Flohmarkt-Fuchs: Was ein Brief von 1947 über zwei Freundinnen verrät
Es ist ein vergilbtes Blatt Papier, das ich auf dem Schreibtisch meines Kollegen Thomas Hirschbiegel entdecke. Er ist der „Flohmarkt-Fuchs“ der MOPO und hat immer die dollsten Dinge herumliegen. „Darf ich mal?“, frage ich neugierig und fange an zu lesen: „Meine liebe Nina!“, schreibt eine Hanna im Sommer 1947. Und ich tauche ein in eine Frauenfreundschaft, die genug Stoff böte für einen Roman. Quasi ein „Sex and the City“ in den Nachkriegstrümmern.
Es ist ein vergilbtes Blatt Papier, das ich auf dem Schreibtisch meines Kollegen Thomas Hirschbiegel entdecke. Er ist der „Flohmarkt-Fuchs“ der MOPO und hat immer die dollsten Dinge herumliegen. „Darf ich mal?“, frage ich neugierig und fange an zu lesen: „Meine liebe Nina!“, schreibt eine Hanna im Sommer 1947. Und ich tauche ein in eine Frauenfreundschaft, die genug Stoff böte für einen Roman. Quasi ein „Sex and the City“ in den Nachkriegstrümmern.
Am 11. Juni 1947 setzt sich Hanna T. in Stuttgart-Untertürkheim an ihre Schreibmaschine, spannt ein Blatt mit dem Wappen des Ortes ein und beginnt zu tippen: „Meine liebe Nina!“ Nina, soviel geht aus den Zeile hervor, wohnt in dem sächsischen Kurort Bad Elster. Die beiden Freundinnen haben sich lange nicht gesehen: Hanna fehlt das Geld für eine Reise und Passierscheine sind kaum zu kriegen. Die beiden sind, stelle ich mir vor, Ende Zwanzig und sehr selbstbewusst: „Sicherlich hast du genau so wenig wie ich den Ehrgeiz, eine bequeme Frau zu sein“, schreibt Hanna. Beide sind geschieden, aber nicht allein. Hannas Ex ist in englischer Kriegsgefangenschaft, das Paar schreibt sich noch ab und zu, aber Hanna ist froh, dass die Ehe zu Ende ist. Es geht viel um Männer in diesem Brief, um verpasste Chancen und die Hoffnung auf ein neues Glück.
Vor der Düsternis der Nachkriegszeit, mit all dem Mangel und den verschollenen Bekannten, lässt Hanna in ihrem Brief die Erinnerung an die glücklichen Jahre der Freundinnen um so heller strahlen – besonders an einen „einzig-schönen Sommer“: „Was glaubst du, Nina, waren wir in diesem herrlichen Sommer nicht doch etwas zu spießbürgerlich?“ Ach, über diesen Sommer würde die Leserin 75 Jahre später zu gerne mehr erfahren. Hanna jedenfalls bereut es, dass sie diese verzauberte Zeit nicht mehr ausgekostet hat. Tja, die Sünden, die man nicht begangen hat, bedauert man am Ende mehr als die begangenen…

Hier ist Hanna an das Ende der ersten Seite gekommen, nimmt das Papier aus der Maschine, spannt es wieder ein und tippt auf der Rückseite weiter.
Dass Ninas Mann sich von ihrer wunderbaren Freundin hat scheiden lassen, will Hanna nicht in den Kopf: „Entweder, er ist verrückt geworden, oder es steckt eine andere Frau dahinter.“ Wie wir uns Nina vorstellen müssen? „Klug, gut aussehend, nie langweilig“, so sieht Hanna sie. Und unbequem, darum ist der Mann ja vermutlich auf eine weniger anstrengende Partnerin umgeschwenkt.
In ihrem letzten Brief hat Nina geschrieben, dass sie ihre Jugendliebe wieder getroffen habe. Die freche Nina, die auch im Dritten Reich ihren Mund nicht halten konnte („ich weiß noch sehr genau, dass von dir wahrhaft gefährliche Aussprüche fielen, die dir buchstäblich den Kopf hätten kosten können“), soll aber bloß nicht wieder heiraten, findet ihre Freundin. Hannas Gedanken schweifen hierhin und dorthin, ganz wie bei einem Gespräch unter Freundinnen und so kommt sie ein paar Sätze später zu dem Schluss, dass Nina ja schon immer an ihrer ersten Liebe gehangen habe und eine Hochzeit vielleicht doch kein Unglück sei.
Sie selbst, erzählt Hanna, sei nun ja auch geschieden („Gottseidank”) und hat eigentlich die Nase voll von Männern, wie sie in dem zeitlos schönen Frauensatz zusammenfasst: „Im allgemeinen bin ich weit davon entfernt, die Männer noch ernst zu nehmen“. Ebenso zeitlos ist das „aber“: „Aber es gibt auch eine Ausnahme.“ Ein Arzt, vertraut Hanna ihrer Freundin an, bemühe sich um sie. Er hat sie in letzter Minute vor den Russen gerettet und betrachtet sie nun als seine „Beute, aber im guten Sinne.“ Ob das gut geht? Hanna, die vor dem Krieg so viel gereist ist, Wien, Breslau, Dresden – und nun eine „Beute, aber im guten Sinne“? Ihre Betrachtungen zu dem Thema enden mit einem lauen „Man muss eben das Weitere der Zeit überlassen.“
Und dann, im letzten Absatz, kurz vor dem Abschiedsgruß, skizziert Hanna in wenigen lakonischen Sätzen eine der zahllosen Tragödien, die der Krieg in Millionen von Leben angerichtet hat: „Hatte ich Dir nicht damals von meinem großen Schwarm, dem bekannten schlesischen Konzertsänger Max König erzählt? Er ist noch in den letzten Tagen gefallen, ich hätte es nie erfahren, wenn er nicht einen Brief an mich in der Tasche gehabt hätte, in dem alles stand, was er mir früher nie gesagt hatte. Das ist das Leben.“
Damit hat Hanna das Ende der Seite erreicht, nimmt den Brief aus der Maschine, schreibt mit der Hand noch ein paar kaum leserliche Grüße an den Rand – und ist fertig. Was aus Hanna und Nina wohl geworden ist? Ist Nina mit ihrer Jugendliebe glücklich geworden? Hat Hanna den Arzt erhört? Wir wissen nur: Ein Dreiviertel Jahrhundert später lag dieser Brief auf einem Stand in der Flohschanze, als Teil eines ganzes Stapels – den der MOPO-Flohmarktfuchs für fünf Euro mitnahm.