Kühne-Preis: Eklat um NS-Vergangenheit des Hamburger Unternehmens
Das Harbour-Front-Festival ist eins der größten Literaturfestivals des Landes. Ihr größter Förderer ist die Kühne-Stiftung. Und nun kommt ein neuer Superlativ hinzu: Es hat jetzt auch den größten Eklat seiner 14-jährigen Geschichte.
Wie eine Ohrfeige wirkt die Absage des vielversprechenden Berliner Nachwuchs-Schriftstellers Sven Pfizenmaier (31). Der will am sogenannten Debütantensalon des Festivals nicht mehr teilnehmen und auf keinen Fall den mit 10.000 Euro dotierten Klaus-Michael-Kühne-Preis gewinnen. Warum nicht?
Das Harbour-Front-Festival ist eins der größten Literaturfestivals des Landes. Ihr größter Förderer ist die Kühne-Stiftung. Und nun kommt ein neuer Superlativ hinzu: Es hat jetzt auch den größten Eklat seiner 14-jährigen Geschichte.
Wie eine Ohrfeige wirkt die Absage des vielversprechenden Berliner Nachwuchs-Schriftstellers Sven Pfizenmaier (31). Der will am sogenannten Debütantensalon des Festivals nicht mehr teilnehmen und auf keinen Fall den mit 10.000 Euro dotierten Klaus-Michael-Kühne-Preis gewinnen. Warum nicht?
Autor Sven Pfizenmaier: „Auf keinen Fall Geld von Klaus-Michael Kühne“
Die Nazi-Vergangenheit der Familie Kühne ist der Grund. „Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dagegen wehrt, die NS-Historie seines Unternehmens aufzuarbeiten“, schreibt Pfizenmaier in einem offenen Brief, „möchte ich meinen Text nicht in einen Wettbewerb um sein Geld und eine Auszeichnung mit seinem Namen stellen. Ich habe mich daher dazu entschieden, meine Nominierung zurückzuziehen.“

Gegenüber der MOPO sagte Pfizenmaier, zum Zeitpunkt der Nominierung habe er von der NS-Vergangenheit der Firma und deren Umgang damit nichts gewusst. Jemand aus Hamburg habe ihn angeschrieben und ihn darauf aufmerksam gemacht. Deshalb so kurzfristig der Rückzieher. „Ich habe erstmal nachgedacht, ob es überhaupt geht, einen Preis anzunehmen, der den Namen Kühne trägt. Ich habe mich entscheiden: Nein.“
Firma Kühne+Nagel ist ein Global Player mit tiefbrauner Vergangenheit

Klaus-Michael Kühne gehört zu den reichsten Menschen der Welt – geschätztes Privatvermögen: 14,2 Milliarden US-Dollar. Gerne gibt er sich als Wohltäter: Seine Kühne-Stiftung fördert nicht nur das Harbour-Front-Festival. Kühne unterhält in Hamburg mit der Kühne Logistics University eine eigene Hochschule, ist außerdem noch Hauptsponsor der Salzburger Festspiele und so weiter. Kühnes Lebensmotto scheint zu lauten: „Tue Gutes und rede darüber.“
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Doch bei einem Thema, da wird der sonst so wortgewaltige 85-Jährige sehr einsilbig: Wenn es um die Rolle geht, die Vater Alfred Kühne (1895-1981) während der NS-Zeit spielte. Denn das Logistikunternehmen Kühne + Nagel – mit weltweit 78.000 Mitarbeitern und 22 Milliarden Euro Umsatz heute ein Global Player – hat eine dunkelbraune Vergangenheit.

Alfred Kühne und sein Bruder Werner (1898-1951) drängten zunächst einen jüdischen Teilhaber aus der Firma – er wurde später in Auschwitz ermordet. Danach wurde das Unternehmen zum nationalsozialistischen Musterbetrieb erhoben und verdiente mit Nazi-Aufträgen ein Vermögen. Kühne + Nagel profitierte beispielsweise von der sogenannten „Aktion M“ (M = Möbel): Wann immer in Paris oder in Amsterdam oder in Brüssel Juden von der Gestapo verhaftet und ins KZ gesteckt wurden, tauchten Möbelpacker von Kühne + Nagel auf und nahmen aus den Wohnungen alles mit, was brauchbar war – Betten, Schränke, Stühle, Sessel, Tische. Die geraubten Güter wurden ins Reich transportiert und dort bei sogenannten „Judenauktionen“ günstig an Ausgebombte verkauft.
„Relative Nähe zum Massenmord – eine Form der Leichenfledderei“
Der Münchner Historiker Frank Bajohr attestiert den Kühne-Brüdern eine „relative Nähe zum Massenmord“. Den Besitz „völlig wehrlos gemachter Menschen zu transportieren“ sei „eine Form der Leichenfledderei“.

Nach dem Krieg bemühten sich die Kühne-Brüder, das alles unter den Teppich zu kehren. Stellten Journalisten Fragen nach der NS-Vergangenheit, erhielten sie entweder keine oder ausweichende Antworten. Ausgerechnet im Jahr 2015 – Kühne + Nagel feierte gerade 125. Firmenjubiläum – förderten „taz“ und Bayerischer Rundfunk die NS-Verflechtungen des Unternehmens zu Tage.
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Daraufhin sah sich die Firma gezwungen, eine Erklärung abzugeben, in der es heißt, Kühne + Nagel bedauere es sehr, im Auftrag des Nazis tätig gewesen zu sein, die Firma sei aber in die Kriegswirtschaft eingebunden gewesen und habe „in dunklen und schwierigen Zeiten seine Existenz behaupten“ müssen. Soll wohl heißen: Das Unternehmen sei selbst nur Opfer … „Nach einem ehrlichen Bekenntnis zur eigenen Geschichte klingt das nicht“, findet Historiker Frank Bajohr.
Allen Forderungen, endlich das Archiv zu öffnen und aktiv dazu beizutragen, dass die Wahrheit rückhaltlos ans Licht kommt, hat Kühne + Nagel bisher eine Absage erteilt: Angeblich seien alle Unterlagen der Kontorhäuser in Hamburg und Bremen im Krieg verbrannt. Nichts sei mehr vorhanden. Experten bezweifeln das.

„Pfizenmaier zeigt Zivilcourage – das Harbour-Front-Festival sollte das ebenfalls tun“
Aus all dem hat Autor Pfizenmaier nun seine Konsequenzen gezogen. Sollten andere das auch tun? Pastor Ulrich Hentschel, früher Studienleiter für Erinnerungskultur an der Evangelischen Akademie in Hamburg, fordert: Ja! „Mit Sven Pfizenmaier hat ein junger Schriftsteller Zivilcourage gezeigt. Solche Zivilcourage sollten jetzt auch das Harbour-Front-Literaturfestival, seine Jury und andere daran Beteiligte zeigen. Verdrängen und Verschweigen der Herkunft von Kühnes Vermögen sollten beendet werden. Andernfalls bliebe von dem Anspruch einer unabhängigen und kritischen Literatur nur heiße Luft.“
Wie reagiert die Kühne-Stiftung auf den Schritt von Sven Pfizenmaier? Mit einer einsilben Erklärung: „Wir nehmen zur Kenntnis“, dass er „seine Nominierung zurückgezogen hat“. Die Leitung des Harbour-Front-Literaturfestivals äußerte sich gegenüber der MOPO nicht.

Die Kühne-Stiftung ist neben der Kulturbehörde Hauptsponsor des Harbour-Front-Literaturfestivals, das 2008 ins Leben gerufen wurde und in diesem Jahr am 8. September beginnt. Die Jury des Debütanten-Salons hatte aus 49 eingereichten Manuskripten acht Titel ausgewählt – darunter Pfizenmaiers Roman „Draußen feiern die Leute“, der im Verlag Kein & Aber erschienen ist. Der Preis für den besten Debütroman des Jahres wird 2022 bereits zum 13. Mal verliehen. An Stelle Pfizenmaiers ist inzwischen ein anderer Autor nominiert worden. Bisher ist nicht bekannt, ob weitere Debütanten Pfizenmaiers Beispiel folgen und ihre Bewerbung zurückziehen.
Sven Pfizenmaier, geboren 1991 in Celle, studierte Deutsche und Englische Philologie in Berlin. Er war Kandidat beim Literaturpreis „open mike“ 2018 in Berlin und Stipendiat der Literaturwerkstatt Graz 2020. Sein Roman „Draußen feiern die Leute“ wird von Kritikern gefeiert und wurde bereits mit dem Kranichsteiner Literaturförderpreis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet.