Flohmarkt-Fund in Hamburg: Das verbotene Buch im Umzugskarton
„Gestatten, ich bin Thomas Hirschbiegel, der MOPO-Flohmarktfuchs.“ Mit diesen Worten beginnt normalerweise diese Kolumne meines geschätzten Kollegen. Doch auch ein Fuchs hat manchmal Pause. Und da der Kollege und ich uns regelmäßig auf den Flohmärkten unserer schönen Stadt begegnen, übernehme ich heute mal die Vertretung. Denn die Freude über besondere Entdeckungen und Kuriositäten teilen wir trotz unseres Alters- und Geschlechtsunterschieds. Und auf diesen Schatz wäre er zum Beispiel niemals gestoßen!
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„Gestatten, ich bin Thomas Hirschbiegel, der MOPO-Flohmarktfuchs.“ Mit diesen Worten beginnt normalerweise diese Kolumne meines geschätzten Kollegen. Doch auch ein Fuchs hat manchmal Pause. Und da der Kollege und ich uns regelmäßig auf den Flohmärkten unserer schönen Stadt begegnen, übernehme ich heute mal die Vertretung. Denn die Freude über besondere Entdeckungen und Kuriositäten teilen wir trotz unseres Alters- und Geschlechtsunterschieds. Und auf diesen Schatz wäre er zum Beispiel niemals gestoßen!
Der Stand auf dem Flohmarkt am Goldbekhaus war ein einziges Durcheinander. Lauter Umzugskartons, die kreuz und quer standen und aus denen aller möglicher Plunder quoll. Mittendrin eine junge Frau, die gestresst wirkte – und gleichzeitig froh darüber, die Karton-Inhalte loszuwerden.
Wurde 1945 verboten: „Nesthäkchen und der Weltkrieg“
Mein Blick fiel auf eine Kiste mit alten Büchern. Die romantischen Zeichnungen auf den Einbänden erinnerten mich an die Mädchenbücher meiner Mutter und meiner Großmutter, die ich selbst als Kind gelesen habe. „Trotzkopf“, „Gisel und Ursel“, „Nesthäkchen“ und wie sie alle hießen.
Besonders „Nesthäkchen“ gehörte damals zu meinen Favoriten. Blöd war nur, dass die Geschichte in zehn Bänden vom Aufwachsen einer Bürgerstochter aus Berlin bis hin zu ihrem hohen Alter mittendrin eine Unterbrechung erfuhr. Denn zwischen Band 3 und Band 5 fehlte ein Buch. „Nesthäkchen und der Weltkrieg“, erstmals erschienen Ende 1916, landete 1945 wegen Kriegsverherrlichung auf der Zensurliste der alliierten Kontrollbehörden und wurde verboten.
Ausgerechnet der Band also, in dem „Nesthäkchen“ so alt war, wie ich, als ich die Bücher las, war nicht vorhanden und ich glaubte meiner Mutter nur halb, dass sie ihn wirklich nicht besaß und nicht doch in Wirklichkeit vor mir versteckte.
Nichts fürs Kinderzimmer: Kriegsverherrlichung und glühender Patriotismus
Mehr als 30 Jahre später entzifferte ich nun auf dem Flohmarkt also den in altdeutscher Schrift gedruckten Titel des kopfüber liegenden Buchs. Und es war der verbotene Band! Ob die junge Frau überhaupt wusste, was sie da verkaufte? „Das sind alles Sachen von meiner verstorbenen Großmutter“, erzählte die Frau. „Muss alles weg.“
Ich fragte sie vorsichtig nach dem Preis. Und ihre Antwort zeigte, dass sie nichts von der Geschichte des Buches wusste: „Zwei Euro.“ Ich zückte schnell mein Portemonnaie. Erst später sah ich, dass dieser Band, der kein Erscheinungsjahr trägt, aber eine in Sütterlin geschriebene Widmung, die auf das Alter hindeutet: „Weihnachten 1930. Von deiner Patentante. Frau M. Groß“, bei Ebay für 135 Euro angeboten wird.
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Voller Stolz brachte ich das Buch nach Hause. Auch mit dem Gedanken, es meinen eigenen Kindern zum Lesen zu geben. Nachdem ich jedoch reingelesen habe, ist klar: Das werde ich definitiv nicht tun! Denn Sätze, die den Ersten Weltkrieg als „gewaltige Zeit der Erhebung Deutschlands“ oder als „heiligen Kampf um Deutschlands Freiheit“ beschreiben, Erziehungsideale wie „ein deutsches Mädel ist nicht feige“ oder die Bezeichnung von Engländern und Franzosen als „Feinde des Vaterlandes“ haben heutzutage tatsächlich nichts mehr in einem Kinderzimmer zu suchen.
Dass die Autorin Else Ury 1943 als Jüdin in Auschwitz ermordet wurde, ist die absurde Seite dieses glühend nationalistischen Buches. Es ändert aber nichts daran, dass es für den nach Jahrzehnten endlich gefundenen Flohmarkt–Schatz nur einen einzigen Ort bei uns gibt – den Keller.