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  • Foto: Quandt

Gänsehaut-Fund auf dem Flohmarkt: Die unfassbare Geschichte einer Hamburger Heldin

Der abgewetzte hellblaue tschechische Pass lag auf einem Stand des Flohmarkts am U-Bahnhof Feldstraße. Auf dem Umschlag befand sich ein Aufkleber: „Deutsches Reich. Protektorat Böhmen und Mähren“. Er war ausgestellt auf eine Frau, die in „Hamburk“ geboren wurde. Ich wurde neugierig. Das Dokument war Teil eines umfangreichen Nachlasses, den ich dann für ein paar Euro kaufte. Lesen Sie hier die unglaubliche Geschichte einer Hamburgerin.

Diese Hamburgerin versorgte unter ständiger Lebensgefahr ihren Mann im Ghetto Kielce, überlebte den Nazi-Terror und schlug sich dann nach dem Krieg mit hiesigen Behörden herum, um eine gerechte Entschädigung zu erhalten. Lesen Sie aber auch, auf welch dramatische, aber gerechte Weise der „Schlächter von Kielce“ ums Leben kam, der für den Tod ihres jüdischen Ehemanns und Tausender weiterer Opfer verantwortlich war.

Gänsehaut-Fund auf Flohmarkt in Hamburg

Geboren wurde Toni P. am 19.11.1893 in Hamburg. Das intelligente Mädchen wuchs am Winterhuder Weg auf und besuchte nach der Volksschule ab 1908 zwei Jahre lang die „Gewerbeschule für Mädchen“ an der Brennerstraße in St. Georg. Dort machte sie als eine der fünf besten Schülerinnen ihren Abschluss.

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Toni fand schnell Anstellungen bei Hamburger Imund Exportfirmen, wurde leitende Angestellte. 1919 arbeitete Toni P. bei der Hamburger „Korsettfabrik Hinrichsen“. Im selben Jahr heiratete sie den sechs Jahre älteren Erich P., einen Juden aus Prag. Das Paar zog in die tschechische Hauptstadt. 20 Jahre lang war Toni P. dort in Lederwarenfirmen beschäftigt. Ihr Mann fand ebenfalls eine Anstellung als kaufmännischer Angestellter.

Die Heldin vom Ghetto Kielce

Dieses Foto zeigt Toni P. als alte Dame

Foto:

Quandt

Dann rückten 1938 die Nazis in Prag ein. Das Ehepaar P. wollte nach Angola auswandern. In dem Nachlass befand sich ein Schreiben der „Hamburg-Amerika-Linie“, welches zwei Plätze in der Touristenklasse an Bord der „Watussi“ bestätigte. Am 27. April 1939 sollte es von Hamburg nach Luanda gehen. 

Gestapo verweigert „Durchlassschein“

Das Ehepaar besaß ein Visum der tschechischen Behörden, hatte seinen Haushalt verpackt und nach Hamburg verschickt. Laut einer Liste befanden sich darin auch Schmuckstücke und eine goldene Omega-Armbanduhr. Zeichen eines bescheidenen Wohlstands, welchen sich die P.s erarbeitet hatten. Arbeitskontrakte bei einer Exportfirma in Luanda lagen auch vor.

Der Jude Erich P. war inzwischen, es war wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, vor den Nazis von Prag nach Polen geflüchtet. Doch um zum Hamburger Hafen zu kommen, benötigte er einen „Durchlassschein“ der Gestapo. Seine mutige Frau ging in Prag mehrfach persönlich zur Gestapo und bat um diesen Schein. Toni P. erinnert sich in ihrem Lebenslauf: „Ich bin bedroht und beschimpft worden und dort so lange hin gegangen, bis mir gesagt wurde, dass ich bei weiterem Erscheinen verhaftet würde.“

Die Heldin vom Ghetto Kielce

Ein Teil des schriftlichen Nachlasses, der jetzt auf dem Flohmarkt Feldstraße gelandet ist.

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Quandt

Toni P. reiste resigniert nach Polen zu ihrem Mann. Dann überfielen die Deutschen Polen, das Paar geriet in die Kampfhandlungen und erlebte in der 60 000-Einwohner-Stadt Kielce im Südosten Polens den Einmarsch der deutschen Truppen. Das verzweifelte Ehepaar wollte nun zu Fuß die russische Grenze erreichen.

Im März 1941 entstand ein Ghetto in Kielce

Toni P. erinnert sich in ihrem Lebenslauf: „Zehn Tage sind wir umhergeirrt, die Panzer rollten an uns vorüber. Die Dörfer brannten. Uns blieb schließlich nichts anderes übrig, als nach Kielce zurückzukehren, wo wir zu Tode erschöpft und an der Ruhr erkrankt ankamen.“

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Bis 1941 schlug sich das Paar in Kielce durch. Dann kam der 21. März 1941, und die Nazis zwangen die polnischen Einwohner ein Viertel zu räumen. Das Ghetto Kielce entstand. Fast 30 000 Menschen drängten sich hier auf engstem Raum. Am 5. April kam auch Erich P. dorthin. Seine Frau blieb bei einer polnischen Familie in einer Dachkammer.

Die Heldin vom Ghetto Kielce

Toni P. (Mitte) in den 50er Jahren.

Foto:

Quandt

Täglich schlich sie sich ins Ghetto und später ins Arbeitslager des Unternehmens „Ludwigshütte“ und brachte ihrem Mann Lebensmittel. Auch andere Ghetto-Bewohner versorgte Toni P. mit Medikamenten, kochte für Kranke und kümmerte sich aufopferungsvoll. Außerdem versorgte sie die eingepferchten Menschen mit Nachrichten von draußen.

Das war lebensgefährlich. Denn Hans Gaier, der deutsche Polizeichef in Kielce, hatte sich schnell den Namen „Schlächter von Kielce“ verdient. Der Mann war in Deutschland im Zivilleben gescheitert, brachte es aber nach 1933 als SA-Obersturmbannführer zum Bürgermeister der hessischen Gemeinde Hofheim. Wegen „Unregelmäßigkeiten“ flog Gaier aus dem Amt. Und nur mit Mühe kam er dann 1936 bei der Polizei unter.

Polizeichef in Kielce mordete bei jeder sich bietenden Gelegenheit

Als Hauptmann der Schutzpolizei mordete dieser Mann bei jeder sich bietenden Gelegenheit. In Kielce war er der Herr über Leben und Tod. So erschoss er bei einem Sonntagsspaziergang mit seiner Freundin Eva V. ein etwa 16-jähriges hungerndes Mädchen, nur weil dieses Beeren von einem Strauch pflückte. Ab 1942 leitete der 40-jährige Offizier mehrere Massen-Erschießungen in Kielce, führte Selektionen durch und ordnete Deportationen in Vernichtungslager an. Unter seinem Befehl kam es wiederholt zu Massenmorden auch an Kindern. So wurden am 19. August 1942 die 40 Kinder des jüdischen Waisenhauses von Ukrainischen Hilfstruppen unter Schlägen gezwungen, sich an einer Grube nackt auszuziehen. Dort wurden die Kinder von Wachtmeister Rumpel aus Gaiers Truppe erschossen. Rumpel wurde im Ghetto nur „Der Schießer“ genannt.

Die Heldin vom Ghetto Kielce

Blick ins Ghetto Kielce. Es wurde 1941 eingerichtet und 1944 aufgelöst. Der überwiegende Teil der Bewohner ist ermordet worden.

Foto:

United States Holocaust Memorial Museum

Und dieser Hauptmann Gaier sorgte dafür, dass Toni P. am 14. Oktober 1943 wegen „Sabotage und Staatsfeindlichkeit“ verhaftet wurde. Gaier sagte ihr ins Gesicht, dass er sie am liebsten sofort erschießen würde. Vermutlich rettete Toni P. nur die Tatsache, dass sie Deutsche war, das Leben. Auch ihr Mann kam ins Gefängnis. Am 23. Dezember 1943 wurde er zusammen mit Polen und weiteren Juden auf einem Friedhof erschossen. Toni P. erinnert sich: „Wir haben uns am Morgen dieses schrecklichen Tages von 4 bis 6 Uhr im Gefängnis verabschiedet.“

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Vermutlich auf Intervention ihrer Hamburger Geschwister kam Toni P. im Februar 1944 frei und gelangte im Juli 1944 nach Hamburg. Im August 1944 kam es zur Räumung des Kielcer Ghettos. Kinder, Alte und Kranke wurden gnadenlos erschossen. Die Überlebenden kamen nach Auschwitz oder andere Vernichtungslager.

Toni P.: Ärger mit dem Hamburger Oberversicherungsamt

Einer von ihnen war Dr. Leon Reitter. Er hatte Kielce überlebt, aber sein einziges Kind war auf Gaiers Befehl erschossen worden. 1946 war der Arzt Vorstand der jüdischen Gemeinde Göttingen. Damals bestätigte er Toni P. in einem Schreiben: „Ich, sowie alle Juden in Kielce, haben Frau P. als zu uns gehörig betrachtet und sehr verehrt, weil sie jeden Tag ihr Leben eingesetzt hat, um ihren jüdischen Mann zu retten. Sie war die einzige deutsche Frau, die diesen Mut bewiesen hat.“

Und Toni P.s „Lohn“ für diesen Mut? Ärger mit dem Hamburger Oberversicherungsamt”, bei dem sie offenbar vergeblich um eine Entschädigung gebeten hatte. Im Nachlass liegen Schreiben, die bezeugen, wie in Deutschland nach 1945 oft mit Nazi-Opfern umgegangen wurde. Toni P. war durch die Jahre in ständiger Lebensgefahr körperlich und psychisch schwer angeschlagen. 

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Sie zog in eine Mietwohnung an der Ludolfstraße in Eppendorf, später wohnte sie in der Bilser Straße in Alsterdorf. Ihr weiterer Lebensweg ist unbekannt. Aber bis zu ihrem Tode stand sie in Kontakt mit Überlebenden aus dem Ghetto. Der letzte Brief im Nachlass stammt von 1972. Da war Toni P. fast 80 Jahre alt.

Die tapfere Frau mag bis an ihr Lebensende schwer daran gezweifelt haben, ob es Gerechtigkeit wirklich gibt. Vielleicht hätte es sie getröstet, wenn sie gewusst hätte, wie der „Schlächter von Kielce“ geendet hat.

„Ihr seid doch Juden. Das seh‘ ich doch!“

Nach der Räumung des Ghettos kam Gaier als Kompaniechef im „Ukrainischen Schutzmannschafts-Bataillon 208“ an die Ostfront. Er überlebte den Krieg und ließ sich 1945 im österreichischen Graz nieder. Unter falschem Namen lebte er mit seiner Frau. Im Juni 1945 klingelte es an der Haustür. Die Frau öffnete – und dort standen vier Männer in Uniformen der britischen Militärpolizei. Dann kam Gaier hinzu. Yanush Peltz, einer der Männer, fragte, ob er Hans Gaier sei. Der Nazi-Schlächter bejahte und sagte: „Ihr seid doch Juden. Das seh’ ich doch!“ Daraufhin schoss ihm Peltz zwischen die Augen.

So berichtete es Peltz als 97-Jähriger kurz vor seinem Tod 2014 in Israel. Peltz’ Familie war von Gaiers Leuten in Kielce ermordet worden. Er selbst war geflüchtet, hatte sich der von den Briten gebildeten Jüdischen Brigade angeschlossen, um gegen die Nazis zu kämpfen.

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