„Die Schreie der Mutter vergesse ich nicht“: Was dieses Ehrenamt so besonders macht
Ein Familienvater, der sich im Hausflur erhängt. Ein Mensch, der sich an einem öffentlichen Platz das Leben nimmt – vor den Augen zahlreicher Passanten. Oder 18-jährige Zwillinge, die in Neuallermöhe von einem Regionalzug erfasst werden. Das alles sind Schocksituationen, die Augenzeugen und Familienangehörige oft nicht alleine bewältigen können. In solchen Fällen wird die Hamburger Polizei, wenn sie Todesnachrichten überbringt und an Tatorte fährt, vom Kriseninterventionsteams des Deutschen Roten Kreuzes Hamburg-Harburg begleitet. Einer von ihnen ist Malte Stüben. Er war am Dienstag bei den Eltern der beiden 18-Jährigen.
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Ein Familienvater, der sich im Hausflur erhängt. Ein Mensch, der sich an einem öffentlichen Platz das Leben nimmt – vor den Augen zahlreicher Passanten. Oder Kinder, die tödlich verunglücken. Das alles sind Schocksituationen, die Augenzeugen und Angehörige oft nicht alleine bewältigen können. In solchen Fällen wird die Polizei, wenn sie Todesnachrichten überbringt und an Tatorte fährt, vom Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuzes Hamburg-Harburg begleitet. Einer von ihnen ist Malte Stüben. Er war am Dienstag bei den Eltern der 18-jährigen Zwillinge, die in Neuallermöhe von einem Zug erfasst wurden.
„Wenn Angehörigen Schreckensnachrichten überbracht werden, ist das immer schwer zu ertragen. Aber wenn eine Familie gleich zwei junge Töchter verliert – eine tot und die andere im Koma – hat das nochmal eine besondere Tragik“, sagt Malte Stüben (46). Er und drei weitere Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams (KIT) begleiteten am Dienstag die Einsatzkräfte, die die Eltern der beiden im Allermöher Gleisbett verunglückten 18-Jährigen über das Geschehen unterrichteten. Malte Stüben macht diesen Job ehrenamtlich – und das schon seit mehr als 20 Jahren.
„Wir fangen Menschen in den dunkelsten Stunden auf“
„Wir leisten psychosoziale Nothilfe“, sagt er im Gespräch mit der MOPO. „Das bedeutet, dass wir eine erste Orientierung nach dem Erhalt einer Schocknachricht geben. Es handelt sich immer um überraschende Katastrophen – Suizide, Verkehrsunfälle, Gewalttaten. Wir fangen die Menschen in den dunkelsten Stunden ihres Lebens auf. Das ist wichtig, um spätere Traumata zu verhindern. Dabei geht es nicht um Trauerbewältigung, sondern um Realisation.“
Seine Kollegin Svea Rietschek erinnert sich noch genau an einen ihrer ersten Einsätze mit dem Kriseninterventionsteam. Es war Anfang 2020 und ein Paar erhielt die Nachricht von dem überraschenden Tod seiner 14-jährigen Tochter. Auch die zwei kleineren Geschwister waren dabei. „Ich werde die Schreie der Mutter nicht vergessen“, sagt die 32-jährige Svea Rietschek. Zweimal im Monat ist sie jeweils für 24 Stunden rufbereit, falls etwas passiert. Die Mitarbeiter des KIT sind zwei bis vier Stunden nach dem Überbringen der Todesnachricht vor Ort.
Das KIT wird immer direkt von der Polizei oder Feuerwehr gerufen. Wichtig: Die Einsatzkräfte überbringen die Todesnachricht, niemals das KIT selbst. Und sie werden immer häufiger angerufen: Waren es 2010 noch 208 und 2020 345 Einsätze, stieg die Zahl im Jahr 2022 sprunghaft auf 506 an. Über die Ursachen können Stüben und Rietschek nur spekulieren – allerdings fällt eine Häufung an Suiziden auf, besonders bei Familienvätern.
Hamburg: Kriseninterventionsteam hilft Angehörigen
Die Mitarbeiter des KIT werden mit Horrorszenarien konfrontiert: „Ich denke zum Beispiel an einen Familienvater, der sich im Badezimmer die Pulsadern aufgeschnitten hat. Die beiden kleinen Töchter kamen nach Hause, die Mutter war nicht da. Sie waren schon eine ganze Weile im Haus, als die Jüngere auf die Toilette musste und ihren Vater in seinem Blut vorfand“, erzählt Malte Stüben.
Die Augen des erfahrenen KIT-Leiters werden glasig, wenn er von solchen Fällen berichtet. Das ist aber nicht schlimm, wie er sagt. „Wenn wir bei Einsätzen emotional werden, zeigt das nur unser Mitgefühl. Schwierig wird es erst, wenn die Angehörigen uns ein Taschentuch reichen müssen und nicht andersherum.“
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Ist der erste Schock überwunden, hilft das KIT bei der Organisation der nächsten Tage. Zum Beispiel nach dem Tod der 14-Jährigen: „Die Schule muss informiert werden, auch die der Geschwister“, erinnert sich Svea Rietschek. „Der Arbeitgeber der Eltern muss Bescheid wissen. Und nicht zuletzt muss eine Betreuung der jüngeren Geschwister gewährleistet werden, wozu die Eltern in solchen Momenten oft nicht mehr in der Lage sind.“ Das KIT vermittelt Anlaufstellen für psychologische Hilfe.
Wie die Mitarbeiter mit der Arbeitsbelastung umgehen
Die Angehörigen müssen auch verstehen, dass die Rechtsmedizin den Leichnam mitnehmen muss. „Ich erinnere mich an einen Mann, der seine Ehefrau, die sich gerade suizidiert hat, partout nicht hergeben wollte“, sagt Malte Stüben. „Wir haben dann einen behutsameren Umgang mit den Hinterbliebenen als die Polizei.“
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Um mit ihrer Arbeitsbelastung umgehen zu können, besuchen die KIT-Mitarbeiter regelmäßig Supervisionen und tauschen sich untereinander aus. Damit es nicht zu viel wird, ist die Arbeitszeit auf zwei Tage im Monat begrenzt. In einer 24-Stunden-Schicht können schon mal fünf Einsätze zusammenkommen. Das KIT ist rein spendenfinanziert. Hauptamtlich ist Malte Stüben übrigens Diplom-Sozialpädagoge, Svea Rietschek Gerichtsvollzieherin. „Ich habe nach einem Ehrenamt gesucht und bin über die Seite des DRK Hamburg-Harburg auf das KIT gekommen“, sagt sie. „Ich habe es bis heute nicht bereut. Die Einsätze sind zwar hart, aber die Dankbarkeit ist groß.“ Und nicht zuletzt wachse sie selbst daran: „Ich habe das Leben noch mehr zu schätzen gelernt.“