Experte kritisiert Polizei: „Noch lauter kann eine Amok-Warnung doch gar nicht sein“
Prof. Dr. Stephan G. Humer forscht zu Amoktätern, leitet den Bereich Internetsoziologie an der Hochschule Fresenius – und blickt fassungslos auf die Arbeit der Hamburger Polizei im Vorfeld des Amoklaufes gegen die Zeugen Jehovas. Die MOPO sprach mit dem Wissenschaftler über schlampige 30-Sekunden-Google-Recherchen, das Sendungsbewusstsein von Amokläufern und überhörte Alarmglocken.
Prof. Dr. Stephan G. Humer forscht zu Amoktätern, leitet den Bereich Internetsoziologie an der Berliner Hochschule Fresenius – und blickt fassungslos auf die Arbeit der Hamburger Polizei im Vorfeld des Amoklaufes gegen die Zeugen Jehovas. Die MOPO sprach mit dem Wissenschaftler über schlampige 30-Sekunden-Google-Recherchen, das Sendungsbewusstsein von Amokläufern und überhörte Alarmglocken.
MOPO: Professor Humer, wie haben Sie die Pressekonferenz der Polizei nach dem Amoklauf erlebt? Als klar wurde, dass die Polizei zuvor einen Hinweis auf den Täter erhalten hat?
Stephan G. Humer: Ich konnte gar nicht glauben, was der Polizeipräsident über die Qualität der daraus folgenden Recherchen gesagt hat. Dass er sowas ernst meint im Jahr 2023! Das hat mich wirklich schockiert, das ist nach über 25 Jahren der Massendigitalisierung absolut indiskutabel.

Es wurde der Namen des Täters und das Wort Buch gegoogelt und da kam nichts.
Das ist ja nicht das einzige Versäumnis: Die Polizei hat sich die Website des Täters angeguckt und die Buchveröffentlichung nicht gefunden. Der Typ hat sich die Mühe gemacht und eine Webseite gebaut und der dritte Punkt auf der Website war das Buch! Auf mehreren Bildschirmseiten bewirbt der sein Buch, der hatte einen Mitteilungsdrang. Da war sogar ein Link zu Amazon, wo das Buch in etlichen Ländern angeboten wurde. Und dann so ein Titel mit Wahrheit und Satan, da frage ich mich, wie plakativ muss es für die Polizei denn werden? Diese Kombination aus Schusswaffenbesitz, Warnung und dem Hinweis, der hat etwas geschrieben – das ist Terrorismusforschung erstes Semester, da müssen alle Alarmglocken läuten, denn es könnte dabei um ein Manifest gehen. Das ist etwas, was sehr viele Amokläufer machen, diese umfassende Rechtfertigung ihrer Taten, diese Hoffnung, nach ihrem Tod vielleicht Fans zu haben. Das war in Hanau so, in Norwegen und Neuseeland. Da suche ich doch nicht nur 30 Sekunden bei Google und mach einen Haken dran!
Die Polizei macht nun dem Hinweisgeber den Vorwurf, er hätte sich nicht anonym melden sollen.
Was für eine Ausrede. Es ist doch unerheblich, ob jemand seinen Namen nennt, solange der Hinweis stichhaltig ist. In diesem Fall wurde auf ein religiöses Buch verwiesen, es wurden sogar die Zeugen Jehovas erwähnt – noch lauter kann eine Amok-Warnung doch gar nicht sein. Da schreit doch alles: „Amok-Gefahr!“
Die Polizei sagt, sie hätten keine rechtliche Möglichkeit gehabt, dem Mann die Waffe zu entziehen.
Ja, alles, was klassische Polizeiarbeit ist, der Hausbesuch, die Kontrolle der Waffenverwahrung, das wurde anscheinend routiniert abgearbeitet. Aber in den USA hätte wohl selbst die kleinste Polizeidienststelle bei diesen Warnzeichen das halbe Internet durchforstet, inklusive Social Media. Noch stärker als die Hamburger Polizei kann man nicht signalisieren, dass Digitalisierung in der Behörde keinen Stellenwert hat. Da wird kurz gegoogelt, ohne auf die Idee zu kommen, ein Buch auch mal bei Amazon zu suchen. Wenn sich so etwas Simples bei der Polizei Hamburg noch nicht rumgesprochen hat, dann frage ich mich, ob die die richtige Stelle sind, um Waffenlizenzen zu erteilen.
Die Polizei sagt auch, sie haben viele Menschenleben gerettet.
Zu der Rettungsaktion hätte es gar nicht kommen müssen, wenn die Polizei an anderer Stelle vorher vernünftig gearbeitet hätte.
Sie sind ja richtig fassungslos.
Ja, ganz ehrlich, da fehlt mir irgendwann das Verständnis. Ich frage mich, warum in Deutschland und international von so vielen Kollegen und Kolleginnen überhaupt Digitalisierungs- und Terrorismusforschung betrieben wird und dann wird eines der wichtigsten Themen des 21. Jahrhunderts behandelt, als wäre das irgendein Randthema. Man kann das alles, Digitalisierung und Social Media, ja hassen und doof finden, es bleibt trotzdem ein relevanter Bestandteil unseres Lebens, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Auch und gerade die Polizei.