Hamburger Ex-Polizist: „Absolute Grenzenlosigkeit“ bei Jugendgewalt ist neu
Es sind Kinder mit mehr Polizei-Einträgen als Lebensjahren. Mädchen, die ihre Kontrahentin in eine Falle locken und zusammenschlagen. Jungen, vor denen ganze Viertel Angst haben. Minderjährige, die vor laufender Kamera gedemütigt werden. Jens Mollenhauer hat mit Tätern und Opfern gesprochen und ein Buch darüber geschrieben. In „Herzgewalt“ erzählt er auch, wie er als Mitglied einer Jugendgang „reiche Schnösel“ in Blankenese vermöbelte – und schließlich Polizist wurde. Heute setzt er sich für Gewaltprävention ein. Die MOPO traf ihn zwischen zwei Kursen an der Bonifatiusschule in Wilhelmsburg und sprach mit ihm über Kinder, die töten, über die zunehmende Jugendgewalt und was sich gegenüber früher drastisch verändert hat.
Es sind Kinder mit mehr Polizei-Einträgen als Lebensjahren. Mädchen, die ihre Kontrahentin in eine Falle locken und zusammenschlagen. Jungen, vor denen ganze Viertel Angst haben. Minderjährige, die vor laufender Kamera gedemütigt werden. Jens Mollenhauer hat mit Tätern und Opfern gesprochen und ein Buch darüber geschrieben. In „Herzgewalt“ erzählt er auch, wie er als Mitglied einer Jugendgang „reiche Schnösel“ in Blankenese vermöbelte – und schließlich Polizist wurde. Heute setzt er sich für Gewaltprävention ein. Die MOPO traf ihn zwischen zwei Kursen an der Bonifatiusschule in Wilhelmsburg und sprach mit ihm über Kinder, die töten, über die zunehmende Jugendgewalt und was sich gegenüber früher drastisch verändert hat.
MOPO: Es gab in diesem Jahr bereits viele Fälle von Jugendgewalt. In Wunstorf (Hannover) erstach ein 14-Jähriger seinen Freund. In Freudenberg (Siegerland) haben zwei Mädchen (12/13) ihre Klassenkameradin in einen Hinterhalt gelockt und erstochen. Können Kinder, die jemanden getötet haben, noch resozialisiert werden?
Jens Mollenhauer: Ich bin kein Psychologe, aber ich habe mit Kindern zu tun, die extremste Gewalttaten begangen haben – und ich denke, ja, Menschen können sich ändern. Das sind Kinder, denen viel fehlt. Wir als Gesellschaft haben die Aufgabe, uns dieser Menschen anzunehmen und dafür zu sorgen, dass sie Hilfe bekommen.
Was fehlt ihnen?
Wer die Geschichten der jugendlichen Täter hört, stellt fest: Das sind auch Opfer, gesellschaftliche Opfer. Sie werden unter schwierigen Umständen groß, ihre Eltern kümmern sich nicht, viele sind vaterlos. Das beschreibe ich in meinem Buch, genau wie die große Empathielosigkeit. In einem Fall haben zwei Viertklässler eine ältere Frau überfallen und noch auf sie eingetreten, als sie am Boden lag. Das war in diesem Stadtteil – nicht weit weg von uns. In Hamburg laufen Kinder und Jugendliche herum, die erstmal Empathie lernen müssen.

Muss Ihre Arbeit dann nicht bei den Eltern anfangen?
Ja, natürlich. Deshalb macht der Jugendschutz die Erstkontaktgespräche, besucht die Menschen. Auch in Einrichtungen wie den Containerdörfern von Geflüchteten, wo sie unter unwürdigen Verhältnissen leben. Was wir dort und in Wohnungen vorfinden, beschreibe ich in meinem Buch. Denn es ist wichtig, dass auch der „normale Bürger“ weiß, wie diese Kinder groß werden – in einer Welt der Verwahrlosung, Aggressionen und Gleichgültigkeit.
Im Buch beschreiben Sie, wie unterschiedlich Ihnen Kinder reicher Eltern und solche aus armen Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund begegnen. Die reichen Kids sind herablassend, als würden sie über allem stehen. Kinder aus schwierigen Verhältnissen sehen in Ihnen oft eine Art Vaterfigur. Wie gehen Sie damit um?
Ich gucke zunächst, mit wem ich es tun habe. Überlege, welches Päckchen das Kind wohl zu tragen hat. Das ist viel Erfahrungswissen und braucht Feingefühl. Und ich muss eine andere Sprache wählen, je nach dem, ob ich ein Kind aus Blankenese oder Billstedt vor mir habe. Wenn ich meine gewaltfreie Kommunikation in Billstedt auspacken würde, würde mir das Kind einen Vogel zeigen und sagen, was säuselt der so weich herum – weil er das nicht kennt. Ich muss in einer Einheit wie dem Jugendschutz also auch sprachlich geschult sein.
Was müssen Sie sonst noch mitbringen?
Man darf Jugendliche nicht als Feindbild betrachten. Das merken sie sofort. Es ist wichtig, authentisch zu sein. Gefühl zu haben, Empathie. Du musst klar machen: Ich bin bei dir, zeige Präsenz. Ich steh dir auch auf den Füßen, und du findest das nicht witzig, aber ich respektiere dich – als Mensch. Und wenn du Scheiße baust, werde ich dich auch als Mensch respektieren, aber trotzdem festnehmen. Sie müssen wissen, sie haben eine Grenze überschritten. Mit dieser Haltung bin ich einschätzbar, das ist wichtig.
Sie sprechen nicht nur mit Tätern, sondern auch mit Opfern. Im Buch schildern Sie eine Szene, wo Jugendliche einen Jungen an einen Zaun gefesselt haben, sein Gesicht mit Hundekot beschmierten, ihn verhöhnten und die Szene filmten. Wie können Sie jemandem, der so etwas erlebt hat, Selbstvertrauen zurückgeben?
Für mich war der erste Schritt, zu erkennen, dass da jemand Hilfe braucht. Denn als die Polizei ihn fragte, was passiert sei, sagte er: „Nichts, alles gut.“ Wir haben den Jungen besucht. Ich versuche dann eine Beziehung aufzubauen, gucke sein Zimmer an, schaue, ob er eine fürsorgliche Mama hat. Ich will wissen, wieso er „nichts, alles gut“ gesagt hat. Dafür braucht man Zeit – und nicht nur einen Besuch.
Wie kommen Sie an die Kinder heran?
Ich habe mir eine Herangehensweise in Bildern überlegt. Ich male ein Feuer im Bauch und frage ihn, wo sein Feuer auf der Skala ist. Ohne etwas zu sagen, machen sie dann ein Kreuz – meistens weit oben. Ich sehe daran: das Kind hat Ängste. Dann spreche ich darüber. Das Ziel ist, dem Opfer immer wieder Mut zu machen, Grenzen zu setzen und anzuzeigen. Ich zeige den Kindern, dass sie sich selbst schützen können, indem sie Anti-Opfer-Signale lernen.

Was sind Anti-Opfer-Signale?
Wie man sich hinstellt, mit jemandem spricht. Ich bringe den Kindern schon im Kindergarten und in der Grundschule bei, über die eigenen Gefühle sprechen zu können, Stopp zu sagen, aber auch wegzugehen und sich Hilfe zu holen.
Haben Sie ein Beispiel?
Gerade eben hatte ich in einer Klasse ein krasses Erlebnis. Die Kinder haben mir erzählt, dass ihre Lehrerin häufiger schreit. Ich sagte, das nenne ich Herzgewalt, wenn man Menschen anschreit. Sie wollten wissen, ob die Lehrerin das darf. Ich sagte ja, die Lehrerin darf euch erziehen und auch mal wütend werden. Sie darf das gleiche wie die Eltern – aber es sollte kein normales Verhalten sein, Gewalt auszuüben. Einige Schüler und Schülerinnen verneinten vehement, dass ihre Lehrerin sie erziehen dürfe. Ein Schüler gab sein Unverständnis ganz besonders zum Ausdruck, indem er sagte, dass die Lehrerin ihn doch sonst auch schlagen dürfe, wie seine Eltern zu Hause. Ich habe ihm erklärt, dass es sich um körperliche Gewalt handelt, die grundsätzlich niemand in der Erziehung anwenden darf. Auch nicht seine Eltern. Er war der Meinung, seine Eltern dürfen das. Hier sind weiterführende Gespräche und Hilfen notwendig. Es war cool, dass er den Mut hatte, von dem Feuer in seinem Bauch zu erzählen.
Gibt es einen Unterschied zwischen der Jugendgewalt von früher, als Sie ein Teenie waren, und heute?
Ja, es hat sich verändert – auch durch das Internet. Im Vergleich zu 2019 haben wir eine Steigerung von 20 Prozent bei tatverdächtigen Kindern unter 14 in Hamburg. Das merkt man auch an Schulen. Wir haben es in fast jeder Klasse mit emotional auffälligen Menschen zu tun. Auf der Straße werden Rettungskräfte und Polizisten angegriffen. Taten werden gefilmt, das war vor 20 Jahren nicht so. Sie laden die Videos auf Social Media hoch, holen sich Bestätigung und Anerkennung. Abenteuerlust und Langeweile als Motivation für Straftaten gab es früher auch. Aber diese absolute Grenzenlosigkeit, die hat sich gesellschaftlich aus meiner Sicht absolut verändert. Das ist etwas, was wir als Staat unbedingt angehen müssen – durch ganz viel präventive Arbeit.