ihr Name ist Programm. Wir wollen einen dreitägigen Rave in ihrem Schrebergarten im tiefsten Dschungel von Hamburg-Wilhelmsburg veranstalten. Unsere Freunde sollen in Schichten bei uns aufschlagen. Wegen Corona. Die Familien dürfen von 19 bis 21 Uhr zu Sekt und Kuchen vorbeikommen; Burn-out-gefährdete, dauermüde Workaholics kriegen von 21 Uhr bis Mitternacht Schnaps satt und dann geht’s ab ins Bett. Die Harten kommen spät und müssen (!) bis zum nächsten Morgen bleiben, während wir erstklassigen Techno, Trash-Hits und Konfettibomben abfeuern.

Danach? Werden wir ungefähr eine Woche lang genüsslich auskatern. Ein guter Zeitpunkt für eine persönliche Bestandsaufnahme: Was habe ich im letzten Lebensjahr verkackt? Was möchte ich besser machen? Bin ich glücklich? Im Großen und Ganzen lautet meine Antwort auf jene kriegsentscheidende letzte Frage aktuell: Ja. Ich bin gesund und habe die Freiheit, tun und lassen zu können, was ich will, zudem Freunde und Familie, die immer für mich da sind. Und verliebt bin ich auch.

Mit 23 liegt einem die Welt zu Füßen

Darf man einer Untersuchung des Schweizer Ökonomieprofessors Hannes Schwandt Glauben schenken, ist mein gegenwärtiges Glücksgefühl nicht normal. Mehr noch: Es grenzt fast an ein kleines Wunder! Der Mann hat nämlich herausgefunden, dass wir mit 23 und 67 Jahren am glücklichsten sind. In der Zwischenzeit seien eher Stress und Krisenstimmung angesagt.

Hm, mal kurz überlegen, was mit 23 so bei mir los war: meine erste eigene Wohnung in meiner Traumstadt Hamburg, mein erster richtiger Job, das erste Mal Backpacking in Asien, wilde WG-Partys nonstop. Jap, die 23 rockt. Die ganze Welt liegt einem zu Füßen, und man denkt, es geht immer so weiter. Bis einem irgendwann die Realität eins mit dem Vorschlaghammer überzieht. „Bis Ende 20 kommt man noch damit über die Runden zu denken, dass alles gut laufen wird“, erklärt Hannes Schwandt gegenüber jetzt.de. „Aber irgendwann wird dann doch klar, dass das Leben doch keinen so wahnsinnig glorreichen Weg geht.“

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Die Midlife-Crisis ist kein Klischee – sie lebt! Das hängt laut Schwandt damit zusammen, dass wir uns in unserer Lebensmitte ständig irren, wenn wir uns unsere Zukunft ausmalen. Die Kunst liegt darin, Enttäuschungen in Gewinne zu verwandeln. Und bloß nicht alles so ernst zu nehmen. Das gelingt natürlich nicht allen, etwa wenn jemand durch eine Trennung plötzlich alleinerziehend wird oder durch permanente Überforderung im Job krank.

Solche Probleme sind einem mit 23 wahrscheinlich noch eher fremd. Aber zwischen 30 und 50 werden viele Menschen davon überrollt. Deshalb ist es auch naiv anzunehmen, dass unsere Zufriedenheit mit fortschreitendem Alter immer weiter ansteigt. Aber genau das tun wir Menschen! Hinter diesem sogenannten Overoptimism steckt laut Schwandt ein evolutionärer Nutzen. „Wenn die Menschen wohlgeeichte Erwartungen davon hätten, wie viel Stress Kinder bedeuten, würden wahrscheinlich sehr viel weniger Leute Kinder bekommen.“ Irgendwann, mit Ende vierzig/Anfang fünfzig, käme dann der totale Tiefpunkt.

Ab 30 beginnt der beste Teil unseres Lebens

Tolle Aussichten! Enttäuscht von all dem Mist, der einem bis dahin passiert sein wird, und weil der Lack ab ist, verlieren viele quasi komplett die Hoffnung, was die Zukunft angeht. Aber – und jetzt kommt’s: Sobald man sich mit diesem desolaten Zustand arrangiert habe, würde es wieder bergauf gehen. Viele hätten dann begriffen, dass die Würfel gefallen seien. Ältere Menschen könnten darüber hinaus besser mit Enttäuschungen umgehen, weil ihnen ihr jugendlicher Ehrgeiz nicht mehr im Weg stehe. Klar, irgendwann hat auch der Letzte geschnallt, dass man sowieso immer wieder aufs Neue verkackt. Egal, wie gut der Plan war.

Es soll ja Leute geben, die ihr ganzes Leben nach Zahlen ausrichten. Bis 25 möchten sie irgendeinen sexy Abschluss in der Tasche haben, bis 29 eine Weltreise gemacht haben, bis 30 verheiratet sein, bis 33 ein Kind oder die Beförderung bekommen haben und bis 40 ein Eigenheim besitzen. Wenn etwas schiefläuft, fühlen sie sich als Versager beziehungsweise Versagerinnen. Wozu dann überhaupt der Stress?

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Die wahren Vorteile der Dreißiger sind ganz andere. Jetzt beginnt der beste Teil unseres Lebens! Wer das leugnet, ist wahrscheinlich unter 18 oder hat auf seiner ersten Ü-30-Party in einer ländlich gelegenen Großraumdisco ein Trauma erlitten.

Henriette Hell hat das Buch „Ihr könnt mich mal ... So Nehmen, wie ich bin“ geschrieben. Gräfe und Unzer
Buchcover „Ihr könnt mich mal ... So nehmen, wie ich bin“
Henriette Hell hat das Buch „Ihr könnt mich mal … So Nehmen, wie ich bin“ geschrieben.

Das Buch „Ihr könnt mich mal… So nehmen wie ich bin – Mein ziemlich geiles Leben ohne Kind und Karriere“ von Bestsellerautorin Henriette Hell gibt es für 14,99 Euro beim Gräfe und Unzer Verlag und in diversen Buchhandlungen zu kaufen.

Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Wir kleiden uns besser, haben endlich den Style und das Geld für Lala Berlin und Co. Statt uns in der Bar 99 Cent halb blind zu saufen, trinken wir Cocktails in gediegenen Lokalen. Oder mixen selbst hinter unserem hauseigenen Tresen. Wir schämen uns nicht mehr für alles und jeden, stehen zu peinlichen Vorlieben. „Volare“ von den Gipsy Kings oder „I’d do anything for love“ von Meat Loaf mit voller Lautstärke bei offenem Verdeck hören? Wir tun es. Im Job haben wir uns mittlerweile etabliert und können uns allmählich (unauffällig) zurücklehnen. Wir sind schnell, sicher und gut in dem, was wir tun. Wenn es drauf ankommt, können wir Nietzsche zitieren. Aber auch immer noch Frank Drebin.

Nun müssen wir allerdings stark sein, denn die Gesellschaft möchte uns plötzlich vorschreiben, was wir jetzt bitte schön mit unserem Leben so anfangen sollten – jetzt, wo wir ein bestimmtes Alter, eine gewisse Reife erlangt haben. Aber das lassen wir uns schon lange nicht mehr sagen. Dazu haben uns intellektuelle Freigeister ermutigt, deren Nähe wir zunehmend suchen. Es wird ein bisschen anstrengender für uns, sobald wir gegen den Strom schwimmen. Manchmal haben wir richtig Angst und zweifeln an uns selbst. Aber genau das ist es, was uns immer wieder weiterbringt und kreativ werden lässt. Es ist 2021 und wir sind keine Kinder mehr. Die Welt hat uns und unsere Visionen nie dringender gebraucht als heute.

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