Durchseuchung in vollem Gang – soll ich jetzt noch eine Infektion vermeiden?
Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit von der Uni Hamburg widerspricht auf Twitter Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der von einer Durchseuchung der Bevölkerung nichts wissen will. Die MOPO sprach mit Schmidt-Chanasit über den schwierigen Begriff, über den Sinn von Antikörpertests und Masketragen und das Risiko von Long Covid.
Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit von der Uni Hamburg widerspricht auf Twitter Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der von einer Durchseuchung der Bevölkerung nichts wissen will. Die MOPO sprach mit Schmidt-Chanasit über den schwierigen Begriff, über den Sinn von Antikörpertests und was Motorradfahren in Bangkok mit Masketragen im Supermarkt zu tun hat.
Herr Schmidt-Chanasit, warum schreiben Sie auf Twitter „Durchseuchung“ in Anführungsstrichen?
Jonas Schmidt-Chanasit: Weil der Begriff häufig missverstanden wird. Viele verstehen darunter eine Art Strategie, aber das ist es eben nicht! Es beschreibt nur den Verbreitungsgrad einer Infektionskrankheit in einer Population zu einem bestimmten Zeitpunkt, zu denen auch die Genesenen hinzugerechnet werden. Die „Durchseuchung“ mit SARS-CoV-2 hat also in den vergangenen zwei Jahren zugenommen.
Das heißt, wir sind in Deutschland schon „durchseucht“?
Laut RKI liegen wir aktuell bei gut 29 Millionen nachgewiesenen Infektionen, die Zahl kann man wegen der Dunkelziffer locker verdoppeln, da sieht man dann schon: Der überwiegende Teil der Bevölkerung hatte bereits Kontakt mit dem Virus. Die „Durchseuchung“, wenn man den Begriff verwenden will, hat für die meisten Bürgerinnen und Bürger längst stattgefunden.

Auch unter den Geimpften.
Das sage ich ja seit mehreren Monaten: Die Impfung schützt zuverlässig vor schweren Verläufen, Tod, und auch vor Long Covid, aber eben nicht dauerhaft vor einer Ansteckung.
Wird sich also jeder irgendwann infizieren?
Solange wir keinen Impfstoff haben, der eine Infektion dauerhaft verhindert, ja. Es stimmt also nicht, zu sagen, es fände eine „Durchseuchung durch die Hintertür statt“, weil die Infektionen ja immer stattgefunden haben und auch weiterhin stattfinden werden. Ein Großteil der Bevölkerung hat es schon durchgemacht.
Die „Durchseuchung“ hat mit großer Wahrscheinlichkeit für die meisten Bürgerinnen und Bürger schon längst stattgefunden! Die @BMBF_Bund Immunitätsstudie wird das aber noch einmal genau aufzeigen.
— Jonas Schmidt-Chanasit (@ChanasitJonas) July 9, 2022
Manche ja sogar schon zwei oder drei Mal.
Ja, die „Durchseuchung“, wenn man es so nennen will, wird mehrmals stattfinden. Wie bei den anderen endemischen Coronaviren oder auch den Influenzaviren.
Ist das gut oder schlecht?
Was wäre denn die Alternative – eine komplette Abschottung wie in China, die dazu führen soll, dass gar keine Infektionen mehr auftreten? Dass diese Strategie mit großen Problemen einhergeht, sehen wir ja aktuell in Shanghai: Impfstoffe mit einer geringen Wirksamkeit und weniger durchgemachte Infektionen in der Bevölkerung führen zu dauerhaften Lockdowns und massiven Kollateralschäden.
Ergibt es denn überhaupt noch Sinn, sich zu schützen? Eine Maske zu tragen im Supermarkt?
Jeder muss sein persönliches Gesundheitsrisiko in Bezug auf Corona einschätzen und dann selbst entscheiden wie er sich verhält, genauso, wie man es auch bei anderen Gesundheitsrisiken macht. Ein Beispiel: Ich fahre in Bangkok immer mit dem Motorrad, da ist mein Risiko, tödlich zu verunglücken, tausendmal höher als an Corona zu versterben, aber ich nehme das in Kauf, weil ich anders gar nicht rechtzeitig zur Arbeit komme. Sollen Leute, die Kettenraucher sind und auch noch andere gravierende Gesundheitsrisiken eingehen, im Supermarkt eine FFP2-Maske tragen, um für sich das Risiko einer Coronavirus-Infektion zu reduzieren? Das muss jeder selbst entscheiden.

Tragen Sie selbst noch Maske beim Einkaufen?
Wenn es sehr voll ist und die Situation eine Übertragung überhaupt ermöglicht, dann würde ich eine Maske tragen. Aber wenn ich einkaufe, ist es meistens leer und in meinem großen Supermarkt gibt es auch kein Aerolsolproblem. Kleine Räume, in denen man eng gedrängt steht, da kann eine korrekt getragene FFP2-Maske das persönliche Risiko einer Infektion natürlich verringern. Viel wichtiger ist es jedoch, dass Menschen mit Krankeitssymptomen nicht zur Arbeit gehen oder wenn sie dringend raus müssen eine OP-Maske tragen, um andere zu schützen.
Was ist mit Post Covid? Das Risiko ist ja noch sehr unerforscht.
So etwas sehen wir auch bei anderen Infektionskrankheiten, aber der Fokus liegt derzeit eben sehr stark auf Corona und durch die hohe Zahl der Fälle tritt auch Post Covid geballt auf. Weitere Forschung ist dringend notwendig, um besere Therapie-Konzepte zu etablieren. Aber was wäre die Alternative zur persönlichen Gesundheitsrisiko-Abschätzung? Dann wären wir sehr schnell wieder beim chinesischen Weg, den kein Rechtsstaat in der Mitte Europas gehen kann.
Derzeit fallen Flüge aus und Krankenstationen schließen, weil massenhaft Mitarbeiter Corona haben oder in Quarantäne sind.
In diesen kritischen Bereichen muss es technische Lösungen geben, etwa regelmäßige PCR-Tests, die sicherstellen, dass wirklich nur die Zuhause bleiben, die Symptome haben und infektiös sind. Da muss es gezielte, qualitativ hochwertige Testkonzepte geben. Man muss aber auch sehen, dass diese massiven Probleme im medizinischen Bereich daher rühren, dass wir beim Personal dort schon vor Corona auf Kante genäht waren und das seit Jahren, gerade im Bereich der Pflege.
Wäre es sinnvoll, dass jeder seine Antikörper testen lässt, um seine Immunität zu kennen?
Nein, die Höhe der Antikörper sagt nicht unbedingt etwas über den Schutz vor Infektion aus. Es wird derzeit eine Immunitätsstudie vom Bundesforschungsministerium durchgeführt, da wird auch geprüft, ob die Teilnehmer Antikörper durch eine Infektion oder durch die Impfung haben. Da kann man dann auch sehen, wie viele Geimpfte unbemerkt eine Infektion durchgemacht haben.
Wie blicken Sie auf den Herbst?
Wir haben momentan einen hohen Infektionsdruck, der kann auch dazu führen, dass im Herbst viele Menschen noch besser vor einer Re-Infektion geschützt sind. Man muss sich aber auch darauf vorbereiten, dass die Zahlen wie bei allen saisonalen Virus-Infektionen im Herbst ansteigen. Da stimme ich Herrn Lauterbach zu.
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Brauchen wir noch die Inzidenzen?
In dieser Phase der Pandemie brauchen wir keine anlasslosen Massentests, die zu nicht repräsentativen Inzidenzen führen. Was wir brauchen, ist eine repräsentative Stichprobe, die regelmäßig getestet wird und anhand derer man das Infektionsgeschehen in der Bevölkerung sehen und auch die Krankheitsschwere abschätzen kann.