Homophobie und penetrante JGAs? Hamburgs Kiez-Kümmerin: „Da könnt ich durchdrehen“
Ein Mann schleppt sich den Spielbudenplatz entlang. Direkt vor ihren Füßen bricht er zusammen. Einen abgebrochenen Flaschenhals in der Brust. Das war ihr erstes Erlebnis auf dem Kiez. Damals – Mitte der 80er. Als sie sich mit 15 Jahren heimlich aus dem Kellerfenster ihres Elternhauses in Blankenese stahl, um auf St. Pauli zu feiern. Nachhaltig verschreckt hat sie der Vorfall offensichtlich nicht. Es folgten viele Partynächte und eine große, wenn auch kritische Liebe zum Stadtteil. Heute ist Julia Staron (52), ehemalige Clubbetreiberin des „Kukuun“, feste Größe des Viertels und schwer aktiv als Quartiersmanagerin, SPD-Politikerin und Künstlerin.
Jahrelang hatte sie den Kiez nachts erlebt. Tagsüber? Nicht ein einziges Mal. Erst nach dem Studium.
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Ein Mann schleppt sich den Spielbudenplatz entlang. Direkt vor ihren Füßen bricht er zusammen. Einen abgebrochenen Flaschenhals in der Brust. Das war ihr erstes Erlebnis auf dem Kiez. Damals – Mitte der 80er. Als sie sich mit 15 Jahren heimlich aus dem Kellerfenster ihres Elternhauses in Blankenese stahl, um auf St. Pauli zu feiern. Nachhaltig verschreckt hat sie der Vorfall offensichtlich nicht. Es folgten viele Partynächte und eine große, wenn auch kritische Liebe zum Stadtteil. Heute ist Julia Staron (52), ehemalige Clubbetreiberin des „Kukuun“, feste Größe des Viertels und schwer aktiv als Quartiersmanagerin, SPD-Politikerin und Künstlerin.
Jahrelang hatte sie den Kiez nachts erlebt. Tagsüber? Nicht ein einziges Mal. Erst nach dem Studium.
Als junge Kunsthistorikerin bekam Julia den Auftrag, das „Florida Hotel“ am Spielbudenplatz in das „Florida Art Hotel“ zu verwandeln. Jedes Zimmer wurde von einem anderen Künstler oder einer Künstlerin gestaltet. „Dieses Dorf, die Menschen, das Miteinander. Das Pure und Klare. Da wusste ich, hier möchte ich leben.“
Allerdings lief ihr erstes Projekt alles andere als rund. Julia holte sich „eine blutige Nase“. Sie lächelt und fährt sich durch die kurzen, blonden Haare. Sehr naiv sei sie gewesen und hätte Verträge mal besser prüfen sollen.
Es endete damit, dass sie trotz zwei Jahren harter Arbeit keinen Cent verdiente. „Leider musste ich auch noch Rechnungen bezahlen und bin da mit fettem Minus rausgegangen.“ Heute kann sie drüber lachen. Damals war das nicht so witzig.
Julia Staron ist Ex-Clubbetreiberin des „Kukuun“
Allerdings hielt es sie nicht davon ab, den Betrieb des Hotels Jahre später mit ihrem Mann Olaf zu übernehmen. Sie versuchten das Kunst-Hotel wieder zum Leben zu erwecken. Ziemlich erfolglos. Die Substanz des Hauses war miserabel. Die benachbarten Clubs noch eine Nummer lauter geworden. „Die Gäste sind völlig entnervt nachts um drei abgereist.“
Einzige Chance: Ein neues Konzept musste her. Aus der kleinen Hotelbar wurde eine Live-Location, aus den Hotelzimmern Kunsträume für private Feiern. Die ersten Jahre des „Kukuun“. Doch es blieb turbulent. „Es folgte ein riesiges Hin und Her mit der Stadt um das Gelände.“ Am Ende wurde neu gebaut und das Klubhaus St. Pauli entstand.
Die Hoffnungen waren groß, die Ernüchterung ebenfalls. Das neue „Kukuun“ im Klubhaus lief nicht so, wie es sich die Betreiber gewünscht hätten. „Obwohl wir Top-Musik-Acts hatten, kamen die Leute nicht.“ Wegen des schlechten Vorverkaufs wurden sogar die Eintrittspreise aufgehoben. Und das nicht nur einmal. Julia musste ihre Bekannten einzeln bitten, zu kommen. Und selbst das funktionierte nicht. Mit fünf Gästen im Laden vor einem Musiker hocken – „dafür reiße ich mir nicht den Arsch auf“. Kultur, die keinen erreicht, wollte Julia nicht machen.
Julia Staron kümmert sich als Quartiersmanagerin um St. Pauli
Anfang 2019 führte das Ehepaar viele Gespräche. Sollten sie den Club aufgeben? Klar, das „Kukuun“ war 17 Jahre lang ihre größte Leidenschaft. „Eine Fläche zu ermöglichen, auf der genrefreie kulturelle Experimente möglich sind, hat mich angetrieben.“ Aber die Zeiten, in denen das funktionierte, waren offensichtlich vorbei. Die Betreiber verkauften das „Kukuun“ an Moderator Yared Dibaba und seine drei Partner, die das „Uwe“ daraus machten. Auch wenn sie mit dem Club nie etwas verdient hatten, so gingen sie am Ende doch schuldenfrei raus.
Heute ist Julia froh, die Nächte zum Schlafen zu haben. Die Tagesauslastung mit ihren zahlreichen Jobs ist hoch. Um fünf klingelt der Wecker. Gelegentlich malt die bildende Künstlerin frühmorgens. Häufig ist sie aber mit ihren beiden Hunden unterwegs. Gerne schon sehr früh, damit niemand sieht, wie sie mit ihren Vierbeinern redet. „Ich bespreche meinen Tagesablauf mit ihnen. Sie sind meine Therapeuten und sorgen dafür, dass ich nicht völlig hohldrehe. Ich glaube, die beiden mögen das“, sagt sie laut lachend.
St. Paulis Stadtteilkümmerin vermittelt bei Problemen
Hauptberuflich ist Julia Projektleiterin für die „Stadtmanufaktur“. Sie berät Städte, Gemeinden und Kommunen in Sachen Marketing und Stadtentwicklung. Nebenberuflich arbeitet sie als Quartiersmanagerin des „BID-Reeperbahn+“. Anders als bei anderen Business Improvement Districts geht es dabei nicht um Weihnachtsbeleuchtung oder neue Bepflanzung für Einkaufsstraßen. Julia sieht sich als Stadtteilkümmerin. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Lars Schütze vermittelt sie häufig bei Problemen.
Ein Thema, das sie in den vergangenen Monaten als Politikerin und natürlich auch als Anwohnerin beschäftigt hat, ist der Konflikt an der Paul-Roosen-Straße. Auf der einen Seite lärmgeplagte Anwohner, auf der anderen Corona-gebeutelte Gastronomen. „Da wird übereinander geredet, aber nicht miteinander. Für mich sind beide Seiten verantwortlich.“ Immer wieder seien Gesprächsrunden versucht worden. Leider bisher erfolglos. „Was da passiert, ist so gar nicht sanktpaulianisch.“ Eine Lösung sei mit diesen verhärteten Fronten wirklich schwierig.
St. Pauli: Vermitteln zwischen Gastronomen und Anwohnern
Eine Baustelle von vielen. Gerade arbeitet das BID an einer neuen Kampagne unter dem Motto „Lieb sein“. „Aufgrund der vermehrt vorkommenden Gewalttaten im Bereich Homophobie und Sexismus in den letzten Monaten, die uns sehr sauer aufstoßen.“ Mehr als 50 Protagonisten wurden dafür mit dem Schild „Lieb sein – No Racism, No Homophobia, No Sexism“ fotografiert. Nicht nur bei Kiez-Besuchern soll das Thema sichtbar gemacht werden. Auch bei Sicherheitsunternehmen. „Es ist immer wieder Thema, dass Türsteher nicht eingreifen, wenn etwas passiert.“ Und das ist momentan häufig der Fall.
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Seitdem St. Pauli wieder hochgefahren wurde, sei die Stimmung anders. „Da ist gerade eine Generation unterwegs, die zweieinhalb Jahre nicht geübt hat. Die drehen komplett am Rad. Nachholen, nicht wissen, was der Herbst bringt, falscher Umgang mit Alkohol – da kommt eins zum anderen.“ Hinzu kommt: Der Kiez ist voller denn je und es herrscht Personalmangel. „Wir sind gerne Gastgeber und Gastgeberinnen, aber es gibt hier einen Kodex und an den halten sich die Gäste bitte. Das müssen wir einfach wieder schärfen.“
Quartiersmanagerin: Junge Kiezgänger „drehen komplett am Rad“
Julia ist guter Dinge, dass das gelingt. Auch wenn es nicht immer einfach ist, die Interessen aller unter einen Hut zu bekommen. Diskussionen und Gegenwind ist sie als SPD-Politikerin, die sich vehement für den Tierschutz starkmacht, gewöhnt. Da geht es auch mal hitzig zu. Da rein, da raus – das kriegt sie häufig nicht hin. Julia regt sich schnell auf. „Ich hoffe, ich habe gelernt, mich wieder schneller einzukriegen, aber Haltung ist für mich alles.“ Dass ist es auch, was sie an St. Pauli so sehr liebt. Die Direktheit. Die Ehrlichkeit.
Der Kiez ist ihr Zuhause. „Und trotzdem kann man nicht immer nur Konfetti werfen. Es gibt hier auch Entwicklungen, die ich kritisch beobachte.“ Wie penetrante Junggesellenabschiede. Die gehen ihr schwer an die Nerven. Für sie der Inbegriff von Dumpfheit. „Wenn eine Trulla mit Diadem und Schärpe auf mich zukommt, könnt ich durchdrehen“, sagt die Frau mit lauter, aufgeregter Stimme.
Oh Mann, jetzt ist es schon wieder passiert. Julia will sich doch nicht immer so aufregen. Sie lacht und kommt schnell wieder zu den schönen Seiten des Stadtteils. St. Pauli mache sie jeden Tag glücklich. Dieses Dorf, das die ganze Welt zu Besuch hat. „Der Kiez hat eine so großartige Haltung von Gesellschaft und Miteinanderleben, das müsste eine Blaupause sein für alle“, sagt sie. Tränen der Rührung steigen ihr in die Augen.
Steckbrief: Julia Catharina Staron (52)
Spitzname und Bedeutung: Es gibt Menschen, die dürfen mich Julchen nennen – mein altes Kukuun-Team nennt mich so.
Beruf/erlernte Berufe: Quartiersmanagerin und Projektleiterin, studierte Kunsthistorikerin und Mediatorin
St. Pauli ist für mich … Freiheit.
Mich nervt es tierisch, wenn … Leute einfach rumpissen.
Ich träume davon, … unendliche Gelassenheit zu lernen.
Wenn mir einer blöd kommt, … dann muss er das Echo vertragen können.
Zum Abschalten … gehe ich mit meinen Hunden an die Elbe.
Als Kind … war ich verheiratet. Mit vier Jahren hatte ich schon einen Fantasie-Ehemann. Ich hatte immer jemanden, dem ich die Schuld geben konnte. Wenn ich Ärger kriegen sollte, habe ich behauptet, das sei mein Mann gewesen. Kurz vor der Einschulung wollte ich keinen Mann mehr haben. Da musste er nach Amerika auswandern.
Meine Eltern … haben zwar mitbekommen, dass ich schon mit 15 heimlich auf dem Kiez unterwegs war, mich aber machen lassen.
Vom Typ her bin ich … zuverlässig und verbindlich.