Frage an die Expertin: Ist meine sexuelle Fantasie noch normal?
Ein Feminist, der im Bett gerne den dominanten Autokraten gibt, aufgeklärte Frauen, die von Überwältigungsfantasien erregt werden – Susanna-Sitari Rescio (59) kennt die geheimen Wünsche und Bedürfnisse von Männern und Frauen. Die Sexologin und Sexualtherapeutin hat eine eigene Praxis in Hamburg, arbeitet als Autorin und Dozentin und bildet Sexualberater aus. Mit der MOPO sprach sie über sexuelle Fantasien und deren Ursprung, über depressive Vaginen und betäubte Penisse.
- Deutsch (Deutschland)
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Ein Feminist, der im Bett gerne den dominanten Autokraten gibt, aufgeklärte Frauen, die von Überwältigungsfantasien erregt werden – Susanna-Sitari Rescio (59) kennt die geheimen Wünsche und Bedürfnisse von Männern und Frauen. Die Sexologin und Sexualtherapeutin hat eine eigene Praxis in Hamburg, arbeitet als Autorin und Dozentin und bildet Sexualberater aus. Mit der MOPO sprach sie über sexuelle Fantasien und deren Ursprung, über depressive Vaginen und betäubte Penisse.
MOPO: Frau Rescio, sind alle sexuellen Fantasien erlaubt – oder gibt es Grenzen?
Susanna-Sitari Rescio: Ich würde sagen, in der Fantasie ist grundsätzlich alles erlaubt. Es gibt aber sexuelle Fantasien, die der oder die Fantasierende als schlecht empfindet und gar nicht haben möchte. Diese Fantasien sind „Ich-dyston“, das bedeutet, dass sie nicht mit dem eigenen Selbstbild korrespondieren. Sie stehen im Widerspruch zu dem, wie und wer man sein möchte. Wenn diese Menschen zu mir in die Praxis kommen, versuche ich herauszufinden, welche Funktion diese Fantasie hat. Es gibt oft eine versteckte Botschaft, die es zu ergründen lohnt.
MOPO: Wie arbeiten Sie mit Klienten, die ihre eigenen sexuellen Fantasien als abstoßend empfinden?
Rescio: Ich beruhige diese Person und lade sie ein, sich auf eine Reise zu begeben, um zu verstehen, was die versteckte Funktion dieser Fantasie sein könnte. Fantasien sind ein Spiegel der inneren Welt. Wir wissen nicht alles über uns, es gibt das Unbewusste, wie Sigmund Freud uns gelehrt hat. Und in diesem unbewussten Land gibt es einiges zu entdecken. Diese ungewollten Fantasien sind wie Türen, durch die wir diese Räume erschließen und uns selbst besser kennenlernen können.
MOPO: Woher kommen solche Fantasien?
Rescio: Sexualität ist eine natürliche Funktion, die auf einem angeborenen und unwillkürlichen Erregungsreflex basiert. Ausgehend von diesem Reflex ist menschliche Sexualität ein lebenslanger Lernprozess. Das was uns erregt ist durch Erfahrungen, die wir machen, angelernt. Bereits in der Kindheit kann der Erregungsreflex in unterschiedlichen Momenten ausgelöst werden, ohne dass man es einordnen kann. Man spürt etwas im Körper und wir verknüpfen das unbewusst mit irgendetwas, das gerade passiert ist, was möglicherweise ebenfalls von starker emotionaler Aufregung begleitet war. Dadurch bilden sich Anziehungscodes und sexuell individuell relevante Reize sowie der Kern für spätere sexuelle Fantasien.
MOPO: Spannend. Welche Reize brauchen Männer und Frauen denn?
Rescio: Sexuelle Reize sind für alle grundsätzlich die fünf Sinne, die Fantasie und starke Gefühle wie zum Beispiel Verliebtheit. Ganz allgemein kann man sagen: Männer brauchen einen einzigen Reiz, damit der Erregungsreflex ausgelöst wird und haben dann meist auch Lust auf Sex. Bei uns Frauen gibt es diese Korrelation nicht. Wir brauchen mehrere sexuelle Reize gleichzeitig, damit die Erregung ausgelöst wird. Und dann gibt es keine direkte Autobahn zum Gehirn, also zur Lust, sondern einen Wanderpfad mit ganz vielen Baustellen. Denn es kommen viele Überlegungen hinzu, wie die Frage, passt es gerade, will ich das auch, tut es weh, werde ich schwanger oder ist es gefährlich. Das hindert Frauen oftmals daran, ihre Erregung in die Tat umzusetzen.
MOPO: Sie sagten kürzlich in einem Interview „solange wir depressive Vaginen und betäubte Penisse haben, leben wir eine extrem reduzierte Sexualität“. Was meinen Sie damit?
Rescio: Dafür muss ich ein bisschen ausholen. Sexualität ist unter anderem ein neurologischer Lernprozess. Das männliche Genital ist zum größten Teil außen, das heißt eindeutig sichtbar und greifbar. Von Beginn an bekommt es taktile Reize durch verschiedene Berührungen. Neurologisch betrachtet führt das zu einer deutlich stärkeren Wahrnehmungsfähigkeit des Penis bereits im frühen Alter. Die Erregungspfade bilden sich und verlaufen wie eine Autobahn zum Gehirn.
MOPO: Und bei Frauen?
Rescio: Bei uns Frauen ist der größte Teil des Genitals im Inneren des Körpers. Die Vulva bekommt im Kindesalter wesentlich weniger Aufmerksamkeit als der Penis, während die Vagina neurologisch betrachtet ein unbewohntes Land bleibt. Ohne taktile Reize bilden sich hier kaum Erregungspfade. Wir wissen aus der Neurologie, wenn wir bestimmte Verbindungen nicht verwenden, dann lösen sich die neuronalen Verknüpfungen, nach dem Prinzip „use it or lose it“. Bei uns Frauen haben sie sich oft nicht einmal gebildet und sollten sie sich gebildet haben, bauen sie sich wieder ab, wenn keine weiteren Berührungen kommen.
MOPO: Das müssen Sie bitte genauer erklären.
Rescio: Die meisten Frauen lernen ihre Vagina erst kennen, wenn sie ihre Regel haben und Tampons benutzen. Dieses monatlich stattfindende Ritual ist oftmals keine besonders lustvolle Angelegenheit. Dann kommt das erste Mal – oder die ersten Male – wahrscheinlich selten mit erfahrenen Liebhabern. Diese ersten sexuellen Erfahrungen sind oftmals nicht besonders angenehm und können auch mit Schmerzen verbunden sein. Irgendwann folgt vielleicht die Geburt eines Kindes. Um es kurz zu fassen: Die Vagina, die eigentlich für Lust zuständig sein sollte, wird im Laufe des Lebens einer Frau zunächst immer wieder mit negativen Empfindungen verknüpft. Diese Tatsache, zusammen mit der erotischen Vernachlässigung der Vagina zugunsten des Kitzlers, führt dazu, dass die Vagina depressiv wird. Es ist ein bisschen wie eine beste Freundin, die wir vernachlässigen. Sie ist gekränkt und mürrisch, irgendwann reagiert sie nicht mehr.
MOPO: Und wie kommt es zu den betäubten Penissen?
Rescio: Hier spielen gesellschaftliche Stereotypen und Idealisierungen eine große Rolle. Der Mann denkt: Er steht, also bin ich. Der erigierte Penis ist der Identitätsausweis des Mannes. Wir haben hier jedoch eine doppelte Zwangssituation: Es ist nicht nur der Mann, der eine Erektion haben möchte, um seine Männlichkeit zu bestätigen – die Frau möchte wiederum ihre Attraktivität durch die Erektion des Mannes bestätigt bekommen, selbst wenn sie gar keine Lust auf Sex hat.
MOPO: Der Penis ist also überfordert?
Rescio: Gewissermassen. Es ist nämlich nicht die Frage, ob ein Mann Erektionsprobleme bekommt, sondern wann und wie schwer. Wenn sein Penis nicht so reagiert, wie der Mann es möchte, bekommt er Panik, weil seine Identität in Frage gestellt wird. Er sucht also Mittel und Wege, damit seine Erektion stark bleibt und immer wieder kommt. Damit überfordert er seinen Penis. Er wechselt dann womöglich vom vaginalen zum analen Sex, sucht womöglich immer stärkere visuelle Reize, Hardcore-Pornos, immer härteren Sex mit der Partnerin oder mit dem Partner, mechanisch und mit viel Druck. All das ist kurzfristig hilfreich, bewirkt aber auf Dauer genau das Gegenteil. Es betäubt den Penis, der an und für sich ein fühlendes Organ ist.
MOPO: Ich würde gerne nochmal zurück zu den sexuellen Fantasien kommen. Es gibt Frauen, die durch Überwältigungsfantasien erregt werden. Wie kommt es dazu?
Rescio: Überwältigungsfantasien sind oftmals eine Bewältigungsstrategie. In der Fantasie können wir die Überwältigung imaginieren – wir sind in dem Fall jedoch nicht nur Hauptdarstellerinnen, sondern auch Regisseurinnen. Wir haben die Kontrolle. Von daher können sie unbewusst der Bewältigung von erlebten, übergriffigen Situationen dienen.
MOPO: Jede Frau mit Überwältigungsfantasien hat demnach sexuelle Übergriffe erlebt?
Rescio: Es kann einen solchen Ursprung haben – aber nicht jede Frau mit Überwältigungsfantasien hat auch zwangsläufig eine dramatische Erfahrung gemacht. Es können auch minimal grenzüberschreitende Erlebnisse sein, die in dem Moment sowohl körperlich als auch emotional sehr erregend gewesen sein können. Es gibt aber auch einen gesellschaftlichen, politischen Hintergrund. Die patriarchale Gesellschaft basiert auf Dominanz und Unterwerfung – Männer über Frauen, starke Männer über schwache Männer. Damit einher geht laut der Wissenschaftlerin Riane Eisler eine „Erotisierung der Dominanz und der Unterwerfung“. Wir haben es verinnerlicht, als sei es Teil der Weiblichkeit: Frauen möchten überwältigt werden, Frauen möchten dominiert werden.
MOPO: Unterscheiden sich sexuelle Fantasien von Frauen und Männern?
Rescio: Nach meiner Erfahrung gibt es keine großen Unterschiede, die Muster sind bei allen Geschlechtern ähnlich. Es gibt auch bei Männern Dominanz- und Unterwerfungsfantasien, Fantasien zu zweit, zu dritt, mit dem Nachbarn, mit der Nachbarin. Und auch bei Männern gibt es Ich-dystone Fantasien. Ich habe Klienten, die zu mir kommen und sagen: Ich bin Feminist, ich bin für Gleichberechtigung, ich respektiere meine Partnerin, aber im Schlafzimmer werde ich zu einem dominanten, unterwerfenden Kerl und genieße das – aber ich finde es furchtbar.
MOPO: Was sagen unsere sexuellen Fantasien über uns aus?
Rescio: Sexuelle Fantasien sind Teil unserer sexuellen Persönlichkeit und eine zentrale Ressource für die eigene Erregung. Sie zeigen bestimmte Aspekte unserer Persönlichkeit, die uns manchmal unbewusst sind. Anders als sexuelle Wünsche und Bedürfnisse können sexuelle Fantasien ruhig Fantasien bleiben, müssen also nicht in die Tat umgesetzt und auch nicht zwangsläufig dem Partner oder der Partnerin erzählt werden.