Grüner Wadenbeißer: So schaltet Jens Kerstan in den Vorwahlkampf-Modus
Langsam findet der im vorigen Jahr gesundheitlich angeschlagene Umweltsenator Jens Kerstan in seine Lieblingsrolle zurück, die er seit Jahren mit viel Energie besonders in Wahlkampfzeiten spielt: die des grünen Wadenbeißers, der mit den SPD-Bürgermeistern in den verbalen Nahkampf geht. MOPO-Kolumnist Marco Carini über den Zoff in der Koalition.
Langsam findet der im vorigen Jahr gesundheitlich angeschlagene Umweltsenator Jens Kerstan in seine Lieblingsrolle zurück, die er seit Jahren mit viel Energie besonders in Wahlkampfzeiten spielt: die des grünen Wadenbeißers, der mit den SPD-Bürgermeistern in den verbalen Nahkampf geht. MOPO-Kolumnist Marco Carini über den Zoff in der Koalition.
Das Jahr hatte gerade begonnen, da stellte der grüne Senator einen zentralen Punkt des 2020 verfassten Koalitionsvertrages – die Grundlage der rot-grünen Zusammenarbeit – zur Disposition. Es müsse, „die Frage erlaubt sein, ob die Planungen zur A26-Ost noch zeitgemäß sind“, kritisierte der Chef der Umweltbehörde den dort festgeschriebenen Bau der Hafenautobahn.
Kaum hatte sich der Rauch um Kerstans Äußerung verzogen, da legte er nach und schoss verbal auf Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD). Der sei „schlecht beraten oder mangelhaft informiert“ gewesen, als er die Schlickverklappung vor Scharhörn noch einmal als Alternative ins Gespräch gebracht habe. Veralteter Koalitionsvertrag, inkompetenter Bürgermeister – Anwürfe aus den eigenen Reihen, die für jede Koalition ein Stresstest wären.
Rot-Grün streitet über Schlickablagerung vor Scharhörn
Dabei hatte Tschentscher vorgelegt und die Schlickablagerung vor Scharhörn vor dem Überseeclub als „vernünftigen Vorschlag“ gelobt. Diesen „vernünftigen Vorschlag“ hatten Kerstan und die neue Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard (SPD) im Zusammenspiel mit Schleswig-Holstein und Niederachsen aus Umweltschutzgründen gerade erst abmoderiert. Doch wenn der Bürgermeister von etwas überzeugt ist, kennt er weder Diplomatie noch politische Taktik. Dass er mit seinem Scharhörn-Revival Leonhard gleich mit demontierte, nahm Tschentscher – sollte es ihm überhaupt aufgefallen sein – billigend in Kauf.
Leonhard rettete diese Woche die Situation, indem sie den Knatsch zwischen Tschentscher und Kerstan aufwertete zum „Ausdruck des ernsthaften Ringens darum, das Thema Sediment-Management“ langfristig zu lösen. Sie betonte zudem, dass zwar „Scharhörn genehmigungsfähig sei“, wie der Bürgermeister behauptet hatte, aber nur, „wenn es keine andere Lösung gibt“, worauf der Umweltsenator besteht.
Hamburger Koalition trägt Kontroversen nun öffentlich aus
Dass Rot und Grün sich beim Thema Elbvertiefung samt Schlickbeseitigung und A26-Bau nie einig waren, ist nichts Neues. Neu ist, dass die Kontroversen nicht intern, sondern beherzt in der Öffentlichkeit ausgetragen werden. Rot-grünes Krisenmanagement und gemeinsame Sprachregelungen? Schnee von gestern. Zunehmend neigen vor allem die Platzhirsche Tschentscher und Kerstan dazu, sich zu verhaken. So fordert Tschentscher zum Missvergnügen von Kerstan vehement die Aufstellung von Windkraftanlagen ausgerechnet in Naturschutzgebieten.

Im nunmehr achten Jahr der Koalitions-Ehe scheint der Vorrat an rot-grünen Gemeinsamkeiten aufgebraucht zu sein, der Ton wird rauer. Das hat Gründe. „In Corona-Zeiten ging es darum, an einem Strang zu ziehen, rot-grüne Konflikte wurden vertagt und nicht ausgetragen – nun rollt die Welle“, sagt eine Rathaus-Grüne. Zudem werfen die Bezirkswahl Anfang 2024 und die Bürgerschaftswahl Anfang 2025 ihre langen Schatten voraus. Es gilt, das eigene politische Profil zu schärfen, statt Harmonie zu verbreiten.
Während die SPD seit Jahren zusehen muss, dass sie in Hamburg zugunsten der Grünen immer schwächer wird, erheben die Grünen inzwischen Führungsanspruch.
Bürgerschaftswahl-Umfrage: Grüne eine Nasenlänge vor der SPD
Es stellt sich die Frage, ob die rot-grüne Koalition überhaupt noch bis 2025 hält. Die Grünen liegen in der aktuellsten Bürgerschaftswahl-Umfrage eine Nasenlänge vor der SPD und könnten die Gunst der Stunde nutzen, bei einem Thema, dass ihre Klientel mobilisiert, das rot-grüne Zweckbündnis platzen zu lassen. Dann ließe sich nicht nur ein Wahlkampf ohne Rücksichten auf den Koalitionspartner führen, sondern auch gestärkt in neue Koalitionsverhandlungen gehen – zumal die CDU als Alternative zur SPD bereitstünde.
Doch in der Öko-Partei sind die Skeptiker:innen, die vor solch verwegenen Gedankenspielen warnen, deutlich in der Mehrheit. Sie wissen: Die Grünen können keinen Endspurt. Schon vor der letzten Bürgerschaftswahl lag die Partei in einigen Umfragen vorne, um schließlich abgeschlagen 15 Prozent hinter der SPD zu landen. Und die CDU stände auch der SPD als Partner zur Verfügung, sollten die Sozis von den grünen Sperenzchen zu genervt sein.
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Am Ende könnten die Grünen nicht die Regierung, sondern nur die Opposition anführen. Auch ein noch so klug eingefädelter Koalitionsbruch steht deshalb derzeit nicht zur Debatte.