Hamburger Sozialarbeiter zu Silvester-Krawallen: Ursachenforschung statt Populismus!
Serkan Bicen (35) wuchs im Bezirk Altona auf. Etwa als er zwölf war, erlebte er es das erste Mal, wie sich das anfühlt, von der Polizei kontrolliert zu werden, einfach weil man ein wenig anders aussieht. Wie die diesjährigen Silvester-Krawalle hierzulande diskutiert werden, wundert den Hamburger Sozialarbeiter. Anstatt rassistisch-populistische Diskurse aufzumachen, solle dem Problem konstruktiv begegnet werden. Mit welchen Mitteln – das verriet er im Gespräch mit der MOPO.
Serkan Bicen (35) wuchs im Bezirk Altona auf. Etwa als er zwölf war, erlebte er es das erste Mal, wie sich das anfühlt, von der Polizei kontrolliert zu werden, einfach weil man ein wenig anders aussieht. Wie die diesjährigen Silvester-Krawalle hierzulande diskutiert werden, wundert den Hamburger Sozialarbeiter. Anstatt rassistisch-populistische Diskurse aufzumachen, solle dem Problem konstruktiv begegnet werden. Mit welchen Mitteln – das verriet er im persönlichen Gespräch mit der MOPO.
Punkt eins, der Bicen irritiert: dass in der Öffentlichkeit nur über migrantische Jugendliche gesprochen wurde. Das war übrigens schon damals in Stuttgart so, wo er drei Jahre lang arbeitete und 2020 die Ausschreitungen gegen Corona-Maßnahmen begleitete, genau so wie nun bei den Vorkommnissen in Berlin-Neukölln.
Fakt ist: Damals wie heute entspricht das nur teilweise der Wahrheit. Mittlerweile gibt es immer mehr Berichte, dass auch anderswo im Land Rettungskräfte attackiert wurden – oftmals von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Umfassende Zahlen indes stehen aus, werden beim Innenausschuss des Bundestags noch gesammelt.
Stuttgart und Neukölln mit großem Migranten-Anteil
„Aber dass, wenn es in Stuttgart oder Neukölln kracht, erstmal vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund beteiligt sind, das ist zunächst einmal einfach Statistik“, sagt Bicen. Stuttgart ist eine der Städte mit dem höchsten Migrantenanteil (46 Prozent), Neukölln einer der migrantischsten Stadtteile der Republik (47 Prozent). „Aber Medien und bestimmte Parteien stürzen sich eben darauf, wenn dort etwas passiert“, so Bicen.
Wenn CDU-Chef Friedrich Merz über „kleine Paschas“ schwadroniere oder seine Partei die Vornamen der Randalierer erfrage, dann gehe das schlicht an der Realität vorbei, sagt Bicen. Seine Erfahrung in Stuttgart und Hamburg: Delinquente Jugendliche, also solche, die straffällig werden, die haben vor allem eins gemeinsam: Sie fühlen sich von der Gesellschaft abgehängt.
„Jugendliche sind in meinen Augen nicht unpolitisch“
„Jugendliche sind in meinen Augen auch nicht unpolitisch, im Gegenteil“, so der Sozialpädagoge weiter. Viele wären als sozial Abgehängte wütend. Und die Straftat, den Ausbruch – das werte er als politisches Statement. Schaut her, ihr lasst uns alleine! Und da spiele ein Migrationsstatus weniger eine Rolle als etwa Armut, fehlende Teilhabe. In allen Gesprächen werde immer wieder klar: „Die fühlen sich als Verlierer des Systems.“

Plakativ veranschaulicht an den Stuttgarter Krawallen: Zwölf-, Dreizehnjährige, die in großen Familien in viel zu engen Wohnungen aufwachsen, die dann rausgehen, um dem zu entfliehen. Und die dann bei Corona-Kontrollen der Grüppchen Strafgelder aufgebrummt bekommen, die die Familie wieder kaum zahlen kann, bei denen wachse eben auch Frust. Und dem könne eben nicht allein mit „Recht und Ordnung“ begegnet werden.
Silvester-Krawalle: Nach Gründen fragen, Ursachen erforschen
Und hier setzt die Arbeit von Bicen und seinen Kolleginnen und Kollegen an: Ins Gespräch kommen, nach Gründen fragen, Ursachen erforschen. Und das erwartet er auch von der Politik: „Statt Populismus brauchen wir Ursachenforschung!“ Etliche Jugendliche würden tagtäglich auch unter Mithilfe von Menschen wie ihm zurück auf den richtigen Pfad gebracht. Denn: „Sie wollen alle eigentlich ein Teil der Gesellschaft sein, wollen raus aus ihrem Milieu, wollen etwas erreichen.“
Ob die Lehre als Kfz-Mechatroniker, die Fortbildung zum Programmierer oder das BWL-Studium: Die meisten Jugendlichen, denen er begegnet, hätten Ziele und Wünsche. Und wüssten, wenn man mal länger mit ihnen spricht, natürlich, dass es etwa nicht okay ist, Rettungskräfte anzugreifen.
Wut auf den Staat, weil sie sich abgehängt fühlen
Verständnis habe er keines, wenn Jugendliche so etwas tun. Aber: Die Wut, die dahinter steckt, auf den Staat und auf seine Repräsentanten, die könne er zumindest nachempfinden. Die kennt er selbst noch von früher, wenn die Polizei ihn als Teenager nach dem Ausweis fragte und ob sein Fahrrad nicht etwa geklaut sei. Die Beamten selbst nimmt er dafür nicht in die Schuld, das sei eben von der Politik vorgegeben.
Was er im Gespräch immer wieder betont: Die Dinge seien eben deutlich komplexer, als zu sagen: Das liegt am Migrationshintergrund, Punkt. Das liegt am sozialen Status, Punkt. Das liegt am Geschlecht, Punkt.
Wobei Letzteres natürlich oft eine Rolle spielt. In mehr als 90 Prozent der Fälle von Gewaltdelikten sind die Täter männlich, Punkt. Daher sprächen sie auch über Männlichkeits-Konzepte mit den Jungs. Aber: Auch das sei eben nur ein Faktor und betreffe nur einen kleinen Teil aller männlichen Jugendlichen. Eigentlich eine Binsenweisheit, klar.
Einiges relativierte sich im Lauf der Debatte
Aber schaut man sich etwa die Zahlen der Berliner Silvesternacht an, wie sie nun, nach einigen Wochen Aufgeregtheit, präsentiert werden, dann relativiert sich doch auch einiges, ein bisschen zumindest. Hieß es anfangs, 145 Menschen seien in Berlin vorübergehend wegen Attacken auf Einsatzkräfte festgenommen worden, waren es später nur noch 44, darunter übrigens eine Frau. Und von den 44 haben 37 Polizisten angegriffen, und sieben sollen Feuerwehrleute attackiert haben. Das gehe beides nicht und sei nicht zu entschuldigen, so Bicen. Aber dass oft kontrollierte Jugendliche eine Wut auf Polizeibeamte verspüren – das kennt er eben selbst.
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Ursachenforschung, Einordnen, konstruktive Arbeit, so könnte man es zusammenfassen. Für Hamburg bricht Bicen am Ende des Gesprächs noch eine Lanze: Vieles laufe hier besser, unter anderem wegen der engen Zusammenarbeit von städtischen Sozialarbeitern und Jugendjustiz. Oft würden die schnell und unbürokratisch eine Lösung finden, auch gerade nach Gesprächen mit der Familie, wo eben oft Ursachen gefunden würden – Armut, Enge, manchmal Alkohol, Drogen, Gewalt-Erfahrungen.
Diese konstruktive Zusammenarbeit wünsche er sich auch anderswo.