Chefin von Kult-Imbiss: Carolin ist die Wurst-Königin vom Kiez
Carolin mag Wurst. Dass sie sie irgendwann über haben könnte – für sie unvorstellbar. Jeden zweiten Tag isst sie eine. Mindestens. „Ich muss ja auch probieren, ob sie noch schmecken.“ Klar, Qualitätskontrolle. Aber nach so vielen Jahren? Da hat man ja vielleicht das Bedürfnis zum Vegetarier zu werden. Carolin reißt die Augen auf. „Ich? Vegetarier?“ Sie lacht eine donnernde, tiefe Lache. „Noch nicht mal vielleicht.“ Carolin Schultze (62) ist die Wurst-Königin vom Kiez. Seit 30 Jahren betreibt sie gemeinsam mit ihrem Bruder den Kult-Imbiss „Lucullus“ an der Reeperbahn/ Ecke Davidstraße. Die Wurst-Chefin über ihre Kindheit im Wohnwagen, über Krokodil-Ringkämpfe, prügelnde Gäste und einen Promi, den sie mal retten musste.
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Carolin mag Wurst. Dass sie sie irgendwann über haben könnte – für sie unvorstellbar. Jeden zweiten Tag isst sie eine. Mindestens. „Ich muss ja auch probieren, ob sie noch schmecken.“ Klar, Qualitätskontrolle. Aber nach so vielen Jahren? Da hat man ja vielleicht das Bedürfnis zum Vegetarier zu werden. Carolin reißt die Augen auf. „Ich? Vegetarier?“ Sie lacht eine donnernde, tiefe Lache. „Noch nicht mal vielleicht.“ Carolin Schultze (62) ist die Wurst-Königin vom Kiez. Seit 30 Jahren betreibt sie gemeinsam mit ihrem Bruder den Kult-Imbiss „Lucullus“ an der Reeperbahn/ Ecke Davidstraße. Die Wurst-Chefin über ihre Kindheit im Wohnwagen, über Krokodil-Ringkämpfe, prügelnde Gäste und einen Promi, den sie mal retten musste.
Die Geschichte der Familie Schultze auf dem Kiez reicht Jahrzehnte zurück. Schon die Uroma hatte im Trichterpark eine Schießbude. „Wo sich heute die Tanzenden Türme befinden, war früher ein kleiner Vergnügungspark“, erzählt Carolin. Das war lange vor ihrer Zeit. Auch die Schaubuden ihres Vaters erlebte sie nicht mit. In den 50er Jahren betrieb er unter anderem eine Tierschau auf Volksfesten. „Er zeigte Krokodil-Ringkämpfe. Das war ganz neu und kam aus Amerika.“ Da stieg ein Artist zu einem Krokodil in ein Wasserbassin und veranstaltete einen Showkampf, an dessen Ende er das Tier unter tosendem Applaus auf den Rücken drehte. „Das war eine andere Zeit. Heute wäre so etwas undenkbar.“ Auch Schlangen, Affen, Papageien und Kakadus hatte ihr Vater. Als Carolin geboren wurde, waren die Tiere bereits Vergangenheit. Jedoch nicht das Schaustellerleben. Zwischen Geisterbahn, Karussells und Zuckerwatte wuchs Carolin auf. Die Volksfeste der Republik waren ihr Zuhause.
Etwa 35 Schulen besuchte das Mädchen pro Jahr. Carolin erinnert sich noch genau an ihr Anmeldebuch, ein kleines Heft, das sie in den Schulen stets vorzeigte und in das hineingeschrieben wurde, wie lang sie in die Klasse gegangen war. Hier mal eine Woche, da mal zwei. Nur im Winter blieb sie länger. Jedes Jahr war sie vier Monate auf ihrer Stammschule in Stellingen. Da bekam sie auch ihr Zeugnis. Carolin liebte das Leben im Wohnwagen, das Rumreisen, das ständige Ankommen und Aufbrechen. Freunde vermisste sie nicht. „Die Schaustellerkinder waren immer zusammen. Wir waren eine große Familie.“ Die Volksfeste waren ihre Spielplätze. Jeder kannte jeden. Jedes Fahrgeschäft durften sie, so oft sie wollten, fahren. Carolin liebte alles, was sich schnell drehte. Wie den „Musikexpress“ und den „Taumler“. Aber Achterbahnen mochte sie nicht.
Schon früh lernte Carolin mit anzupacken. Das war normal. Das musste jedes Schaustellerkind. „Als Kind weißt du schon, dass das Geld nicht vom Himmel fällt und man dafür arbeiten muss.“ Einkaufen, Kochen, Aufräumen. „Ich konnte mit zehn Jahren alleine den Haushalt führen. Das habe ich einfach nebenbei gelernt.“ Wenn sie ihre Aufgaben fertig hatte, durfte sie mit ihren Freunden los. „Wenn es dunkel wird, bist du wieder hier“, mahnte die Mutter jedes Mal. Und: Die Tochter musste sich alle ein bis zwei Stunden blicken lassen. So waren die Regeln – trotz all der Freiheiten.
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Eingeengt hat sich das Schaustellerkind nie gefühlt. Selbst als es die ersten Liebeleien in der Jugend gab, vermisste Carolin die fehlende Privatsphäre nicht. „Och, da gab es ja genug Möglichkeiten. Da hat sich immer mal was ergeben“, sagt sie grinsend. Schon als Jugendliche lernte sie den Kiez kennen, feierte im „Club 88“ und im „Top Ten“. Nach der Schule, die sie ohne Abschluss verlassen hatte, drängte ihr Vater darauf, dass sie beim Steuerberater der Familie arbeitet. Er wollte, dass seine Tochter dort eine Ausbildung macht. Doch Carolin blieb nur ein Jahr. „Mit 16 bin ich dann nicht mehr hingegangen. Die Saison begann und ich wollte wieder mit auf den Platz. Damals hatten wir den ‚Polyp‘.“
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Für Carolin war klar: Sie wird in die Fußstapfen der Eltern treten. Sie liebte das Schaustellerleben, die gesamte Familie liebte es. Doch der Vater wollte ein zweites Standbein. „Er wollte vorsorgen, falls es mit den Volksfesten mal nicht mehr so laufen würde.“ Damals plante die Stadt öffentliche Toiletten auf dem Kiez zu bauen. Carolins Vater brachte sich ins Spiel. Aber nur eine Toilette? Das wollte er nicht. „Da bleibt kein Gewinn. Dafür sind die Unkosten zu hoch.“ Also schlug er vor, die Toiletten mit einem Imbiss zu verbinden. Die Stadt willigte ein und verpachtete der Familie das Grundstück direkt auf dem Gehweg an der Reeperbahn. Der Vater ließ den Imbiss-WC-Komplex mit der bunten Leuchtreklame bauen und eröffnete am 1. Februar 1994. Jede Nacht von 22 bis 6 Uhr musste die Wurstbude besetzt sein. Carolin wechselte sich mit ihren Eltern ab. „Die Frage, ob ich das wollte, kam gar nicht auf. Davon lebte die ganze Familie. Natürlich wollte ich das.“
Beamte der Davidwache haben den Imbiss über eine Kamera immer im Blick
Carolin wurde kurz darauf sesshaft. Sie arbeitete im Imbiss und wohnte 150 Meter die Straße rauf – direkt an der Reeperbahn. „Damals fand ich das lustig. Natürlich gab es auch mal irgendwelche Vorfälle, aber das war ich ja schon von den Plätzen gewohnt.“ Pöbelnde Betrunkene, prügelnde Halbstarke. Bis heute ist ihre Reaktion immer dieselbe. Sobald es Stress gibt, macht die Wurstbuden-Chefin eine klare Ansage. „Raus hier! Vor der Tür könnt ihr euch streiten, wie ihr wollt. Aber nicht hier drinnen.“ Wenn vor der Tür dann mal eine Mülltonne fliegt, sei das kein Problem für sie. „Dann stellen wir sie halt wieder hin. So schlimm ist das nicht“, sagt die Chefin und zuckt die Schultern. Für sie ganz klar: Sie macht ihre Ansage, mischt sich aber ansonsten nicht ein. Wenn es richtig abgeht, ruft sie die Davidwache. Was meistens jedoch gar nicht nötig sei. Eine Kamera ist genau auf den Imbiss ausgerichtet, die Beamten sehen auf dem Bildschirm in der Wache, wenn es Stress gibt.
Von Schießereien oder Messerattacken hat Carolin in all den Jahren nichts mitbekommen. „Davon hört man dann am nächsten Tag. Irgendwie komme ich mir hier manchmal vor, wie auf einem anderen Stern.“ Obwohl der Imbiss mittendrinn und komplett offen ist. Die paar größeren Zwischenfälle im Laden kann sie an einer Hand abzählen. Einmal bog ein Taxi falsch ab, durchbrach die Glastüren und kam vor dem Tresen zum Stehen. Verletzt wurde zum Glück niemand. Ein anderes Mal sprang ein betrunkener Mann mit Anlauf in den Tresen. „Keine Ahnung, was den geritten hat.“
Die meisten Tage ist es aber ruhig. Auch auf der anderen Seite, bei den Toiletten. „Früher hatten wir viel mit Drogenabhängigen zu tun, die sich da spritzen wollten. Das ist aber alles weniger geworden.“ Da immer ein Mitarbeiter anwesend ist und aufpasst, gäbe es keine Zwischenfälle. Außer Partygänger, die es nicht mehr rechtzeitig bis zum Klo schaffen. „Das ist nicht schön, aber kommt vor“, sagt die Chefin. Doch bei den Klos ist Carolin raus. Dafür gibt es Personal.
Auch hinterm Tresen steht die Chefin nicht mehr selber. 23 Jahre verkaufte sie jede Nacht von 22 Uhr bis 6, manchmal 7 Uhr, Würstchen. „Das ist hart. Du hast überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Du stehst nachmittags auf und lebst die meiste Zeit im Dunkeln“, sagt die Frau, die sich bewusst gegen Kinder entschieden hat. Nachdem ihre Nichte und ihr Neffe geboren waren, wollte sie nicht mehr. „Ich hatte ja immer Kinder um mich. Das war so schön praktisch, weil ich sie wieder abgeben konnte.“ Das Gefühl, etwas verpasst zu haben, hat sie nicht. „Ich hatte immer Spaß und hab ihn bis heute.“ Sie erinnert sich gerne zurück an alle die Jahre, in denen auch regelmäßig Promis wie Udo Lindenberg und Heinz Hoenig kamen.
Dieter Bohlen wurde derart von Fans belagert, dass die Chefin ihn retten musste
Einmal musste die Chefin sogar einen Promi retten. Dieter Bohlen wollte in der Ecke bloß seine Wurst essen, wurde aber derart von Fans belagert, dass Carolin Mitleid hatte. „Ich habe ihn nach hinten ins Büro geholt. Da konnte er seine Wurst dann in Ruhe essen. Das muss ihm ja auch gegönnt sein.“ Das Büro – ein kleiner Flur hinter dem Verkaufsraum mit Schreibtisch und zwei Stühlen. Darüber weiße Hängeschränke, in denen die Dienstuniformen liegen. Weiße Pullover mit „Lucullus“-Schriftzug auf dem Rücken und rote Schürzen. Hier ist Carolins Reich. Mittlerweile ist die Chefin, die sich selber als „streng, aber gerecht“ bezeichnet, nur noch für die Verwaltung und Abrechnung zuständig. Das will sie auch erst mal weiter machen. Bis ihr Neffe und ihre Nichte den Imbiss irgendwann übernehmen. Ein Leben ohne das „Lucullus“ kann sich Carolin gut vorstellen. „Vermutlich weil ich weiß, dass der Familienbetrieb in gute Hände geht.“ Der Kiez ohne das „Lucullus“ – das kann sie sich allerdings gar nicht vorstellen. „Die bunte Wurstbude kennt fast jeder. Sie gehört zum Kiez. Und das nicht nur für mich.“
Steckbrief Carolin Schultze (62)
Spitzname und Bedeutung Manche sagen Caro zu mir. Das passt mir aber gar nicht. Was soll das? Ich heiße Carolin und nicht Caro.
Beruf/ erlernte Berufe Mitinhaberin des „Lucullus“, ich habe Schaustellerin erlernt, aber das ist ja kein klassischer Lehrberuf
St. Pauli ist für mich… das „Lucullus“.
Mich nervt es tierisch, wenn… in meinem Auto gegessen wird. Da werde ich wahnsinnig. In meinem Auto gibt es höchstens ein Kaugummi.
Ich träume davon,… dass die Kinder meines Bruders hier alles prima machen und wir uns beruhigt zurückziehen können.
Wenn mir einer blöd kommt,… dann werde ich auch blöd.
Zum Abschalten… höre ich Musik. Gerne R’n’B und Deutschrap.
Als Kind… war ich mehr Junge als Mädchen. Ich bin immer in Lederhosen rumgelaufen, was mein Vater ganz furchtbar fand. Ich musste wenigstens Zöpfe tragen, damit man sieht, dass ich ein Mädchen bin.
Meine Eltern… waren ganz große Vorbilder für mich. Herzensgute Menschen. Mein Vater war für mich wie der liebe Gott.
Vom Typ her bin ich… ehrlich und direkt.