Kunst oder Kritzelei? Warum Graffiti jetzt zur Wissenschaft werden
Für Immobilienbesitzer in Hamburg ist es immer wieder ein Ärgernis: Schmierereien, die meistens nachts heimlich an die Häuserwände gesprüht werden. Doch es gibt auch Menschen, die das für Kunst halten. Und jetzt hat sich sogar die Wissenschaft der Kritzeleien angenommen! Am Donnerstag beginnt in Hamburg eine dreitägige Konferenz, zu der Forscher aus aller Welt anreisen. Was macht die Schmierereien für sie so interessant?
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Für Immobilienbesitzer in Hamburg ist es immer wieder ein Ärgernis: Graffiti-Tags, die meistens nachts heimlich an die Häuserwände gesprüht werden. Doch es gibt auch Menschen, die das für Kunst halten. Und jetzt hat sich sogar die Wissenschaft der Kritzeleien angenommen! Am Donnerstag beginnt in Hamburg eine dreitägige Konferenz, zu der Forscher aus aller Welt anreisen. Was machen die Schriftzüge für sie so interessant?
In erster Linie geht es auf der Konferenz um Buchstaben. Um sogenannte „Tags“. Also Schriftzüge mit dem Namen des Sprayers oder mit seinem Pseudonym. In Hamburg heißt das berühmteste Tag „OZ“. Es war das Markenzeichen des 2014 verstorbenen Graffiti-Künstlers Walter Josef Fischer. Auch sein Schriftzug ist Thema der „Tag Conference“, die Donnerstag um 17 Uhr im Lichthof der Staats- und Universitätsbibliothek auf dem Campus beginnt.
Graffiti-Konferenz kommt nach Hamburg
Die vm Spanier Javier Abarca gegründete „Tag Conference“ findet seit 2017 regelmäßig statt. Sie war schon in New York, Amsterdam, Berlin, Modena und Köln. In diesem Jahr gastiert sie in Hamburg, wo die Ausstellung „Eine Stadt wird bunt“ über die Geschichte der Graffiti-Szene in der Hansestadt gerade große Erfolge feiert.
Was macht die Schriftzüge so interessant? „Tags gibt es in der Geschichte der Menschheit schon sehr lange“, weiß die Kulturanthropologin Sanja Ewald, die gerade ihre Doktorarbeit über die Schriftzüge an Hamburgs Mauern schreibt und die Konferenz mitorganisiert hat. „Selbst in der Antike gab es schon Klosprüche!“
Anders als bei Graffiti gehe es bei den oft auch politischen Sprüchen darum, sich im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. „Eine Kollegin von mir untersucht gerade die Sprüche an den Mauern eines antiken Amphitheaters in der Türkei“, berichtet Ewald.
Wandkritzeleien gab es schon in der Antike
In Diktaturen rufen die Schriftzüge unerkannt abgetauchter Autoren oft zum Widerstand auf. In Berlin sorgt die Parole „Das ist nicht mein Krieg!“ seit Herbst 2022 für Verbundenheit unter den Gegnern des russischen Angriffs auf die Ukraine. In Österreich dienen bestimmte Geheimsymbole an den Wänden dem Communitybuilding verschiedener südslawischer Kulturen, die in Wien eine neue Heimat gefunden haben. In Indien helfen die Sprüche dabei, sich aus der qua Geburt an zugewiesenen Kaste zu befreien.
All das ist Thema der „Tag Conference“ in Hamburg, die am Freitag und Samstag vom Uni-Campus ins Museum für Hamburgische Geschichte verlagert wird, wo auch die Ausstellung „Eine Stadt wird bunt“ zu sehen ist. Dabei ist die Konferenz nicht nur für Wissenschaftler offen, sondern auch für interessierte Bürger. Der Vortrag über „OZ“ zum Beispiel, wird am Freitag um 13 Uhr von der Kulturwissenschaftlerin Kathleen Göttsche gehalten.
Grafitti in Hamburg: Hier entstand „etwas ganz eigenes“
Sanja Ewald wiederum wird am Samstag um 10.45 Uhr über die Hamburger Sprayer-Szene insgesamt sprechen. „Das Interessante ist, dass in Hamburg in den 80er und 90er Jahren etwas ganz eigenes entstanden ist“, berichtet die 39-Jährige. Die in New York entstandene Sprayer- und HipHop-Subkultur war damals an die Elbe gekommen.
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„Sie traf hier auf die Hafenstraßenszene, die sich zuvor ebenfalls mit Sprüchen auf den Mauern der Stadt verewigt hatte und ging mit ihr eine Verbindung ein“, sagt die Kulturanthropologin. Dadurch habe Sprayer-Kultur in Hamburg, zu der unter anderem der Sänger Jan Delay gehörte, immer eine politische Linksausrichtung gehabt. Die Tags an den Mauern sorgten zusammen mit einer bestimmten, lässigen Kleidung sowie dem HipHop für eine identitätsstiftende Symbolik. „Aber es ging auch um das Illegale. Den Rausch, der durch die nächtlichen Aktionen ausgelöst wurde“, sagt Ewald.
Selbst einige der Künstler, die später eine kommerzielle Richtung einschlugen, hätten sich nachts weiter in die illegale Parallelwelt begeben. Ewalds großer Fundus für die Doktorarbeit ist das umfassende Archiv des Hamburger Sprayers Mirko Reisser, der von Anfang an Skizzenbücher der Künstler, Fotos, Flugblätter und Zeitschriften gesammelt hat. Die Ausstellung „Eine Stadt wird bunt“ läuft noch bis 7. Januar 2024.