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  • Pastorin und Seelsorgerin Kerstin Lammer
  • Foto: Florian Quandt

Hamburger Pastorin in Sorge: „Pandemie verstärkt Probleme wie ein Brennglas“

Kerstin Lammer weiß viel über die Ängste und Nöte der Hamburger: Sie ist leitende Pastorin für den Hauptbereich „Seelsorge und gesellschaftlicher Dialog“ der Nordkirche und ist für die landeskirchlichen Seelsorgedienste zuständig – unter anderem bei der Polizei und Feuerwehr, in Gefängnissen und in Krankenhäusern. Zu Beginn der Pandemie gründete sie gemeinsam mit der St.-Petri-Kirche in der City eine spezielle Corona-Seelsorge-Hotline. Innerhalb von drei Monaten wurden hier mehr als 1500 Anrufe beantwortet. Im Interview mit der MOPO spricht Lammer über die Auswirkungen der Pandemie und darüber, wie Menschen gut durch Krisen kommen können.

MOPO: Frau Lammer, was waren die größten Herausforderungen für die Seelsorge dieses Jahr?

Kerstin Lammer: Gerade der Beginn der Pandemie war schwierig. Viele Seelsorger haben sich gefragt, ob der Besuch eines Menschen mehr hilft oder gefährdet. Einerseits könnten Seelsorger ihn mit dem Virus anstecken, andererseits braucht ein Mensch in einer Krise Unterstützung. Das ist eine schwierige ethische Frage und man weiß nicht mehr, was richtig ist. Wir konnten dann alternative Formen über Briefe, Telefonate und Videocalls entwickeln und mittlerweile sind auch persönliche Besuche unter Corona-Bedingungen möglich.

Wie haben sich Lockdown und Kontaktbeschränkungen auf Menschen ausgewirkt?

Die Pandemie hat bereits bestehende Probleme wie ein Brennglas verstärkt: Konflikte in Beziehungen, finanzielle oder berufliche Sorgen. Die einen sind vereinsamt, für andere wurde es in der kleinen Wohnung mit mehreren Kindern viel zu eng. Einige Anrufer haben auch von speziellen, Corona-bedingten Problemen erzählt, wie Menschen, die zwischen Homeoffice und Homeschooling das Gefühl hatten, verrückt zu werden, oder Menschen, die Angst hatten, krank zu werden.

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Welche Personengruppen waren besonders betroffen?

Unsere Sorgen galten vor allem den Sterbenden, dass sie nicht alleine sterben müssen, und den Schwächsten: Alte, Kranke, Kinder. Bundesweit sind in den Regionen, wo die Kontaktbeschränkungen strenger waren, auch die Anrufe bei der Telefonseelsorge gestiegen, häufig wegen Angst, Depressionen, Einsamkeit und suizidaler Gedanken. Auch Suchtprobleme sind angestiegen. Durch unsere Seelsorge im Krankenhaus wissen wir auch, dass mehr häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder aufgetreten ist. Außerdem gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Kinder und Jugendliche während des Lockdowns psychische Probleme entwickelt haben. Es kommt zum Beispiel zu Entwicklungsverzögerungen oder sie fallen auf frühere Entwicklungsstufen zurück.

Und jetzt im zweiten Lockdown wird alles noch schlimmer?

Die wirtschaftlichen Probleme werden sich für die Gesellschaft und für viele einzelne noch verschärfen. Meine große Sorge ist: Schaffen wir es dann trotzdem, einen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren? Da stehen wir vor großen ethischen Herausforderungen.

Wie kommen Menschen gut durch eine Krise?

Jeder Mensch ist anders. Nach dem Konzept der „Salutogenese“ findet sich aber jemand gut in der Welt zurecht, wenn er früh im Leben die Überzeugung erlangt hat, dass sie gut und verstehbar ist. Für mich als Theologin ist das eine religiöse Überzeugung: Es gibt all das Schlechte, was uns begegnet, aber das Leben – für mich ist es Gott – meint es gut mit uns. So eine Überzeugung kann einen gesund halten, auch wenn einem Schlechtes widerfährt. Ob Menschen genug Zuversicht, Liebe und Hoffnung haben, wird darüber entscheiden, wie sie diese Krise verarbeiten können.

Und was macht Ihnen Hoffnung?

Ich finde es unheimlich ermutigend, wie viel Kraft und Fantasie viele Menschen mobilisiert haben und wie solidarisch viele sind. Ob Hilfe beim Einkaufen, klatschen um 21 Uhr oder eine Geburtstagsfeier über Zoom – all das sind für mich Hoffnungszeichen.

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Und wie können sich Menschen ganz praktisch selbst helfen?

Indem man erkennt, dass es normal ist, sich einsam zu fühlen oder reizbarer als sonst zu sein. Ängste sollte man auch zulassen, aber begrenzt. Nach dem Motto: „Ich habe die Angst“ und nicht „die Angst hat mich“. Es hilft auch häufig (digitalen) Kontakt mit vertrauten Menschen zu haben und sich Dinge zu gönnen, die schön sind. Auch Alltagsroutinen können stabilisieren.

Und wie helfen wir anderen?

Sich gegenseitig Gutes zu tun, heißt derzeit leider auch, einander fernzubleiben. Aber wir können trotzdem zusammenstehen. Durch Corona wird vielen bewusst, was und wer einem wichtig ist – das sollte man den Menschen auch sagen.

Was haben wir durch die Pandemie sonst noch gelernt?

Wir haben bemerkt, dass wir uns das Wesentliche im Leben nicht kaufen und auch nicht selber geben können: Wir werden geboren, wir werden geliebt, wir werden gepflegt. Wir sind darauf angewiesen, dass andere Menschen sich uns zuwenden. Jetzt haben wir erlebt, wie schmerzlich es ist, wenn wir uns diese Nähe einander nicht geben können. Ich wünsche mir, dass uns dieses Bewusstsein erhalten bleibt.

Hinweis: In einer gemeinsamen Aktion der drei Hauptkirchen (St. Petri, St. Jacobi und St. Katherinen) und des Beratungs- und Seelsorgezentrums St. Petri wird die Kirche St. Jacobi in den „Zwölf Heiligen Nächten” vom 25. Dezember bis zum 5. Januar täglich ab 17 Uhr zur „Seelsorgekirche“. Hier können Menschen, die zu Weihnachten oder Silvester keine Gottesdienste besuchen konnten, einzeln und im „Walk through“ verschiedene Stationen in der Kirche durchlaufen. So können sie auch den Segen erhalten, ein Hoffnungslicht anzünden und ein Seelsorgegespräch führen. Es sind alle Hamburger herzlich willkommen.

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