• Viele Senioren lehnen eine Impfung mit AstraZeneca ab (Symbolbild)
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Experte erklärt: Warum die Angst vor AstraZeneca größer ist als vor der Krankheit

Hamburg hat am Mittwoch, Donnerstag und Freitag dieser Woche den Impfstoff von AstraZeneca für alle ab 60 Jahren freigegeben. 24.000 zusätzliche Termine waren binnen Stunden ausgebucht. Viele der bisher Impfberechtigten über 70 Jahren lehnen das Vakzin allerdings ab – obwohl viele Experten und auch die Ständige Impfkommission AstraZeneca für Senioren ausdrücklich empfehlen. Die MOPO sprach mit dem Risikoforscher Professor Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam über irrationale Gefahreneinschätzung, und was Rauchen und Flugreisen mit Corona zu tun haben.

MOPO: Herr Professor Renn, viele ältere Menschen lehnen eine Impfung mit AstraZeneca ab. Warum ist die Angst vor der Impfung größer als vor der Krankheit? 

Ortwin Renn: Generell gilt: Risiken, an die wir uns gewöhnt haben, schätzen wir eher zu niedrig ein, neue Risiken schätzen wir dagegen höher ein, als sie tatsächlich sind. Covid-19 ist ein Risiko, an das wir uns ein Jahr lang gewöhnt haben. Die meisten Menschen, auch die älteren, sind ohne Infektion durch die Pandemie gekommen und fühlen sich gut geschützt. Eine Thrombose durch eine Impfung ist aber ein neues Risiko. Thrombosen gelten darüber hinaus ein gerade für ältere Menschen als lebensgefährliche Bedrohungen, die man unbedingt vermeiden sollte.

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Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor am Institute for Advanced Sustainability Studies e.V. (IASS) in Potsdam

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Aber eine Infektion mit Corona kann doch gerade für die Älteren auch lebensgefährlich werden. 

Das stimmt, aber das Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken, wird als steuerbar wahrgenommen. Ich kann mich selbst davor schützen, indem ich zuhause bleiben, draußen Maske trage und Abstand halte. Bei einer Impfung aber passiert etwas in meinem Körper, das ich nicht kontrollieren kann. Senioren, die so denken, sind nicht zwangsläufig Impfgegner, aber sie sind empfänglich für deren Argumente, etwa, dass die Thrombosezahlen in Wahrheit viel höher sind, dass auch Ältere mehr betroffen sind, als öffentlich zugegeben wird, dass das alles eine Strategie der Pharmafirmen ist, um Geld zu verdienen. Dazu kommt eine fast mythologische Haltung: Eine Krankheit wird als gottgegebenes Schicksal wahrgenommen, aber wenn ich durch eine Impfung Schaden nehme, dann habe ich dem ja aktiv zugestimmt, dann bin ich selbst Schuld. Diese Haltung ist unter Eltern weit verbreitet, die ihre Kinder nicht impfen lassen. An Corona erkennen wir universelle Muster der Risikobewertung.

Wie meinen Sie das?

Autofahren etwa gilt als ein steuerbares Risiko, jedenfalls, wenn man selbst am Steuer sitzt. 80 Prozent der Menschen glauben, dass sie besser Auto fahren als alle anderen. Und wenn doch mal ein Unfall passiert, hat man gute Überlebenschancen. Fliegen ist statistisch viel sicherer, wird aber als unkalkulierbares Risiko wahrgenommen, weil man die Kontrolle an den Piloten abgeben muss. Und wenn das Flugzeug abstürzt, ist man tot. Auf Corona übertragen wäre eine Covid 19-Erkrankung das Autofahren und die Thrombose durch eine Impfung wäre das Fliegen.

England hat Millionen Menschen mit AstraZeneca geimpft, viele Wissenschaftler erklären, dass der Impfstoff für ältere Menschen empfehlenswert ist, gilt das gar nichts?

Die meisten Senioren nehmen diese Informationen ja an. Aber die anderen Motive der Risikobewertung sind sehr stark. Wir sind, was das Einschätzen von Gefahren angeht, alle sehr inkonsistent und das ist auch gut so, sonst würde ja etwa keiner mehr auf einen Berg steigen. An dem Spruch „no risk, no fun“ ist schon was dran. Jeder Raucher weiß, dass Rauchen gefährlich ist, sagt sich aber, dass er sicher die Ausnahme ist, bei der nichts passiert. Jeder kennt jemanden, der als Raucher sehr alt geworden ist. Und wenn es Helmut Schmidt ist. Wenn ich aber das Gefühl habe, andere wollen mir ein Risiko aufdrängen, etwa eine Impfung mit ihren Nebenwirkungen, dann handeln wir nach dem Motto „better safe than sorry“, also gehen lieber auf Nummer sicher. Dann gehen viele Menschen davon aus, dass sie sicher zu denjenigen gehören, die Schaden nehmen. 

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Und dann glaubt man eher den Norwegern, die das Impfen mit AstraZeneca eingestellt haben, als den Engländern?

Ja, aber anders als beim Rauchen gefährdet diese individuelle Irrationalität nicht nur den Einzelnen, sondern die ganze Gemeinschaft.

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