Drogenarien, Sexorgien, Theater-Revolution: Das schrille Leben des „White Dandy“
Im Takt seines Ganges schwingt der weiße, fast bodenlange Fellmantel die Davidstraße entlang. Darunter weißes Hemd, weißer Anzug, weißes Haar. So kennen die Menschen St. Paulis „The White Dandy“. Ein Kiez-Original, Lebenskünstler, Freigeist sei er, so sagen die Leute. Doch das hört er nicht gerne. „Ich bin kein Objekt. Ich bin einfach nur Götz Barner. Ein Mensch, der seit fast 40 Jahren auf dem Kiez wohnt.“ Dabei könnte sein Leben Bände füllen. Von Drogenarien, Sexorgien und revolutionären Bühnenauftritten. Von der Zeit, als er noch „Bruder Barner" war, mit Corny Littmann durch die Lande tourte, ein Haschischbeet hinter dem „Ton-Steine-Scherben“-Haus hatte und Schmuck für große Unternehmen fertigte.
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Im Takt seines Ganges schwingt der weiße, fast bodenlange Fellmantel die Davidstraße entlang. Darunter weißes Hemd, weißer Anzug, weißes Haar. So kennen die Menschen St. Paulis „The White Dandy“. Ein Kiez-Original, Lebenskünstler, Freigeist sei er, so sagen die Leute. Doch das hört er nicht gerne. „Ich bin kein Objekt. Ich bin einfach nur Götz Barner. Ein Mensch, der seit fast 40 Jahren auf dem Kiez wohnt.“ Dabei könnte sein Leben Bände füllen. Von Drogenarien, Sexorgien und revolutionären Bühnenauftritten. Von der Zeit, als er noch „Bruder Barner“ war, mit Corny Littmann durch die Lande tourte, ein Haschischbeet hinter dem „Ton-Steine-Scherben“-Haus in Fresenhagen hatte und Schmuck für große Unternehmen fertigte.
Mit spitzem Zeigefinger und Daumen führt Götz das Glas zum Mund und nippt an seinem Crémant. Er schüttelt die halblangen, hellen Haare. Nein, ein Kiez-Original möchte er nicht sein. Warum? Götz antwortet mit einem philosophischen Spruch aus seiner eigenen Feder: „Das Besondere ist auf dem Kiez normal. Wenn man aber anfängt, das Normale zum Besonderen zu erklären, beginnt der Ausverkauf.“ Wie dem auch sei: Götz Barner ist eine Erscheinung, sein langer, weißer Fellmantel allseits bekannt.
Erster Besuch einer Schwulenkneipe in der Ausbildung zum Diakon
Gekauft hat er das auffällige Kleidungsstück in New York. Vor einigen Jahren. „Danach habe ich für meine Kiezführungen die Figur ‚The White Dandy‘ erfunden.“ Das Gute an dem Mantel: „Mit dem kriege ich keinerlei Aggressionen. Mit einem schwarzen Mantel würde das anders aussehen.“ Und warum Dandy? Der Mann schlägt die schlanken Beine übereinander. „Das ist eine elegante Lebenslüge.“ Für ihn bedeutet das, dass er sich gerne als „White Dandy“ zeigt, das aber nichts mit dem zu tun hat, wer er eigentlich ist. Und wer ist er eigentlich? Götz überlegt.
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„Ich war immer anders als die anderen.“ Schon als kleiner Junge spielte er mit Puppen. Auch in der Ausbildung zum Diakon, die er gemacht hatte, um sich sozial zu engagieren, merkte er, dass er anders ist. In dieser Zeit kaufte er sich „kleine Pelzjäckchen“ und besuchte das erste Mal ein schwules Lokal. In orangefarbener, kurzer Hose, gelbem Hemd und neongrünem Schlips. Das blieb dem Ausbildungsleiter nicht verborgen. Er rief ihn zu sich und mahnte: „Bruder Barner, so können Sie hier nicht rumlaufen.“ Götz beendete die Ausbildung und ging. Er wollte nicht mehr abhängig sein von der Kirche und machte eine Ausbildung zum Sozialarbeiter. „Was ich gemacht habe, war immer Antipädagogik. Bis heute bekomme ich bei jeglicher Autorität Gänsehaut. Da habe ich eine Alarmanlage. Das war eben auch die Zeit, in der es um Revolution ging.“
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Und die Zeit seiner Drogenarien. „Nie harte Drogen. Aber LSD und Haschisch.“ Heute seien Drogen gleich Vergnügen. „Das war damals anders. Es ging darum, psychisch neue Erfahrungen zu machen. Über das hinausgehen, was man weiß.“ Nach der Ausbildung fuhr er nach Amerika, um sein Berufsanerkennungsjahr in der Nähe des damaligen LSD-Gurus Timothy Leary zu machen. Doch daraus wurde nichts. Götz bekam einen Anruf aus Hamburg. Die erste schwule Wohngemeinschaft sollte in Alsterdorf gegründet werden. Das „Ledigen-Heim St. Anna“. Mit einem Fanclub für Inge Meysel. Götz lacht laut. „Das war angesagt. Herrlich.“
Wilde Zeit mit „Brühwarm“, Corny Littmann und Rio Reiser
Der Beginn eines neuen Kapitels. Auch beruflich. Denn aus der Wohngemeinschaft entstand die schwule Theatergruppe „Brühwarm“. Gemeinsam mit Corny Littmann und weiteren fünf Männern tourte Götz in den 70ern durch Deutschland, die Schweiz und Österreich. Anfangs kamen 30 Zuschauer. Am Ende 3000. „Das war eine ziemliche Revolution. Wir waren schrill bis zum geht nicht mehr.“ Schwule Männer mit Liedern auf der Bühne. Das gab es vorher nicht. Das Jugendamt kontrollierte die Ausweise vor der Tür. Schließlich wurde drinnen „ficken“ gesagt. Und das nicht nur einmal.
Unterstützung bekam die Theatergruppe von Rio Reiser und „Ton Steine Scherben“. Man nistete sich im Hof in Fresenhagen ein und nahm zwei Platten auf. „Hinter dem Haus hatte ich mein kleines Haschischfeld“, sagt Götz schmunzelnd und berichtete, dass er Rio Reiser damals als schwierigen Menschen erlebte. „Schwierig im Umgang mit sich selbst. Aus Problematiken scheint bei vielen Leuten eine Menge Kreativität zu entstehen.“ Eine wilde Zeit. Aber auch eine anstrengende. 365 Tage im Jahr, immer zusammen. Persönlichen Besitz gab es nicht. Alles für alle. Damit war nach drei Jahren Schluss. Die Gruppe war ausgelaugt und trennte sich.
Wilde Sexorgien im indischen Aschram
Götz stieg komplett aus und arbeitete in einem Lokal um Geld zusammenzubekommen, wollte er doch schon länger nach Indien zu Bhagwan. Als genug zusammen war, fuhr er in den für wilde Sexorgien bekannten Aschram nach Poona. „Jetzt gerade fällt mir ein, wie ich mit jemandem oben im Baum gebumst habe. Und die Kinder standen unten und haben zugeguckt.“ Aha. Klingt höchst speziell. „Natürlich“, sagt Götz mit donnerndem Lachen und berichtet, wie er in einer Gruppe mit 20 Leuten war. Ausziehen. Maske aufsetzen. 20 Minuten Zeit. „Die ganze Sache war schon sexualisiert. Heißt aber nicht, dass jeder mit jedem überall was getrieben hat.“ Das sei noch eine Zeit gewesen, bevor AIDS den freien Sex stranguliert habe.
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Ein dreiviertel Jahr später das nächste Kapitel. Zurück in Hamburg wurde Götz zum Kiezianer. Weil die Mieten günstig waren, zog er 1984 nach St. Pauli. Sein neuer Job: Er begann aus Plexiglas Schmuck zu machen. Wie er als Diakon, Sozialarbeiter und Schauspieler, der gerade im Aschram war, ausgerechnet darauf kam? Für Götz ganz einfach: Er hatte solchen Schmuck im Karoviertel gesehen, war begeistert und wollte das auch machen. Viele Jahre war er als Schmuckdesigner mit eigener Produktion unterwegs, machte dutzende Messen auch in New York und London. Er belieferte H&M und andere große Firmen und hatte zwölf Jahre ein eigenes Geschäft an der Paul-Roosen-Straße.
Tausende Teile wie Würfel für Accessoires, Plexiglas, Kettchen und Swarovski-Steine sind ihm geblieben. Zwar produziert er ab und an noch Schmuck, doch die „alten“ Sachen sind für Götz eine Belastung, die er loswerden möchte. Über einen eigenen Internetshop wird er die Ware demnächst verkaufen. Und damit wieder ein Kapitel abschließen.
„Der Kiez ist eine Leiche, die man pflegt und künstlich beatmet“
Aktuell ist Götz als Kieztour-Guide unterwegs. Über das Portal „tourguide-booking“ kann man seine „St. Pauli intim Tour“ in kleinen Gruppen buchen. Aufgebauschte Geschichten von Huren, die Freier abzocken, sind nicht sein Ding. Seine Tour geht vorbei an alteingesessenen Geschäften abseits der Reeperbahn. Er beschreibt, wie der Kiez tickt und bringt die Touristen in die „Monika Bar“ an der Großen Freiheit. „Das ist eine Transenbar. Da kannst du noch alte Kiez-Atmosphäre riechen. Und das sind Menschen, die dich anrufen, weil sie dich fünf Tage nicht gesehen haben.“ Früher selbstverständlich, heute eine Seltenheit.
Vieles hat sich geändert. Manchmal will Götz nur noch weg. „Das gehört dazu“, sagt er. Der Kiez lebe von seinem Mythos. „Er ist eine Leiche, die man pflegt und künstlich beatmet. Alte Dinge, die schon lange nicht mehr funktionieren, werden erhalten.“ Die zum Teil verkommenen Häuser der Herbertstraße, die verdreckten Ecken entlang der Reeperbahn. „Das ist milde ausgedrückt nicht schön. Da müsste etwas passieren. Aber es tut sich zu wenig. Auf der anderen Seite wirbt die Stadt groß mit St. Pauli“, sagt Götz mit bebender Stimme. Doch St. Pauli verlassen? Er legt das Kinn in die Hand mit dem Totenkopfring und überlegt. Der Hauptbahnhof – das ist für ihn schon Ausland. Und Altona die Vorstadt von St. Pauli. „Ich kann hier so sein, wie ich will. Hier bin ich frei und zu Hause.“
Steckbrief Götz Barner
Spitzname und Bedeutung „The White Dandy“ – der Name ist entstanden, nachdem ich mir in New York meinen weißen Mantel gekauft habe. Dandy bedeutet eine elegante Lebenslüge. Das heißt für mich, dass ich mich gerne zeige. Das aber nichts mit dem zu tun hat, wer ich eigentlich bin.
Beruf/ erlernte Berufe Schmuckdesigner, Schauspieler, Kieztour-Guide, gelernt habe ich Diakon und Sozialarbeiter. Und ich habe Lehramt studiert, aber abgebrochen.
St. Pauli ist für mich… ein Stück Lebensstil.
Mich nervt es tierisch, wenn… überall hingepisst wird.
Ich träume davon,… auf einem weißen Hengst durch wilde Wellen zu reiten, um anschließend im Moos zu versinken.
Wenn mir einer blöd kommt,… bemühe ich mich, nicht zu reagieren.
Zum Abschalten… haue ich ab vom Kiez oder gehe Kaffee trinken.
Als Kind… konnte ich nicht so kreativ sein, wie ich es wollte.
Meine Eltern… haben alles das gegeben, was sie geben konnten.
Vom Typ her bin ich… weiß.