So können Eltern ihre Kinder vor Essstörungen schützen
Es sind beunruhigende Zahlen, die aus einer Studie der Kaufmännischen Krankenkasse hervorgehen: 18 von 1000 zwölf- bis 17-jährigen Frauen leiden in Deutschland unter einer Essstörung. Es gab einen massiven Anstieg der Zahlen während der Corona-Krise – von 2020 auf 2021 um rund 30 Prozent. Die MOPO hat mit der Sozialpädagogin Karin Reupert gesprochen. Sie arbeitet bei Waage e.V., einer Hamburger Beratungsstelle für Menschen mit Essstörungen mit Sitz in Altona-Nord. Rund 2500 Beratungen bietet die Einrichtung im Jahr an – online auch bundesweit. Welchen Einfluss hat Social Media auf Essstörungen, wie können Eltern erkennen, dass ihr Kind betroffen ist – und wie reagieren sie dann richtig?
Magersucht, Bulimie, Fressattacken: Es gibt viele unterschiedliche Arten von Essstörungen. Beunruhigend: Während der Pandemie ist die Fallzahl bei jungen Frauen um 30 Prozent in die Höhe geschossen, wie eine Studie der Kaufmännischen Krankenkasse zeigt. Die MOPO hat mit Sozialpädagogin Karin Reupert von der Hamburger Beratungsstelle Waage e.V. gesprochen. Die Expertin erklärt, wie Eltern ihre Kinder schützen können. Und wie sie richtig reagieren, wenn ein Kind eine Essstörung entwickelt.
Frau Reupert, wie können Eltern überhaupt erkennen, dass ihr Kind eine Essstörung hat?
Karin Reupert: Da gibt es keinen pauschalen Fahrplan. Aber häufig äußern sich Essstörungen in Veränderungen: Verändert sich das Essverhalten, verändert sich das Gewicht, das Sportverhalten, der soziale Kontakt, die Stimmungslage? Hinzu kommen häufig starre Regeln in der Alltagsgestaltung: Muss immer um Punkt sieben Uhr aufgestanden werden, auch am Wochenende? Muss immer fünf Kilometer gejoggt werden? Gibt es eine allgemeine Unlust, am Leben teilzunehmen? Das können alles Indizien sein.
Also gibt es ganz unterschiedliche Anzeichen.
Ja, und das macht es so schwer. Wie sich eine Essstörung äußert, ist genauso vielschichtig wie ihre Ursachen.
Laut einer Studie der Kaufmännischen Krankenkasse leiden immer mehr junge Frauen unter Essstörungen: 18 von 1000 zwölf- bis 17-jährigen Mädchen sind es. Während der Corona-Pandemie ist die Zahl drastisch in die Höhe geschossen. Warum?
Karin Reupert: Essstörungen haben während der Corona-Pandemie junge Menschen, vor allem junge Frauen, erreicht, die eh schon in einem erschütterten, vielleicht sogar labilen Lebenszustand waren. Wir sehen Essstörungen als Lösungsversuch, bei denen die Betroffenen an einer anderen Stelle überfordert sind. Viele nutzen soziale Kontakte als Möglichkeit, Entlastung zu schaffen, sich mitzuteilen, Lösungen für Probleme zu finden – das fiel alles weg.
Welchen Einfluss hat Social Media auf Essstörungen?
Die Nutzer:innen-Zahlen von Social Media sind während der Corona-Pandemie kometenhaft in die Höhe geschossen. Soziale Medien wurden als Ersatz für reale, soziale Kontakte genutzt. In diesen Medien haben wir ein enges Schönheitsideal. Das hat die jungen Frauen erreicht, die ohnehin schon wegen ihres Körpers eine große Verunsicherung haben. Die wurde dadurch dann noch größer.

Wie alt sind die Betroffenen, die zu Ihnen kommen?
Hier vor Ort beraten wir junge Erwachsene ab 18 Jahren. Unsere älteste Klientin war 84 Jahre alt. Unsere Erfahrungen zeigen: Essstörungen haben in allen Altersbereichen zugenommen.
Äußern sich Essstörungen bei älteren Menschen genauso wie bei jüngeren?
Im äußeren Erscheinungsbild gibt es keine großen Unterschiede. Letzte Woche habe ich hier eine 48-jährige Frau gesehen mit einer sehr ausgeprägten Magersucht. Da sind die Beweggründe nur andere, weil diese Menschen in einer ganz anderen Lebensphase sind. Aber das Schönheitsideal macht vor dem Alter keinen Halt.
Was sind das dann für Beweggründe bei älteren Menschen?
Das sind lebensverändernde Ereignisse: Der Verlust des Partners, des Arbeitsplatzes, die Kinder ziehen aus – eben alles, was eine Seele so erschüttern kann.
Beraten Sie auch Männer?
Vor Ort beraten wir ausschließlich Frauen ab 18 Jahren, online Männer unabhängig vom Alter. Erst letzte Woche hatten wir einen Klienten. Wir würden sie gerne auch vor Ort beraten, aber das können wir aufgrund der Behördenfinanzierung nicht: Die Beratung von Männern ist in Hamburg derzeit finanziell überhaupt nicht abgesichert.

Wie reagieren Eltern richtig, wenn eines oder mehrere Anzeichen für eine Essstörung bei ihrem Kind zutrifft?
Hauptsache, sie reagieren. Am besten sprechen sie ihre Wahrnehmungen an und sagen: „Mir fällt auf…“ oder „Ich mache mir Sorgen…“. Eine Zuschreibung – „Du bist immer so…“ – löst meist Widerstand aus.
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Schämen sich die Betroffenen für ihre Krankheit?
Ja, auch. Häufig fällt es den Betroffenen schwer, zuzugeben, was sie spüren – denn dann kommt die Angst auf, mit der Essstörung aufhören zu müssen. Das Problem ist nämlich, dass Betroffene oft einen hohen Krankheitsgewinn haben. Das heißt: Sie haben in dem Moment etwas von ihrer Krankheit, die Probleme, die sie an anderer Stelle haben, fühlen sich in dem Moment nicht so groß an.
Können Eltern ihre Kinder vor Essstörungen schützen?
Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht. Ein guter Aspekt ist aber, Kinder so zu begleiten, dass sie ein Selbstwertgefühl entwickeln mit der Botschaft: „So, wie du bist, bist du in Ordnung.“
Am 15. Juni findet eine Diskussionsveranstaltung unter dem Motto „WHO CARES?! Versorgungsperspektiven bei Essstörungen in Hamburg“ der Waage e.V. statt. Akteur:innen der psychosozialen Beratung und Behandlung, Vertreter:innen der Krankenkassen und Politiker:innen werden vor Ort sein. 18 bis 20 Uhr im Haus des Sports in der Schäferkampsallee 1 in Eimsbüttel (Olympiasaal, 5. OG).