Flohmarkt-Fund: Die verschollenen Akten des berühmten Sex-Forschers
Gestatten, ich bin Thomas Hirschbiegel, der MOPO-Flohmarktfuchs. Seit mehr als 50 Jahren besuche ich jede Woche Märkte im Norden und kaufe historische Dokumente, alte Fotos und alles, was mit Hamburg zu tun hat. Aber auch bei Design der 70er Jahre oder einer schönen alten Armbanduhr kann ich zu oft nicht widerstehen. An dieser Stelle präsentiere ich in unregelmäßigen Abständen meine neuesten Schätze. Heute: die verschollenen Akten des Sex-Forschers.
Gestatten, ich bin Thomas Hirschbiegel, der MOPO-Flohmarktfuchs. Seit mehr als 50 Jahren besuche ich jede Woche Märkte im Norden und kaufe historische Dokumente, alte Fotos und alles, was mit Hamburg zu tun hat. Aber auch bei Design der 70er Jahre oder einer schönen alten Armbanduhr kann ich zu oft nicht widerstehen. An dieser Stelle präsentiere ich in unregelmäßigen Abständen meine neuesten Schätze. Heute: die verschollenen Akten des berühmten weltweit ersten Sexualforschers Magnus Hirschfeld.
„Psychobiologischer Fragebogen“ stand auf den beiden abgegriffenen grauen Heften. Herausgeber war ein „Institut für Sexualwissenschaft“. Eher so auf Verdacht kaufte ich beide auf dem Flohmarkt am Museum der Arbeit in Barmbek und stieß auf etwas, was Experten seit Jahrzehnten auf der ganzen Welt suchen: verschollene Unterlagen des weltweit ersten Sexualforschers Magnus Hirschfeld (1868-1935). Es ist ziemlich genau 90 Jahre her, dass die Nazis in Berlin sein Institut stürmten und plünderten.

Der Flohmarktstand dreier junger Leute war umlagert. Vor allem Händler drängten sich um ein kleines Ölbild, welches 2500 Euro kosten sollte. Das war natürlich nichts für mich, aber mir war klar, dass hier ein interessanter Nachlass angeboten wird. Als Ruhe am Stand einkehrte, kam ich zurück und entdeckte zunächst eine Ausgabe der legendären Zeitschrift „Die Fackel“ von Karl Kraus von 1931. Dann stieß ich auf die „Sex-Fragebögen“. Der Preis für das kleine Konvolut: 13 Euro!
Zu Hause blätterte ich neugierig in einem der Fragebögen. Den hatte am 5. Mai 1929 der Hamburger Kaufmann Christian D. ausgefüllt. Er war nach eigener Angabe von „Germanischer Rasse“ und 47 Jahre alt. Penibel machte er seine intimen Angaben. Die Frage Nr. 35 lautete: „Trieben Sie Onanie? Wie kamen Sie dazu? Mit welchen Vorstellungen wurde die Onanie betrieben?“

Antwort: „Ja, seit dem 14. bis 15. Lebensjahr. Anlass waren wohl Anregungen von Altersgenossen. Ich treibe es leider manchmal heute noch. Die Vorstellung war und ist stets die gleiche: Ich bilde mir ein, ein weibliches Wesen zu sein.“
Hamburger Kaufmann über verborgene Neigungen
Diese Aussage präzisierte der Kaufmann: „Ja, er trägt gerne Frauenkleidung, sieht sich selbst als „Transvestit“, eine Bezeichnung, die übrigens Magnus Hirschfeld 1910 ersann.
Christian D. erläutert dann noch, dass er mit Ausnahme seiner Dienstzeit als Leutnant im Ersten Weltkrieg intensiv „als Mädel gelebt“, aber gegen diese Veranlagung gekämpft hat. Nach Kriegsende aber habe er „alle Kämpfe als zweck- und sinnlos aufgegeben.“
Als Fazit schreibt der Hamburger im Fragebogen unter der Überschrift „Der Zweck meines Kommens” (in das Hirschfeld-Institut, Anm. d. Red.): „Der mögliche Irrtum der Natur bei meiner Geburt, dass ich also mit meinem überwiegend weiblich veranlagten Geist in einem männlichen Körper zur Welt kam, ist wohl nicht zu ändern. Ich bin weiterhin auf ein Doppelleben angewiesen.“

Im zweiten Fragebogen lag sogar ein Foto bei, mit dem Text: „Muss zwingend zurückgegeben werden!“ Der Mann, der seinen vollen Namen nicht nennt, erklärt, er sei auf Wunsch seiner Frau ins Sexual-Institut gekommen. Der Grund: Der 42-Jährige träumt vom Sex mit „Proletarierfrauen in Arbeitskleidung oder in Küchenschürzen“.
Nazis zerstörten Institut für Sexualwissenschaft
Wer war nun aber dieser Magnus Hirschfeld, der die Fragebögen zur Sexualität bereits 1897 entwickelt hat? Die Antwort: kein Geringerer als der Begründer der Sexualwissenschaften, auf den sich später viele andere Wissenschaftler beriefen. 1919 eröffnete Hirschfeld das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft in Berlin. 1933 stürmte ein Nazi-Mob das Gebäude, plünderte es und verbrannte Bücher und vermutlich auch Hunderte der Fragebögen. Da war Hirschfeld schon nach Südfrankreich geflohen. Den Nationalsozialisten war er dreifach verhasst: Als Sozialist, Jude und schwuler Mann. Der Wissenschaftler starb 1935 in Nizza. Um seine Arbeit und seinen Nachlass kümmern sich heute die 1982 gegründete Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Weltweit wird nach Hirschfelds Nachlass und vor allem den Fragebögen gesucht.
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Als Ralf Dose, Mitgründer der Gesellschaft, vom Fund der Fragebögen erfuhr, war er elektrisiert und sagte der MOPO: „Uns ist bisher nur ein einziges ausgefülltes Exemplar bekannt und das befindet sich in der Staatsbibliothek Berlin.“ Dose eilte sofort in die Hansestadt und suchte hier auf Flohmärkten nach weiteren Teilen aus Hirschfelds verschollenem Nachlass. Eine heiße Spur gibt es schon, sie führt zu dem 1970 unter mysteriösen Umständen verstorbenen Hamburger Sexualwissenschaftler Hans Giese.