Erika Estis: Eine große Hamburgerin ist 100-jährig in den USA gestorben
Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Und auch sie selbst hätte die Nazi-Diktatur wohl nicht überlebt, wenn sie nicht mit einem Kindertransport 1938 nach Großbritannien in Sicherheit gebracht worden wäre: Am vergangenen Sonntag ist eine der letzten Hamburger Zeitzeuginnen des Holocaust im Alter von 100 Jahren im US-Bundesstaat New York gestorben: Erika Estis. Dass sie überlebte, verdankte sie einer Idee ihrer Lehrerin.
Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Und auch sie selbst hätte die Nazi-Diktatur wohl nicht überlebt, wenn sie nicht mit einem Kindertransport 1938 nach Großbritannien in Sicherheit gebracht worden wäre: Am vergangenen Wochenende ist eine der letzten Hamburger Zeitzeuginnen des Holocaust im Alter von 100 Jahren in Hastings-on-Hudson im Staate New York, einem Vorort von New York City, gestorben: Erika Estis hinterlässt drei Kinder, sieben Enkel und acht Urenkel.
In einem Haus an der Ecke Fruchtallee/Vereinsstraße (Eimsbüttel) wuchs sie auf. Darin befand sich auch die Apotheke, die ihr Vater Paul Freundlich seit 1910 betrieb. „Direkt darüber war unsere Wohnung“, so Erika Estis vor zwei Jahren in einem Interview mit der MOPO. „Nach Hitlers Machtergreifung wurden wir von Nachbarskindern, von denen wir dachten, es sind unsere Freunde, plötzlich gemieden und beschimpft. Die Jungs zeigten uns stolz ihre HJ-Uniformen.“
Erika Estis‘ Eltern wurden 1942 in Auschwitz ermordet
Mit Schaudern berichtete Erika Estis vom 1. April 1933, dem Tag des „Judenboykotts“. SA-Männer schmierten mit weißer Farbe „Jude“ auf die Schaufensterscheibe der Apotheke und bezogen draußen Posten. Fast alles war Juden bald darauf verboten: „Wir Kinder durften nicht mal mehr auf die Spielplätze.“ Tabu waren auch Kinos, Schwimmbäder und Theater. In der Straßenbahn mussten Juden auf der vorderen Plattform stehen und durften sich nicht unterhalten.
Der einzige Ort der Geborgenheit, der den Kindern blieb: die Schule. Erika Estis besuchte die Israelitische Töchterschule an der Karolinenstraße (St. Pauli). Bedrückend sei gewesen, dass die Klassen zusehends kleiner wurden, weil immer mehr Familien es nicht mehr aushielten und emigrierten – plötzlich waren enge Schulfreunde nicht mehr da.
Vater Paul Freundlich betrieb in Eimsbüttel eine Apotheke
Dann kam der 9. November 1938, die Reichspogromnacht. Von ihren Eltern wurde sie am nächsten Morgen zur Schule geschickt, so, als wäre es ein ganz normaler Tag. Aber es war kein Tag wie jeder andere: Mit dem Rad kam Erika an der Bornplatzsynagoge vorbei, sah Polizei und SA-Männer dort stehen, sah die zersplitterten Scheiben, die zerstörte Tür. Erika Estis verstand nicht, was los war. Hatte es gebrannt?
Die fürchterlichen Pogrome, die zerstörten Geschäfte, die brennenden Synagogen waren der Wendepunkt: Wer bis dahin noch dachte, es werde schon alles nicht so schlimm, sah sich jetzt sozusagen eines Schlimmeren belehrt. Die Zahl der Ausreisewilligen unter den verbliebenen Juden nahm plötzlich extrem zu.
Nach der Pogromnacht fiel die Entscheidung: Erika in Sicherheit bringen!
„Genau zu dieser Zeit hat mich eine Lehrerin angesprochen und mir erzählt, dass demnächst ein Kindertransport nach England stattfinden werde“, so Erika Estis. „Ich solle doch mal meine Eltern fragen, ob ich da nicht mitfahren darf.“ Bis zuletzt war Erika Estis ihr sehr dankbar: „Diese Lehrerin – Bertha Loewy hieß sie – hat mir das Leben gerettet. Danke, Bertha Loewy!“
Am 14. Dezember 1938 brachte ein Zug Erika Estis in Sicherheit. Furchtbar war der Abschied von den Eltern im Bahnhof Altona: „Mein Vater hat geweint, so viel geweint, und ich konnte es nicht ertragen … Ich habe niemals meine Mutter angeblickt, ich wollte sie nicht ansehen, vielleicht wird sie weinen, dann würde ich auch weinen … Das war das letzte Mal, dass ich meine Eltern gesehen habe.“
Im Herbst 1941 schloss Nazi-Deutschland seine Grenze: Es gab für Juden nun kein Entkommen mehr. Am 11. Juli 1942 wurden Erikas Eltern nach Auschwitz deportiert und vergast. Erika erfuhr davon aber sehr viel später. „Ich habe immer geglaubt, wenn der Krieg vorbei ist, werden wir uns wiedertreffen.“
Erika Estis hat ihren Kindern ihre Vergangenheit lange verschwiegen
Die Kriegsjahre verbrachte Erika Estis in London. Im Mai 1945 erlebte sie dort die Befreiung Europas vom Faschismus und die Beendigung des Krieges. Sie war zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt. 1946 wanderte sie in die USA aus. 1947 heiratete sie Sam Estis, einen Juden ukrainischer Abstammung, gründete eine Familie. Über ihre Vergangenheit redete sie Jahrzehnte lang nicht. Sie wollte ihre Kinder nicht damit belasten. Erst Mitte der 80er Jahre brach sie ihr Schweigen.
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Anfang der 90er Jahre besuchte sie erstmals seit dem Krieg ihre Geburtsstadt. Von da an kam sie häufiger, brachte sogar ihre Kinder und ihre Enkelkinder mit. Es war Erika Estis ein großes Bedürfnis, ihrer Familie zu zeigen, wo sie aufgewachsen ist. Hamburg, so sagte sie, sei ein „wunderbarer Ort, eine schöne Stadt“.
Ihren Schulranzen aus der Zeit an der Töchterschule bewahrte sie bis an ihr Lebensende auf. Zuletzt engagierte sie sich in der Debatte um die Bornplatzsynagoge und plädierte für den Erhalt des Bornplatzes als Erinnerungsort, der ihr sehr viel bedeutet hatte.
Seit 2020 hatte sie wieder die deutsche Staatsbürgerschaft.