Ein halbes Jahrhundert als „Gastarbeiter“ in Hamburg: Unser Leben in Klein Istanbul
Als die Bundesrepublik in den 50er, 60er und 70er Jahren händeringend Arbeitskräfte suchte, kamen Millionen türkischer Arbeitskräfte nach Deutschland. Zwei von ihnen: Naci Dok und Dursun Karakas. Sie fingen als Schweißer auf der Sietas-Werft in Neuenfeld an, wollten eigentlich nur ein paar Jahre bleiben, ein bisschen Geld verdienen und dann zurückkehren. Die beiden freundlichen Rentner, die auch nach 50 Jahren immer noch kaum Deutsch sprechen, erzählen von harter und gefährlicher Arbeit, davon dass viele ihrer Kollegen an Asbestose erkrankten und von den Barackensiedlungen gleich neben der Werft. Sie wohnten viele Jahre gemeinsam mit ihren Familien in Hütten aus Holz und Rigips. Naci Dok und Dursun Karakas erzählen von ihrem Leben in „Klein Istanbul“.
- Deutsch (Deutschland)
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Das Werftgelände heute – eine riesige Industriebrache. Neudeutsch spricht man wohl von einem „Lost Place“. Werkshallen und Kräne rosten vor sich hin, irgendwo quietscht eine Metalltür im Wind. Gearbeitet hat hier schon lange niemand mehr, das ist auf den ersten Blick zu erkennen.
Seit drei Jahren ist die Sietas-Werft in Neuenfelde insolvent. Dabei zuzusehen, wie das Areal verfällt, macht ehemalige Betriebsangehörige wie Naci Dok und Dursun Karakas traurig. Die beiden können sich nämlich gut erinnern, wie sehr „der Laden“ mal gebrummt hat.
In den 60er- und 70er-Jahren gab es so viele Aufträge, dass der Werftbesitzer Arbeitskräfte aus der Türkei anwerben musste – so kamen sie beide nach Neuenfelde. Um die vielen „Gastarbeiter“ unterzubringen, ließ Werftbesitzer Johann Sietas rund um das Firmengelände Barackenlager errichten: „Küçük Istanbul“, „Küçük Izmir“ und „Küçük Ankara“ wurden sie genannt – wobei Küçük schlicht „klein“ bedeutet.
„Ich war zum ersten Mal weg aus der Türkei, ja sogar das erste Mal weg aus meinem Dorf“
An die ersten Tage in Deutschland kann sich Naci Dok – er ist inzwischen 72 Jahre alt – noch gut erinnern. „Ich war zum ersten Mal weg aus der Türkei, ja sogar das erste Mal weg aus meinem Dorf, und es war alles so anders hier. Am liebsten wäre ich gleich am nächsten Tag wieder nach Hause gefahren.“
So manche Träne habe er in sein Kissen geweint. Aber er biss die Zähne zusammen und hat 51 Jahre durchgehalten. So lange schon ist die Türkei seine Heimat, Deutschland sein Zuhause.
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Dursun Karakas lebt genauso lange in Neuenfelde – er ist 80 Jahre alt. Warum er trotz der langen Zeit kaum Deutsch spricht und das Interview mit der MOPO nur mit Dolmetscher möglich ist? Er zuckt mit den Schultern: „Die Kollegen auf der Werft waren Türken, die Nachbarn im Barackenlager waren Türken. Kontakte zur deutschen Bevölkerung hatten wir nicht. Daran hat sich eigentlich bis heute nichts geändert. Deutsch zu lernen – das ergab sich einfach nicht.“
Ein Sprung zurück in die 60er Jahre. Deutschland – das Wirtschaftswunderland. Die weltweite Nachfrage nach Produkten „Made in Germany“ war gigantisch. Das Einzige, was das Wachstum bremste, war der Mangel an Arbeitskräften. 1960 gab es in der Bundesrepublik rund 150.000 Arbeitssuchende, aber 650.000 offene Stellen. Lange Zeit konnte die Wirtschaft den Bedarf mit geflüchteten Arbeitskräften aus der DDR decken. Doch mit dem Mauerbau 1961 war das zu Ende.
Alle dachten, die „Gastarbeiter“ gehen ja wieder
Die Bundesregierung traf daraufhin die Entscheidung, Arbeiter aus dem Ausland kommen zu lassen. Anwerbeabkommen wurden geschlossen – am 30. Oktober 1961 auch mit der Türkei. Integration? Sprachkurse? Gab es alles nicht. Die Bundesrepublik ging davon aus, dass die „Gastarbeiter“ nach ein paar Jahren wieder zurückkehren – und die „Gastarbeiter“ selbst dachten genauso.
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„Unsere Heimat steckte damals in einer großen Wirtschaftskrise. Es gab kaum Arbeit“, erzählt Dursun Karakas, der aus Sivas in Zentralanatolien stammt. „Da kam dieses Anwerbeabkommen wie gerufen. Ich habe mich schon während meines Wehrdienstes nach Deutschland beworben.“
Es seien dann aber erst mal diejenigen bevorzugt worden, die bereits eine Ausbildung hatten. „Ich hatte keine, also musste ich sieben Jahre warten, bis ich vom örtlichen Arbeitsamt die Einladung bekam. Das war Anfang 1973.“
Bei Naci Dok, dessen Heimat die Provinz Ordu an der Schwarzmeerküste ist, war es etwas anders. Sein Vater arbeitete bereits seit einigen Jahren auf der Sietas-Werft. „Er ist zum Werftbesitzer gegangen, hat gesagt, sein Sohn möchte ebenfalls im Unternehmen anfangen – und dann hat die Werft mir eine Einladung zukommen lassen. Deshalb ging das bei mir alles ohne Wartezeit.“
Jeder Bewerber musste nach Istanbul und sich von einem deutschen Arzt untersuchen lassen
Sich in den Zug setzen, nach Deutschland fahren und mit der Arbeit beginnen – nein, so einfach lief das damals nicht. Es gab einige bürokratische Hürden zu bewältigen. Jeder potenzielle „Gastarbeiter“ musste zunächst nach Istanbul zur Deutschen Botschaft und wurde von einem deutschen Arzt auf Herz und Nieren getestet. Die Bundesrepublik wollte nur gesunde Arbeitskräfte.
„Als ich den Gesundheitscheck erfolgreich hinter mich gebracht hatte, blieb mir eine Woche Zeit, noch mal nach Hause zu fahren, mich von meiner Mutter und meinen vier Geschwistern zu verabschieden, meine Sachen zu packen, um dann in Istanbul in den Sonderzug nach München zu steigen“, erzählt Naci Dok. „In diesem Zug saßen insgesamt 800 angehende ,Gastarbeiter‘.“
Drei Tage habe die Fahrt gedauert. In München habe er dann umsteigen müssen in einen Zug nach Harburg – „und da hat mich dann mein Vater willkommen geheißen“, erzählt Naci Dok.
„Es war nicht leicht, einfach so die Heimat zu verlassen“, sagt Dursun Karakas. „In meinem Fall war es sogar besonders schwer, weil ich schon verheiratet war und zwei Kinder hatte. Meine Familie habe ich zunächst in der Türkei zurückgelassen. Meine Frau und einen meiner Söhne habe ich dann später zu mir nach Neuenfelde geholt. Der zweite Sohn ist bei der Oma geblieben.“
In „Klein Istanbul“, einem der drei Barackenlager der Sietas-Werft, sind sich Dursun Karakas und Naci Dok vor einem halben Jahrhundert zum ersten Mal begegnet. Dort war jedem eine aus Rigipsplatten und Holz zusammengezimmerte Baracke zugeteilt: Der 15 Quadratmeter große Raum war ausgestattet mit einem Bett, einem Klo, einer Dusche und einer Kochecke. Sehr bescheiden. Aber irgendwie ging’s.
Nach und nach ist das Barackenlager dann wohnlicher gestaltet geworden. Als Frauen und Kinder dazukamen, wurden Durchbrüche geschaffen und die Wohnflächen vergrößert. Neue, größere Baracken entstanden und sogar eine Moschee gab es in „Klein Istanbul“. „Es war ein richtiges kleines Dorf“, so Karakas, und er sagt das mit ein bisschen Wehmut in der Stimme.
Hamburg-Neuenfelde: So war das Leben in „Klein Istanbul“
Kinder, die in diesem Barackenlager groß wurden, erzählen, wie schön sie das Leben dort empfunden haben. „Wenn ich von der Schule kam, war ich satt, bevor ich zu Hause war – denn vor jeder Baracke standen Nachbarsfrauen, die mir Schokolade oder etwas vom frisch gekochten Mittagessen reichten“, sagt der 41-jährige Osman Tan. „Eine herrliche Kindheit war das. Wir haben viel draußen gespielt und die Nachbarn halfen sich gegenseitig.“ Einige Kinder, die dort groß geworden sind, hätten später richtig Karriere gemacht, erzählt er mit Stolz. „Einer ist Kardiologe am Elbe-Klinikum in Buxtehude.“
Für die Väter und Ehemänner war das Leben als Gastarbeiter bei Sietas vor allem eins: hart. „Wir haben gearbeitet, rund um die Uhr, 10, 12, 13 Stunden täglich“, erzählt Dursun Karakas, der sich auf der Werft zum Schweißer anlernen ließ. Er berichtet, dass er sich nachts Kartoffelscheiben auf die Augen gelegt habe, weil sie von den Funken regelrecht glühten. Arbeitssicherheit war damals kein Thema, das besonders großgeschrieben wurde.
Die Arbeit auf der Werft war hart und gefährlich: So mancher starb an Asbestose
Karakas erinnert sich an ein Unglück, das sich im März 1978 ereignete, als ein 37-jähriger Kollege starb. Ein Schiffsteil, an dem gerade gearbeitet wurde, kippte um, ein türkischer Arbeiter stürzte in die Tiefe und wurde von einem Lüfter aus Stahl erschlagen. Den schrecklichen Anblick des blutüberströmten Toten bekommt Karakas bis heute nicht aus dem Kopf.
Die Arbeit auf der Werft war auch deshalb gefährlich, weil die Männer praktisch täglich mit asbesthaltigen Stoffen in Berührung kamen – Asbest wurde nämlich erst 1993 verboten. „Wenn ein Schiff repariert wurde, haben wir zum Schutz Decken aus Asbest über die Motoren gelegt, während wir daneben schweißten“, erzählt Naci Dok und schüttelt mit dem Kopf. „Wir hatten ja keine Ahnung, wie gefährlich das war. Viele Kollegen sind an Asbestose gestorben.“
1998 kam das Ende der Siedlung „Klein Istanbul“, und zwar von heute auf morgen. „Es hieß mit einem Mal, dass die Barackendächer asbestverseucht seien“, erzählt Dursun Karakas. „Mit einem Mal rächte es sich, dass wir uns alle Satellitenschüsseln auf die Dächer montiert hatten. Da hatten wir munter in asbesthaltiges Material hineingebohrt – aber wir wussten es ja nicht besser.“
Als die Bagger kamen und „Klein Istanbul“ abrissen, sind die Arbeiter mit ihren Familien umgezogen. Die meisten haben ein paar Hundert Meter entfernt im Seehofring eine neue Bleibe gefunden. Noch heute leben dort viele der ehemaligen „Gastarbeiter“ bzw. ihre Nachfahren. Wenn heute der türkische Anteil an der Bevölkerung von Neuenfelde so groß ist, dann liegt das vor allem an den vielen Arbeitskräften, die Sietas in den 60er und 70er Jahren angeworben hat.
„Meine Kinder gingen hier zur Schule, hatten ihre Freunde hier, ich wollte sie da nicht rausreißen“
Naci Dok erzählt, dass er, als er 1972 bei Sietas anfing, eigentlich nur vier, fünf Jahre in Deutschland bleiben, viel Geld verdienen und dann zurückkehren wollte. Aber dann kamen die Kinder. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Das hat die Pläne durchkreuzt. „Die sind hier zur Schule gegangen“, sagt er, „hatten ihre Freunde hier, da wollte ich sie nicht rausreißen, also sind wir geblieben.“
Beide Männer, Naci Dok und Dursun Karakas, hatten ihr Rentenalter längst erreicht, als Sietas in die Insolvenz schlitterte. Gott sei Dank. Den traurigen Niedergang des Unternehmens haben sie daher nur aus der Ferne miterlebt.
Beide Senioren genießen ihr Rentnerdasein. Sie verbringen mit ihren Frauen jedes Jahr mehrere Monate in der Türkei. Es sei immer schön, wieder in die Heimat zurückzukehren, erzählen Naci Dok und Dursun Karakas übereinstimmend. Aber auch darin sind sie sich einig: Ganz in der Türkei leben, das wollen sie nicht. Noch nicht. Später. Vielleicht.
14 Millionen „Gastarbeiter“ kamen, elf Millionen kehrten in die Heimat zurück
In den 50er Jahren fehlten im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Arbeitskräfte, deshalb mussten Arbeitnehmer im Ausland angeworben werden. Am 20. Dezember 1955 schloss die Regierung mit Italien das erste Anwerbeabkommen ab. Es folgten ähnliche Verträge mit Griechenland und Spanien (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Rund 14 Millionen Menschen kamen zwischen 1955 und 1973 zum Arbeiten ins Land, etwas mehr als elf Millionen von ihnen kehrten wieder in ihre Heimat zurück.
Sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die „Gastarbeiter“ gingen anfangs von einem befristeten Aufenthalt aus. Eine langfristige Integration war von der Politik nicht vorgesehen. Nach ihrer Ankunft erlebten viele Gastarbeiter einen ersten Schock: Die Unternehmen stellten den fast durchweg männlichen Arbeitskräften meist einfache Holzbaracken in der Nähe ihrer Arbeitsstellen als Wohnraum zur Verfügung.
Als Folge der Ölkrise und der daraus resultierenden wirtschaftlichen Stagnation verfügte die Bundesregierung im November 1973 einen Anwerbestopp. Diese Entscheidung verstärkte bei manchen Migranten die Tendenz, sich dauerhaft in Deutschland niederzulassen, da sie nach einer Rückkehr in ihre Herkunftsländer nicht mehr zum Arbeiten nach Deutschland hätten kommen können. Viele holten ihre Familien nach und begannen, sich auf eine längere Zeit in der Fremde einzurichten.