Kult-Imbiss auf St. Pauli: Wenn jemand den „Dicken“ macht, gibt’s ’ne klare Ansage
Jeden Tag drehen sie ihre Runden im Fenster an der Clemens-Schultz-Straße. Und das seit 1966. Herren im piekfeinen Zwirn, Obdachlose, Touristen und Anwohner kommen, um sich eines der Hähnchen im „Mini-Grill“ zu genehmigen. In den Laden passen höchstens sieben Kunden. Doch die insgesamt gerade mal 28 Quadratmeter sind auf dem Kiez eine Institution. Ein Ort, an dem sich Nachbarn auf einen Schnack treffen, einsame Senioren jemanden zum Reden finden und Obdachlose umsonst etwas zu essen bekommen. Auch für Peter Lüllemann (62) eine ganz besondere Welt. 33 Jahre lang stand er hinterm Tresen. Jetzt hat er das aktive Geschäft schweren Herzens seinem Sohn Marc (31) übergeben.
Jeden Tag drehen sie ihre Runden im Fenster an der Clemens-Schultz-Straße. Und das seit 1966. Herren im piekfeinen Zwirn, Obdachlose, Touristen und Anwohner kommen, um sich eines der Hähnchen im „Mini-Grill“ zu genehmigen. In den Laden passen höchstens sieben Kunden. Doch die insgesamt gerade mal 28 Quadratmeter sind auf dem Kiez eine Institution. Ein Ort, an dem sich Nachbarn auf einen Schnack treffen, einsame Senioren jemanden zum Reden finden und Obdachlose umsonst etwas zu essen bekommen. Auch für Peter Lüllemann (62) eine ganz besondere Welt. 33 Jahre lang stand er hinterm Tresen. Jetzt hat er das aktive Geschäft schweren Herzens seinem Sohn Marc (31) übergeben.
Sich um den Garten kümmern, einfach mal nichts tun, die Ruhe genießen – daran muss sich Peter erst gewöhnen. „Das ist sehr schwer für mich. Ich weiß gar nicht, wie das geht“, sagt der Mann, der sein Leben lang hart gearbeitet hat. Schon mit elf Jahren trug er Zeitungen aus und half Senioren, ihre Einkäufe in die Wohnung zu schleppen. Nach der Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann haute Peter ab. Da war er 19. Er wollte die Welt sehen und hatte ein Jobangebot in Amerika. Peter arbeitete in der Fotoindustrie und entwickelte als Abteilungsleiter Bilder. Nach drei Jahren kam er zurück. Das Heimweh war einfach zu groß. „Ich bin Hamburger durch und durch. Das ist für mich echte Heimat“, sagt der Mann in breitem Hamburger Dialekt.
„Auf dem Kiez wird noch Gemeinschaft gelebt“
Zurück in Deutschland war für ihn klar: Er wollte nicht mehr fest angestellt sein. Peter hatte gespart und machte sich selbstständig. Warum gerade mit Imbissen? Er grinst. Weil er gerne und gut kocht. „Und isst“, sagt Sohn Marc und tätschelt seinem Vater lachend den Bauch. Der „Mini-Grill“ war sein fünfter Laden. Obwohl ihm alle Freunde davon abrieten, auf den rauen, gefährlichen Kiez zu gehen, übernahm er den bereits 1966 eröffneten Imbiss. Anfangs sei es furchtbar gewesen. Gegenüber dem Laden vertickten Drogendealer ihren Stoff. „Die Gehwege waren übersät mit Tretminen, die Häuser verkommen, überall lag Dreck.“

Stress gab es trotzdem nur selten. In der ganzen Zeit musste Peter lediglich zweimal die Polizei rufen. Einmal sei es heftig gewesen. Ein Kunde hatte eine türkische Familie rassistisch beleidigt. Der Imbiss-Chef verwies ihn des Ladens. Der Mann brüllte und flippte aus. Er griff die Familie an. Peter zerrte ihn raus. Draußen pöbelte der Betrunkene weiter und schlug die Glasscheibe der Haustür ein. Um sich prügelnd wurde der Mann von Polizisten abgeführt. Als wieder Ruhe war, fand Peter die Rolex des Ausgeflippten vor der Tür. Drei Tage später stand der Mann kleinlaut im Imbiss. Er nahm seine Uhr, bezahlte die Glasscheibe und entschuldigte sich. „Er war hoffnungslos betrunken und konnte sich seinen Ausraster auch nicht erklären.“ Für Peter war die Sache damit erledigt. „Wir sind hier auf St. Pauli. Eine Entschuldigung ist eine Entschuldigung. Damit ist es dann auch gut.“
Wer hier auf dicke Hose macht, kriegt ‘ne klare Ansage
Die rauen Zeiten sind längst vorbei. Der Kiez hat sich gewandelt zu einem lebens- und liebenswerten Viertel, findet Peter. „Das ist hier ein Dorf. Man kennt sich, hat eine tolle Nachbarschaft.“ Jeder macht sein Ding – das gibt es auf St. Pauli nicht. „Auf dem Kiez wird noch Gemeinschaft gelebt.“ So auch im „Mini-Grill“. Manche Kunden kennt Peter vom ersten Tag an. Von vielen musste er sich aber auch schon verabschieden. Wenn Nachbarn über all die Jahre ihre Lebensgeschichte erzählten, irgendwann krank wurden und dann plötzlich nicht mehr wiederkamen, sei es schon manchmal sehr emotional gewesen. „Wir verdienen mit dem Imbiss nicht nur unser Geld. Wir nehmen uns Zeit für die Leute, gehen auf sie ein, hören ihnen zu.“

Und nicht nur das. Häufig geht auch was umsonst über den Tresen. Wenn Kinder, die stets eine Cola-Kiste aus dem Lager geholt bekommen, damit sie über den Tresen gucken können, eine Pommes kaufen wollen und nicht genug Erspartes dabeihaben. Oder Obdachlose um einen Kaffee oder etwas zu essen bitten. „Natürlich helfen wir gerne mal. Nicht jeder hat immer genug Geld dabei.“

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Wenn jemand „den Dicken“ macht, gibt es allerdings eine klare Ansage. Wie bei einem bekannten Luden, dessen Namen Peter nicht nennen möchte. Er forderte Pommes mit Ketchup und Mayo, hatte aber zu wenig Geld dabei. Als Peters Frau Bea, die seit mehr als 30 Jahren im Imbiss arbeitet, ihn auf das fehlende Geld hinwies, baute sich der muskulöse Typ vor ihr auf. „Weißt du eigentlich, wer ich bin?“ Bea antwortete ruhig: „Ja, das weiß ich. Du bist einer, der entweder nur Ketchup oder nur Mayo kaufen kann.“ Peter lacht. Ja, seine Frau, die sei herzensgut, aber manchmal auch so ein kleiner Pitbull.
Früher kam die Kundschaft vor allem aus dem Rotlichtmilieu
Luden, Huren – Kunden aus dem Milieu hatte Peter viele. Probleme gab es nie. Heute kommen neben den Anwohnern vor allem Menschen, die auf dem Kiez arbeiten, und Touristen. Partyvolk hingegen ist selten. Klar stolpern ab und an Betrunkene in den Laden, aber in der Regel keine Rotzvollen. „Zum Glück. Wenn ich nüchtern bin, kann ich mit Betrunkenen nicht umgehen“, sagt Marc. Einmal kam eine Gruppe Engländer rein. „Der eine hatte einen höheren Pegelstand als die Elbe bei Hochwasser.“ Als der Herr würgte, sprang Marc über den Tresen, packte ihn und zerrte den Mann vor die Tür. Er übergab sich in die Rose. „Das brauche ich echt nicht im Laden“, sagt der Sohn des Inhabers, der seit etwa fünf Jahren im Imbiss arbeitet. Obwohl er eigentlich nie ins Geschäft miteinsteigen wollte.

Marc lernte nach dem Abitur Fachinformatiker für Systemintegration. „Und was ist aus ihm geworden? Ein Hähnchenverkäufer. Aber er kann überall seinen Senf zugeben – ein großer Vorteil“, sagt sein Vater frotzelnd. Ein Spruch, den Marc offensichtlich schon häufiger gehört hat. Er verdreht kurz die Augen und berichtet dann, warum er letztlich doch miteinstieg. „Der Imbiss ist eine Institution. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihn nicht mehr gibt. Ich möchte das Erbe meiner Eltern fortführen.“

Marc genießt das unterschiedliche Publikum. Der feine Herr im Anzug neben dem Obdachlosen am Tresen. Immer jemand, mit dem man nett schnacken kann. Und immer auch ein Stück übrig gebliebenes Hähnchen. Das liebt er – auch nach all den Jahren noch. „Wenn da mal ein Stück auf dem Schneideteller liegen bleibt. Das ist so ein kleiner Schmackofatz. Ich nenne das die stetige Qualitätskontrolle.“ Auch sein Vater hat die Hähnchen nach mehr als drei Jahrzehnten noch nicht über. „Ab und an einfach gut. Das ist vergleichbar mit Sex. Hat man auch nicht jeden Tag.“ Ach so.
„Seine Frau darf das nicht sehen. Sonst gibt es keinen Sex mehr“
Marc möchte die Tradition fortführen. Hähnchen, Schaschlik, Currywurst, Salate – die alten Rezepte, die noch vom Vorgänger stammen, will er erhalten. Salate aus Eimern wird es auch bei ihm nicht geben. Allerdings kann er sich vorstellen, auch vegetarische Produkte anzubieten. „Schon klar, vegane Hähnchen. Und dazu dann noch Trüffelmayonnaise“, kommentiert sein Vater trocken. Marc schüttelt den Kopf. „Es kommen doch viele Vegetarier. Für die brauche ich auch was.“ Peter ist wenig überzeugt: „Die können ’ne Pommes oder Salate nehmen. Außerdem kommen die meistens, um zu sündigen.“ Immer wieder hätten sie Vegetarier, die sich in die letzte Ecke verdrücken und sich schnell ihr Fleisch reinpfeifen, um nicht gesehen zu werden. Wie ein türkischer Freund von Peter, der seine Currywurst im Lager isst. „Seine Frau darf das nicht sehen. Sonst gibt es keinen Sex mehr“, erzählt er lachend.
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Dass sein Sohn einiges ändern wird, ist Peter klar. Schwer fällt es ihm trotzdem. Zwar halte er immer noch die Hand über den „Mini-Grill“, hinterm Tresen steht Peter aber nicht mehr. „Das geht nicht gut mit Vater und Sohn. Wir sind zu unterschiedlich. Die jungen Leute sind ständig am Handy und verschicken Mails. Ich liebe es, Faxe zu schicken. Alleine diese Geräusche, die das Gerät macht. Herrlich.“ Marc schüttelt den Kopf. „Die Zeiten ändern sich. Jetzt heißt es loslassen.“ Das weiß der Imbiss-Chef. Doch wie – das weiß er noch nicht. Jahrzehntelang waren die 28 Quadratmeter, nachdem er die anderen Imbisse verkauft hatte, sein Leben. Der „Mini-Grill“ ist ein Stück Heimat. Nicht nur, aber vor allem für Peter.
Steckbrief Peter Lüllemann (62)

Spitzname und Bedeutung: Ich hatte mein ganzes Leben lang noch keinen Spitznamen.
Beruf/erlernte Berufe: Inhaber des „Mini-Grills“, gelernter Einzelhandelskaufmann
St. Pauli ist für mich … ein liebens- und lebenswertes buntes Viertel.
Mich nervt es tierisch, wenn … den Zustand gibt es bei mir nicht. Ich lasse mich nicht nerven.
Ich träume davon, … dass es keinen Krieg mehr gibt.
Wenn mir einer blöd kommt, … komm ich ihm blöd zurück.
Zum Abschalten … bin ich in Griechenland am Meer.
Als Kind … gab es kein Handy oder so was. Ich hatte Freunde, mit denen ich gespielt habe.
Meine Eltern … sind beide leider schon verstorben.
Vom Typ her bin ich … spontan.
Steckbrief Marc Lüllemann (31)

Spitzname und Bedeutung: Hähnchen-Marc oder auch Gockel-Kalle – keine Ahnung, wie es zu dem zweiten Namen gekommen ist.
Beruf/erlernte Berufe: die neue Generation des „Mini-Grills“, gelernter Fachinformatiker für Systemintegration
St. Pauli ist für mich … ein Stück Heimat.
Mich nervt es tierisch, wenn … Leute kein Benehmen haben, sie nicht mal grüßen, wenn sie in den Laden kommen.
Ich träume davon, … dass der „Mini-Grill“ 100 Jahre alt wird.
Wenn mir einer blöd kommt, … dann werde ich ihn eines Besseren belehren.
Zum Abschalten … hänge ich mit meinen Kiezmenschen rum.
Als Kind … hätte ich niemals gedacht, dass ich hier lande.
Meine Eltern … sind klasse. Ich bin stolz auf sie.
Vom Typ her bin ich … entspannt und lebensfroh.