Drama zur Rushhour: An der Stadthausbrücke steigt der Tod zu
Eins, zwei, drei, vier. Im Rhythmus drücken. Nicht zu doll, sonst brechen die Rippen, hab ich mal gehört. Ich drücke. Es knackt. Meine Hände sind warm. Als hätte ich sie heiß gebadet. Ich knie im Türbereich der Bahn. Vor mir liegt ein Toter. Eben war ich auf dem Weg nach Hause, abgeschottet vom Großstadt-Alltag. Jetzt stehe ich neben mir und habe das Gefühl, zu versagen.
Eins, zwei, drei, vier. Im Rhythmus drücken. Nicht zu doll, sonst brechen die Rippen, hab ich mal gehört. Ich drücke. Es knackt. Meine Hände sind warm. Als hätte ich sie heiß gebadet. Ich knie im Türbereich der Bahn. Vor mir liegt ein Toter. Eben war ich auf dem Weg nach Hause, abgeschottet vom Großstadt-Alltag. Jetzt stehe ich neben mir und habe das Gefühl, zu versagen.
Wenn ich meine Kopfhörer vergessen habe, kehre ich um. Musik ist Schutzwall gegen das Elend. Die tonlos vorgetragenen Litaneien der Bettelnden. Das Tröten der Akkordeon-Spielerin. Das Gepöbel der Besoffenen und Verwirrten. Das laute Gelaber der Telefonierenden: „Ja, Montag ist Abgabe. Du GLAUUUBST ja nicht, was der noch alles von mir will!“
Ich höre Daft Punk, Gorillaz, Sleaford Mods. Die Kopfhörer haben „Noise Cancelling“, sie blocken die Außengeräusche ab, mit einer ausgefeilten Technik, die ich nicht verstehe. Meine Welt in der S-Bahn ist ein meist langweiliger, mal verstörender Stummfilm. Aber der Soundtrack ist gut.
In der S-Bahn auf dem Weg nach Hause, es läuft Deichkind
Vor ein paar Wochen war der Akku mal alle. Ein Mann, wohl betrunken, stand im Türbereich, hustete viel. Und alle paar Sekunden rotzte und sprotzte er vor sich auf den Boden.
Ich schreibe das, um mir zu erklären, warum ich mich so abgekoppelt habe von dem, was da täglich um mich herum passiert. Warum ich so ignorant geworden bin.
An diesem Tag aber läuft Deichkinds „In der Natur“. Keyboard-Flächen und ein Herzschlag-Beat. Eine larmoyant-launige Anti-Hymne über das Leben jenseits der Zivilisation.
„Mit meiner neuen Fleecejacke komm ich hier nicht durch /Wo ist denn hier der Griff? Mann, das ist doch alles Murks / Weit und breit kein Mensch, hier kennt dich keine Sau“
Der Mann gegenüber schwankt – ganz schön fertig, denke ich
Die Bahn ist mittelvoll. Es gibt allerhand normales Hin-und-her-Gelaufe. Den Mann in dem karierten Hemd schräg gegenüber auf der anderen Seite des Gangs hatte ich aus dem Augenwinkel reinkommen sehen. Ende 50, Typ Sachbearbeiter oder Lagerfachmann. Ein bisschen beleibt. Ordentlich angezogen. Schwankt der?, denk ich kurz. Nach Feierabend mit den Kollegen einen zu viel in der Kneipe genommen, vielleicht. Kenn ich.
„In der Natur, da verknackst du dir den Fuß / Da versagt dein Survival-Buch / Da hilft keiner, wenn du rufst“
Reeperbahn.
Ich schaue kurz auf. Der Mann hat vorhin noch sein Telefon fallen lassen und aufgehoben. Jetzt liegt sein Kopf auf seiner Brust, er schnarcht. Ganz schön fertig, denke ich. Das wird was geben, wenn der zu Hause ankommt …
„In der Natur / Da hat die Liebe keine Chance / In der Natur / Da hab’n die Tiere keine Angst / Da gehst du einfach lang und krepierst dann irgendwann.“
Der Mann hat jetzt einen sehr roten Kopf: „Hallo?! Hören Sie mich?“
Landungsbrücken.
Ich gucke noch mal. Der Mann hat jetzt einen sehr roten Kopf. Kann der so voll sein? Ich blicke nach rechts. Ein junges Mädchen, vielleicht 16, schaut mich aufgeregt an. Ich sehe, wie sich ihr Mund bewegt. Ich nehme die Kopfhörer ab. „Der sieht so schlecht aus“, sagt sie.
„Hallo?!“, sage ich und fasse den Mann am Arm an. „Hallo! Hören Sie mich?“ Der Mann grunzt und ist sehr warm. Er hat Spuckeblasen im Mundwinkel.
Ich wähle 112 – nächster Halt Stadthausbrücke
Es ist der Moment, in dem der Groschen bei mir ins Rutschen gerät. Quälend langsam. „Der ist nicht voll“, denke ich. Und klammere mich trotzdem an den Gedanken. Weil ich dann nicht denken muss, dass ich bereits verdammt viel Zeit verstreichen lassen habe. Ich fasse an die Brust des Mannes. Bewegt sich, denke ich. Und gleichzeitig: „Wirklich?“ Leute gucken, niemand sagt etwas.
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Ich wähle 112. Es klingelt. Gefühlt sehr lang. „Feuerwehr Hamburg“, meldet sich ein Mann mit Hamburger Slang. Ich sage meinen Namen und denke: Schnell alle wichtigen Infos. „Ich bin in der S3, nächster Halt Stadthausbrücke …“
„Der atmet nicht, der ist tot! Fass mit an“
„Hallo?!“, sagt der Feuerwehrmann. Er hört mich nicht. Die Verbindung reißt ab. Ich wähle neu. Es dauert gefühlt wieder ewig. Dann ist jemand dran, ich rappele Infos herunter. „Ziehen Sie die Notbremse“, sagt der Feuerwehrmann und fragt: „Atmet der Mann?“ „Ich glaube“, sage ich. „Er macht so grunzende Geräusche.“
Ich sage zu dem Mädchen: „Zieh die Notbremse!“ Sie ist ratlos. Ein anderer Mann hilft. „Wir kommen“, sagt der Feuerwehrmann am Telefon und ist weg.
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Der Mann rutscht nun fast vom Sitz. Ich stütze ihn und starre ihn an. Plötzlich steht jemand neben mir und fragt: „Atmet er?!“ „Weiß ni…“, hole ich aus. Da schreit er: „Der atmet nicht, der ist tot! Fass mit an!“ Wir zerren den schweren Mann vom Sitz und legen ihn auf den Boden. Der Kerl in Schwarz, vielleicht Ende 30, beginnt mit einer Herzmassage. Ich halte hilflos den Kopf. „Lass den Kopf los“, sagt der Mann in Schwarz, der jetzt schwitzt und pumpt und zählt: „Eins, zwei, drei, vier …“
„Soll ich dich ablösen?“ „Ja.“
Stadthausbrücke.
Die S-Bahn steht inzwischen. Wenn man die Notbremse zieht, fährt der Zug bis zur nächsten Haltestelle und bleibt dort, das habe ich jetzt gelernt. Eine Frau mit einer roten Mütze kommt wortlos dazu, sie schaut kurz und beginnt den Mann zu beatmen. Der Mann in Schwarz sagt: „Das ist nicht nötig. Pumpen ist wichtig!“ „Soll ich dich ablösen?“, frage ich, um irgendwas zu sagen. Zu meinem Schrecken sagt er: „Ja.“
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Ich pumpe, um meinen Hals hängt noch die Tasche mit dem Arbeits-Laptop. Der Mann sieht jetzt sehr tot aus. Ab und zu strömt Luft aus seinem Mund oder die Rippen knacken. In meinem Kopf kreiselt’s: „Zu spät! Du warst zu spät! Wie kann man so auf dem Schlauch stehen, du Idiot!“ Der Mann in Schwarz sagt: „Weiter! Wenn du ihn zurückholst, küsse ich dich!“
Die Zeit zieht sich wie Kaugummi – dann landet das A-Team
Das wird nix, denke ich. Und: Wo bleiben die?! WO BLEIBEN DIE?! Auf dem Bahnsteig ist eine automatische Durchsage zu hören: „Wegen eines Rettungseinsatzes im City-Tunnel verkehren keine S-Bahnen.“
Plötzlich Unruhe auf dem Bahnsteig. Jemand schreit: „Ey, lauft mal! Hier stirbt einer! Reanimation!“ Wieder zieht sich die Zeit wie Kaugummi. Dann landet das A-Team. Überall Orange. Viele wuchtige Männer, aller Raum gefüllt. „Weg, raus, alle weg!“, ruft einer. Ich stehe in der Ecke, mir ist schwindelig. Ich steige über die Szenerie, schleiche zu meinem Sitz, nehme meinen Kopfhörer, verlasse den Zug.
20 Minuten vergehen. Alles ist wie eingefroren
Die Feuerwehrleute pumpen. Der „Defi“, dieser Elektroschocker, wird geholt. Weitere Retter kommen hinzu. 20 Minuten vergehen. Alles ist wie eingefroren. Auf dem Nachbargleis fährt ein Zug ein. „Richtung Hauptbahnhof bitte alle den Zug auf Gleis 2 nehmen“, kommt eine Durchsage. Ich zögere und steige schließlich ein.
Die Türen schließen sich. Um mich herum: Leben. Geplauder. Eine kleine Frau mit abgerissener Kleidung kommt den Gang entlang, sie spielt Akkordeon. Ich starre entrückt auf die Kopfhörer in meinem Schoß. Meine Hände sind noch immer sehr warm.
„Neben mir in der Bahn ist gerade jemand gestorben“
Ich denke, dass ich vielleicht nie wieder „In der Natur“ hören kann. Und ich denke an die Familie des Mannes und daran, dass ich so davon überzeugt sein wollte, dass er einfach nur voll ist. Ich schreibe meiner Frau: „Neben mir in der Bahn ist gerade jemand gestorben.“ Ich könnte heulen.
Nachtrag: Ein Kollege aus der Polizeiredaktion hat bei der Feuerwehr nachgefragt. Zu dem Einsatz haben die Retter in ihren Akten: „Nach erfolgreicher Reanimation in Klinik eingeliefert.“ Was das genau bedeutet? Weiß ich nicht. Aber es klingt erst mal gut.