Flaniermeile? Wo der Jungfernstieg nur ein trostloser Schotterweg ist
Der Jungfernstieg ist in einem beklagenswerten Zustand: Wer hier spazieren geht, beschreitet einen unbefestigten Schotterweg, in den zahlreichen Schlaglöchern sammelt sich Regenwasser. Die Gegend lädt zum Verweilen kaum ein. Moment mal: Schotterweg, Schlaglöcher, reden wir hier noch von Hamburg? Nein, denn der Straßenname ist im Norden keine Seltenheit. Ein MOPO-Reporter hat das wohl trostloseste Exemplar entdeckt.
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Der Jungfernstieg ist in einem beklagenswerten Zustand: Wer hier spazieren geht, beschreitet einen unbefestigten Schotterweg, in den zahlreichen Schlaglöchern sammelt sich Regenwasser. Die Gegend lädt zum Verweilen kaum ein. Moment mal: Schotterweg, Schlaglöcher, reden wir hier noch von Hamburg? Nein, denn der Straßenname ist im Norden keine Seltenheit. Ein MOPO-Reporter hat das wohl trostloseste Exemplar entdeckt.
Als Thomas Hirschbiegel das Schild erblickt, staunt er nicht schlecht: „Jungfernstieg“ heißt es da plötzlich, und das mitten in der Provinz. Auf der Jagd nach dem neuesten „Lost Place“ ist der MOPO-Reporter auf dem Weg durch Quedlinburg, eine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Doch die Fahrt durch den historischen Kern der Welterbestadt nördlich des Harzes ist gesperrt, die Umleitung führt geradezu zwangsweise am Schild mit dem in Hamburg so bekannten Straßennamen vorbei. Es ist der östliche Rand der Kleinstadt, einer „gottverlassenen Gegend“, wie Hirschbiegel sagt.
Quedlinburg: Hier ist der Jungfernstieg ein trostloser Schotterweg
Der Weg ist gesäumt von einer Reihe alter Garagen. Deren Anstrich ist längst verblasst, von den Holztoren blättert der Lack ab. Weiter hinten beginnen die Kleingärten. Nur eine Ecke weiter steht ein Querdenker-Haus, mit einschlägigen Transparenten und Russlandflaggen im Vorgarten. Kurzum: Der Quedlinburger Jungfernstieg bietet ein wahres Kontrastprogramm zur berühmten Hamburger Flaniermeile.
Diente Hamburg als Vorbild? Eher nicht. Im Buch „Quedlinburger Straßennamen“ von Rüdiger Mertsch findet sich zwar keine Erläuterung zur Namensherkunft des Jungfernstiegs, wohl aber zur Nachbarstraße, dem Jungfernhohlweg. Dessen Benennung gehe auf eine alte Quedlinburger Sage zurück. Da erscheint es naheliegend, dem Nachbarweg einen ähnlichen Namen zu verpassen. In der Sage geht es übrigens gar nicht um Jungfern an sich, sondern um Elfen, die dort in den Bäumen lebten. Neben Hamburg und Quedlinburg gibt es mindestens ein weiteres Dutzend Städte mit einem Jungfernstieg, darunter Flensburg, Kiel, Glückstadt und Stralsund.
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In Hamburg wiederum blickt der Jungfernstieg auf eine lange Geschichte zurück: Im 13. Jahrhundert steigt in der Hansestadt der Bedarf an Wassermühlen, um Weizen und auch Malz fürs Bierbrauen zu mahlen. Für den Betrieb einer Mühle wird die Alster aufgestaut und ein Damm errichtet, am Ort der heutigen Ladenstraße.
1665 wird der „Reesendamm“, benannt nach dem Mühlenbesitzer Heinrich Reese, umgestaltet: Bäume werden gepflanzt, die Wege verbreitert, der Ort mausert sich zur Flaniermeile.
In Hamburg setzt sich der Volksmund durch
Im Volksmund wird die Straße bald unter einem anderen Namen bekannt, dem „Jungfernstieg“. Die Promenade ist nämlich vor allem bei unverheirateten, jungen Frauen („Jungfern“) beliebt, die sich dort beim Spazierengehen der Männerwelt zeigen. Der neue Name setzt sich durch, noch im 17. Jahrhundert wird die Straße offiziell umbenannt.
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Heute ist der Jungfernstieg neben der Mönckebergstraße die zentrale Einkaufsstraße der Stadt. Sie ist ständig im Wandel. Geschäfte ziehen ein und aus, es wird modernisiert, umgebaut – die Straße ist seit Oktober 2020 für den privaten Autoverkehr gesperrt. Und in Quedlinburg? Bleibt wohl erstmal alles beim Alten.