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Zwar gibt es noch keine offiziellen Zahlen – doch schon jetzt ist klar, dass die Marke von 10.000 Teilnehmern deutlich überschritten wurde.
  • Zeichen setzen für die Demokratie: Zwischen 50.000 und 80.000 Menschen nahmen vergangene Woche Freitag an der Demo gegen AfD und Rechtsextremismus teil.
  • Foto: Marius Röer

Zehntausende auf der Straße: Freudentränen und Wahnsinns-Enge

Die Frau hat Tränen in den Augen. Es sind Freudentränen. „Ich bin so froh zu sehen, wie viele Menschen sich hier versammelt haben“, sagt Sabine Kahl, 37-jährige Krankenschwester aus Eimsbüttel. „Endlich. Endlich gehen die Demokraten auf die Straße und zeigen dem braunen Gesocks den Stinkefinger. Es wurde höchste Zeit. Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt. Auf diesen Aufstand der Anständigen habe ich lange gewartet.“

Am Freitagnachmittag auf dem Jungfernstieg und den umliegenden Straßen. „Hamburg steht auf!“ lautet die Parole, die die Veranstalter, der Verein „Unternehmer ohne Grenzen“, die Evangelische Nordkirche und der DGB, ausgegeben haben – und die Bürger enttäuschen die Initiatoren nicht. An der Kundgebung „gegen Rechtsextremismus und neonazistische Netzwerk“ nehmen unglaublich viele Demonstranten teil. Der Jungfernstieg ist schwarz vor Menschen: Trotz Schnee und eisiger Kälte sind es nach Angaben der Veranstalter „mindestens 80.000“, die Polizei schätzt 50.000.

Als das Gedränge gefährlich wird, brechen die Veranstalter die Demonstration um 16.40 Uhr vorzeitig ab. Eine MOPO-Reporterin sah einen Rettungswagen, der in der Menge feststeckte, das Alsterhaus hatte zeitweise die Türen geschlossen, musste sie aber wieder öffnen, weil die Menschen dagegen gequetscht wurden. Zeitweise hielten keine U-Bahnen mehr am Jungfernstieg, hunderte Menschen bahnten sich einen Weg durchs Alsterhaus, um zur nächsten U-Bahn-Station zu gelangen. 12 Einsätze mit Rettungswagen wegen Schwächeanfällen meldet die Feuerwehr später.

Bürgermeister Peter Tschentscher spricht zu den Demonstranten. „Die Botschaft an die AfD und ihre rechten Netzwerke ist: Wir sind die Mehrheit und wir sind stark.“ Patrick Sun
Demo
Bürgermeister Peter Tschentscher spricht zu den Demonstranten. „Die Botschaft an die AfD und ihre rechten Netzwerke ist: Wir sind die Mehrheit und wir sind stark.“

„Es geht um viel. Es geht um unsere Demokratie. Um unser aller Freiheit“

Warum so viele gekommen sind? „Weil viel auf dem Spiel steht“, meint Rebecca Gfrörer (49) aus Lemsahl-Mellingstedt, die ihre Kinder Noah (10) und Mathilda (8) dabei hat. „Es geht um unsere Demokratie. Um unser aller Freiheit.“

Hamburg ist bunt und soll auch bunt bleiben", meint Rebecca Gfrörer (49) aus Lemsahl-Mellingstedt. Sie hat ihre Kinder Noah (10, l.) und Mathilda (8) mit zur Demo gebracht. Patrick Sun
Demo
Hamburg ist bunt und soll auch bunt bleiben“, meint Rebecca Gfrörer (49) aus Lemsahl-Mellingstedt. Sie hat ihre Kinder Noah (10, l.) und Mathilda (8) mit zur Demo gebracht.

Ganz offensichtlich haben die Enthüllungen des Recherchenetzwerks Correctiv über das Neonazi-Geheimtreffen in Potsdam das Fass zum Überlaufen gebracht. Menschen, Migranten, Fremde millionenfach abschieben? Nach Nordafrika? „Diese Faschisten sind doch krank“, meint Peter Schwarz (45) aus Rahlstedt. „Dazu kann man nicht mehr schweigen.“

Stefanie Timm (53) und ihr Sohn Johannes (31) aus Lauenburg halten ein Plakat hoch, auf dem es heißt: „Bunte Truppe statt braune Suppe.“ Stefanie Timm sagt: „Ich gebe ehrlich zu: Ich habe Angst. Es gibt so viele Menschen, die völlig überfordert sind von der Globalisierung, vom Klimawandel und all den anderen großen Problemen unserer Zeit. Solche Menschen sind anfällig für Parteien wie die AfD, die einfache Lösungen für alles präsentieren. Nicht auszudenken, der AfD würde es gelingen, an die Macht zu kommen.“

„Wir haben Angst. Nicht auszudenken, die AfD würde an die Macht gelangen“

„Bunte Truppe statt braune Suppe“: Johannes Timm (31) aus Lauenburg mit seiner Mutter Stefanie (53). Patrick Sun
Demo
„Bunte Truppe statt braune Suppe“: Johannes Timm (31) aus Lauenburg mit seiner Mutter Stefanie (53).

Bürgermeister Peter Tschentscher wendet sich als erster an die Demonstranten: Mit Bezug auf das Potsdamer Geheimtreffen sagt er, Rechtsradikale in Deutschland planten „einen Umsturz und eine systematische sogenannte ,Remigration‘ von Millionen Bürgern unseres Landes. Darauf kann es aus einer demokratischen Stadtgesellschaft heraus nur eine entschlossene Antwort geben: Nie wieder!“ Großer Jubel bricht aus.

Danach fährt Tschentscher fort: „Die Botschaft an die AfD und ihre rechten Netzwerke ist: Wir sind die Mehrheit und wir sind stark, weil wir geschlossen sind und weil wir entschlossen sind, unser Land und unsere Demokratie nach 1945 nicht ein zweites Mal zerstören zu lassen.“ Die Zuhörer unterbrechen ihn, skandieren im Chor: „Wir sind mehr, wir sind mehr.“

Noch etliche weitere Redner treten ans Mikrofon. Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit sagt, dass sie unfassbar froh ist, „dass Hamburg auf die Straße geht, solidarisch und stabil gegen rechte Ideologien, Verschwörungs- und Vertreibungsphantasien, und klar macht: In unserer Stadt ist kein Platz für irregeleitete Volkstümelei, für Rassismus und für alle Formen von Faschismus.“

„Wir wollen nicht, dass das gesellschaftliche Klima kälter wird“

Susanne Wienhold (66) erzählt, sie habe eine 85-jährige Mutter, die zwar die deutsche Staatsbürgerschaft hat, aber aus Polen stammt. „Die fragt sich, ob sie mit der Abschiebung rechnen muss.“ Patrick Sun
Demo
Susanne Wienhold (66) erzählt, sie habe eine 85-jährige Mutter, die zwar die deutsche Staatsbürgerschaft hat, aber aus Polen stammt. „Die fragt sich, ob sie mit der Abschiebung rechnen muss.“

Sehr bewegend ist, was Bischöfin Kirsten Fehrs von der evangelischen Nordkirche berichtet: Dass sie in den vergangenen Tagen mit vielen Menschen gesprochen habe, die in Angst leben. „Da ist eine jüdische Frau, die erzählte, dass sie ernsthaft überlegt, wohin sie auswandern könnte. Sie hat mich gefragt: ,Wohin soll ich gehen, wenn in Deutschland eine rechtsextreme Partei an die Macht kommt?‘ Ich habe mit muslimischen Frauen gesprochen, die mir berichten, wie die bösen Blicke in Bus und Bahn zunehmen.“

Fehrs warnt: „Das ist das Ergebnis, wenn Rechtsextremisten an Boden gewinnen. Wenn Vertreibungsfantasien die Runde machen. Dann breitet sich im Land ein kriechender, nasser Frost aus, so wie wir das heute hier erleben. Wir wollen nicht, dass das gesellschaftliche Klima kälter wird. Auch das ist ein Klimawandel, den wir aufhalten müssen!“

„AfD nutzt demokratische Instrumente aus, um Grundrechte auszuhebeln“

Ursprünglich ist geplant gewesen, die Kundgebung gegen Rechts auf dem Rathausmarkt durchzuführen. Diesen Plan hat dann die AfD durch einen Trick durchkreuzt: Sie beraumte für Freitagnachmittag eine Fraktionssitzung an, so dass das Bannmeilengesetz zum Tragen kam: Im Umkreis von 350 Metern um das Rathaus dürfen dann keine Versammlungen stattfinden.

Das sei typisch für Rechtsextremisten, so der SPD-Politiker Kazim Abaci, einer der Initiatoren der Kundgebung: „Die AfD nutzt demokratische Instrumente aus, um Grundrechte auszuhebeln. Das zeigt einmal mehr, dass sie die Demokratie verachtet.“

Kazim Abaci (58), SPD-Politiker und Vorstandsmitglied von „Unternehmer ohne Grenzen“, spricht zu den Demonstranten. Abaci gehört zu den Organisatoren der Demo. Patrick Sun
Demo
Kazim Abaci (58), SPD-Politiker und Vorstandsmitglied von „Unternehmer ohne Grenzen“, spricht zu den Demonstranten. Abaci gehört zu den Organisatoren der Demo.

Sollte die AfD gehofft haben, auf diese Weise die Demo zu verhindern oder zu erschweren, dann ist die Rechnung nicht aufgegangen. „Als ich von diesem unverschämten Winkelzug hörte, habe ich entschieden: Nun gehe ich erst recht hin“, sagt einer der Teilnehmer, holt seine Trillerpfeife raus und bläst mit aller Kraft hinein. Andere singen oder skandieren Parolen wie: „Ganz Hamburg hasst die AfD!“ Jeder versucht so laut zu sein wie möglich – damit die AfD-Abgeordneten in ihrem Sitzungsraum im Rathaus sie auf keinen Fall überhören. 

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