G20 in Hamburg: Warum die Polizeitaktik mitverantwortlich für das Desaster war
Fünf Jahre sind seit dem G20-Gipfel in Hamburg vergangen – und noch immer ist offen, wie die Lage damals so eskalieren konnte. 23 Gewalt- und Protest-Forscher sind der Frage nachgegangen. Die Ergebnisse sind äußerst spannend.
Auch fünf Jahre danach haben es vor allem die Bewohner des Schanzen- und des Karolinenviertels noch im Ohr: das Wummern der Polizeihubschrauber, den Lärm der Martinshörner. Sie sehen alles noch sehr lebendig vor sich: die Wasserwerfer und die Räumpanzer, die durch die Straßen brausen, die schwer bewaffneten Beamten mit ihren Schutzwesten und Helmen. 31.000 Polizeibeamte sind vor Ort. Hamburg im Juli 2017 – eine Stadt im Ausnahmezustand.
Ein „Festival der Demokratie“ verspricht Innensenator Andy Grote (SPD) den Bürgern. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) geht noch ein Stück weiter und vergleicht den Gipfel im Vorfeld mit dem Hafengeburtstag. Viel schlimmer werde es auch nicht werden, sagt er. „Seien Sie unbesorgt, wir können die Sicherheit garantieren.“ Schon wenige Tage später bereuen beide, Grote wie Scholz, ihre Worte.
Fünf Jahre sind seit dem G20-Gipfel in Hamburg vergangen – und noch immer ist offen, wie die Lage damals so eskalieren konnte. 23 Gewalt- und Protest-Forscher sind der Frage nachgegangen. Die Ergebnisse sind äußerst spannend.
Auch fünf Jahre danach haben es vor allem die Bewohner des Schanzen- und des Karolinenviertels noch im Ohr: das Wummern der Polizeihubschrauber, den Lärm der Martinshörner. Sie sehen alles noch sehr lebendig vor sich: die Wasserwerfer und die Räumpanzer, die durch die Straßen brausen, die schwer bewaffneten Beamten mit ihren Schutzwesten und Helmen. 31.000 Polizeibeamte sind vor Ort. Hamburg im Juli 2017 – eine Stadt im Ausnahmezustand.
Ein „Festival der Demokratie“ verspricht Innensenator Andy Grote (SPD) den Bürgern. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) geht noch ein Stück weiter und vergleicht den Gipfel im Vorfeld mit dem Hafengeburtstag. Viel schlimmer werde es auch nicht werden, sagt er. „Seien Sie unbesorgt, wir können die Sicherheit garantieren.“
G20-Gipfel in Hamburg: Steinewerfer und Geschäfte, die in Flammen stehen
Schon wenige Tage später bereuen beide, Grote wie Scholz, ihre Worte. Denn es sind diese Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis der Stadt einbrennen: Steinewerfer, Geschäfte, die in Flammen stehen. Rauchwolken über Hamburgs Skyline, schwarze Horden, die vermummt durch die Straßen laufen und Autos anzünden. Militante G20-Gegner legen eine große Brutalität an den Tag.

Hamburg ist nicht der erste Austragungsort eines Gipfeltreffens, in dem es zu Ausschreitungen kommt. Im Gegenteil: Randale ist bei solchen Anlässen seit 30 Jahren an der Tagesordnung. Ungewöhnlich ist allerdings die Entgrenzung von Gewalt, wie es sie bei G20 in Hamburg gab. Woran lag das?
Erstens daran, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sich für das G20-Treffen ausgerechnet die Stadt auswählte, die – nach Berlin – die größte autonome Szene in der Republik beheimatet. Es gibt in Hamburg eine lange Geschichte militanter Auseinandersetzungen zwischen Linksradikalen und der Polizei – von den Kämpfen um die Hafenstraße Anfang der 80er Jahre über die Besetzung der Roten Flora 1989 bis hin zu den Protesten im Zusammenhang mit der Räumung des Bauwagenplatzes Bambule 2001. Es ist – gelinde gesagt – ein ziemliches Wagnis, in den Messehallen, also nur einen Steinwurf von der Roten Flora entfernt, einen Gipfel veranstalten zu wollen mit Hassfiguren unter den Gästen wie Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan und US-Präsident Donald Trump.
G20-Gipfel in Hamburg: Wie konnte die Lage so eskalieren?
Wie kam es im Einzelnen zur Eskalation der Gewalt? Mit dieser Frage haben sich 23 Gewalt-, Protest- und Polizeiforscher dreier Forschungsinstitute beschäftigt, darunter Experten des von Jan Philipp Reemtsma gegründeten renommierten Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS). Sie interviewten Beteiligte, studierten Akten, werteten Filmaufnahmen und Fotos aus, aber auch Zeitungsberichte und Beobachtungsprotokolle und analysierten so die Ereignisse des G20-Gipfels minutiös. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Das repressive Vorgehen der Hamburger Polizei trug zur Eskalation mit bei.
Zur Erinnerung: Zum G20-Einsatzleiter wird Hartmut Dudde berufen, ein Vertreter der sogenannten „Hamburger Linie“, einer polizeilichen Einsatzphilosophie, bei der die Polizei mit hohem Kräfte- und Ressourceneinsatz gegen Demonstranten vorgeht. Dudde wird im Vorfeld des G20-Gipfels mit Sätzen zitiert wie: „Ein Wasserwerfer hat keinen Rückwärtsgang” und: Nicht Blockaden, sondern erfolgreiche Straßenräumungen seien zu melden.

Das polizeiliche Einschreiten gegen das Protestcamp auf Entenwerder schon Tage vor Beginn des eigentlichen Gipfels vertieft nach Überzeugung der Forscher die Gräben zwischen G20-Gegnern und Einsatzkräften. Die Polizei ignoriert, dass das Camp gerichtlich genehmigt ist, beschlagnahmt nachts Schlafzelte und greift Aktivisten mit Pfefferspray an. Spätestens ab da wird die Polizei als „als politischer Akteur und damit als Konfliktgegner“ wahrgenommen.
Das verschärft sich noch, als sich am 4. Juli 2017 G20-Gegner auf dem Neuen Pferdemarkt zum „Hedonistischen Massencornern“ versammeln und die Polizei gegen friedliche Demonstranten, die sich mit einem Bier auf der Straße versammeln, Wasserwerfer einsetzt. Beide Ereignisse, die Aktionen gegen das Protestcamp und gegen das Massencornern, lösen nach Ansicht der Wissenschaftler eine „eskalative Dynamik“ aus, und in der Stadt ist immer lauter der Ruf zu hören: „Ganz Hamburg hasst die Polizei“.
G20-Gipfel: „Welcome to Hell“-Demo als „entscheidende Zäsur“
Die „entscheidende Zäsur“ sei dann die „Welcome to Hell“-Demo am 6. Juli 2017, also am Vorabend des ersten Gipfeltages. Rund 12.000 Demonstranten – darunter etwa 1000 vom Schwarzen Block – wollen am Fischmarkt ihren Protestzug starten. Weil es unter den schwarz Gekleideten Vermummte gibt, stoppt die Polizei den Marsch. Der Aufforderung, Masken und Tücher abzulegen, kommen die meisten nach, aber die Polizei lässt trotzdem Wasserwerfer auffahren.

Für die Forscher ist klar: Die Eskalation, die nun folgt, entsteht aufgrund einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Während die Demonstranten von vornherein sicher sind, dass die Polizei es darauf anlegt, den Protestzug zu verhindern, ist die Polizei überzeugt, dass die Mehrzahl der Demonstranten Randale sucht. Die Forscher sagen: In wechselseitiger Reaktion aufeinander führen die Beteiligten schließlich die Situation herbei, in der sich schließlich ihre Prophezeiung erfüllt: Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen. Einsatzkräfte zerschlagen den kompletten Protestzug.
Von vielen Demonstranten wird das polizeiliche Vorgehen als hart und ungerecht empfunden. Für militante Gruppen, die es ohnehin auf Gewalt anlegen, ist das die willkommene Gelegenheit, die Konfrontation zu suchen. Und bei allen anderen senkt es die Hemmschwelle, sich dem anzuschließen.
Der nächste Tag: Am frühen Morgen des 7. Juli 2017 zieht eine Gruppe von 220 schwarz gekleideten Personen durch Altona und hinterlässt eine Spur der Verwüstung. Polizei ist nicht vor Ort, niemand stellt sich ihnen in den Weg. Alles geht blitzschnell. Etliche Schaufensterscheiben gehen zu Bruch, rechts und links der Elbchaussee stehen brennende Autowracks. Die Straße erinnert an Beirut während des Bürgerkriegs. Nach 40 Minuten ist der Spuk vorbei.
Abends erreicht die Gewalt ihren Höhepunkt, als sich militante Gipfelgegner ins Schanzenviertel zurückziehen und damit beginnen, Barrikaden zu bauen. Am Anfang unterscheiden sich die Ausschreitungen kaum von der Randale, wie sie in der Schanze sonst am 1. Mai üblich ist. Die Lage bekommt aber eine Eigendynamik, als sich die Polizei aus Sorge, ihr könnte eine Falle gestellt werden, zurückhält und es drei Stunden dauert, bis Sondereinsatzkräfte kommen, um das Schulterblatt zu räumen. Die Forscher schreiben, der Eindruck, die Polizei „tut nichts“ senke die Hemmschwelle: „Umstehende“ und „Schaulustige“, die Lust auf Krawall haben, beteiligen sich an den Ausschreitungen, plündern Läden und stecken sie in Brand.

Übrigens: Auf den Häusern am Schulterblatt werden später weder Molotowcocktails noch Gehwegplatten gefunden. Die Information, es sei geplant gewesen, die Beamten von den Dächern aus mit solchen Gegenständen zu bewerfen, war vermutlich falsch.
Forscher: Gewaltsame Eskalation war nicht zwangsläufig
Welche Schlussfolgerungen ziehen die Wissenschaftler aus dem Verlauf des Gipfels? Sie sind überzeugt, die gewaltsame Eskalation sei nicht zwangsläufig gewesen. Sie hätte vermieden werden können.
Die Forschern erinnern daran, dass das Bundesverfassungsgericht 1985 im sogenannten „Brokdorf-Urteil“ klare Leitlinien für den Umgang mit Protest festgelegt hat: Die Polizei hat die Pflicht mit Protestorganisatoren vorab zu kommunizieren, beispielsweise um Spielregeln des Protests festzulegen. Außerdem entschieden die Richter, dass die Polizei Demonstranten differenziert zu behandeln hat. Sie darf also nicht den gesamten Protest für Delikte Einzelner oder einzelner Gruppen in Haftung nehmen.

Beides, das Kooperations- also auch das Differenzierungsgebot, sei von der Hamburger Polizei während des G20-Gipfels „geringgeschätzt“ worden. „Wenn eine Eskalation vermieden werden soll, müssen diese Gebote beachtet werden“, so die Wissenschaftler, „darüber besteht weitgehende Einigkeit in Forschung und gegenwärtiger polizeilicher Einsatzlehre. Gerade die differenzierte Wahrnehmung des Gegenübers ist eine Voraussetzung, um vereinfachende und verallgemeinernde Sichtweisen zu verhindern, die am Beginn eskalativer Konfrontationen stehen.“
Kommunikation und Deeskalation als bessere Strategie
Das, was die Forscher da vorschlagen, wird übrigens in Berlin seit Jahren praktiziert: eine Politik der ausgestreckten Hand. Selbst bei (vermeintlich) heiklen Demonstrationen verhalten sich die Beamten dort so, dass sich Demonstranten von ihrem Auftreten nicht in die Enge getrieben, provoziert und angestachelt fühlen können. Sie setzt auf Kommunikation und Deeskalation.
Fünf Jahre nach G20 hat die MOPO Olaf Scholz, Angela Merkel und Andy Grote gefragt, was sie heute über den Gipfel denken. Welche Lehren sind gezogen worden? Was ist falsch gelaufen? Was sagen sie zu der Kritik der Wissenschaftler? Der Bundeskanzler und der Innensenator haben uns wissen lassen, dass sie sich nicht äußern wollen. Das Schreiben der MOPO an die Alt-Bundeskanzlerin blieb gänzlich unbeantwortet.