Die gute Seele im Camper: Julia Radojkovic betreibt die „Mobilen Bullysuppenküchen“
Lächelnd lässt sich Julia in einen Campingstuhl fallen. Sie streckt die Arme über dem Kopf aus. Die blonde Frau mit der roten Daunenweste braucht erst mal einen Kaffee. Gestern war wieder so ein Tag. 16 Stunden war Julia Radojkovic (59) unterwegs – bis 2 Uhr nachts. Keine Seltenheit. Besonders jetzt. „Sobald der Frost kommt, fahre ich nachts noch mal alleine rum und verteile Essen und Kleidung“, sagt die Gründerin der „Mobilen Bullysuppenküche“. Häufig schuftet sie 70 Stunden die Woche, um anderen zu helfen. Menschen, die ein Leben im Abseits führen. Die in Armut leben. Eine Erfahrung, die auch Julia schon machen musste. Und wahrscheinlich auch wieder machen wird.
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Lächelnd lässt sich Julia in einen Campingstuhl fallen. Sie streckt die Arme über dem Kopf aus. Die blonde Frau mit der roten Daunenweste braucht erst mal einen Kaffee. Gestern war wieder so ein Tag. 16 Stunden war Julia Radojkovic (59) unterwegs – bis 2 Uhr nachts. Keine Seltenheit. Besonders jetzt. „Sobald der Frost kommt, fahre ich nachts noch mal alleine rum und verteile Essen und Kleidung“, sagte die Gründerin der „Mobilen Bullysuppenküche“. Häufig schuftet sie 70 Stunden die Woche, um anderen zu helfen. Menschen, die ein Leben im Abseits führen. Die in Armut leben. Eine Erfahrung, die auch Julia schon machen musste. Und wahrscheinlich auch wieder machen wird.
Mit ihrer „Bully-Lady“, Hühnersuppe aus Dosen und Instantkaffee fing alles an. Vor neun Jahren. Da war Julia erschöpft von der Arbeit als Sozialarbeiterin in der Kinder- und Jugendhilfe. Die Schicksale der Frauen und Kinder, das „krankende System“. Klar war, sie kann und möchte ihren Beruf so nicht mehr weitermachen. Gar nichts mehr anzubieten, zu helfen, kam für die Frau, deren Körper ständig in Bewegung scheint, allerdings auch nicht infrage. Julia ging damals viel spazieren, fuhr mit dem Rad durch die Stadt und nahm das erste Mal das volle Ausmaß des Leids auf der Straße wahr.
Mit ihrem alten Campingbus, zwei Gasflammen und zwei Töpfen stellte sie sich an den Hauptbahnhof. Die Obdachlosen standen Schlange. „Danach war ich fast nur noch unterwegs, um den Menschen auf der Straße zu helfen. Die Töpfe sind gewachsen, die Flammen wurden größer.“ Und immer mehr Menschen wollten Julia ehrenamtlich helfen. Anfangs vor allem Obdachlose. Heute unterstützen 40 Freiwillige den vor fünf Jahren gegründeten Verein „Mobile Bullysuppenküche“. Menschen, die etwas geben, ohne zu nehmen. Auch Julia und der zweite Vorsitzende Michael Finnern haben lange Zeit keinen Cent für ihre Arbeit bekommen. Momentan erhalten sie für zwölf Monate ein Gehalt von einer Stiftung. Die Zahlungen laufen jedoch im Februar aus. Wie es dann weitergeht? Julia zuckt die Schultern. „Das werden wir sehen.“ Gerade hatten sie einen Quartiersfonds bei der Stadt beantragt, der abgelehnt wurde. Warum – das weiß sie nicht.
Spendengelder zu nehmen, um sich davon ein Gehalt auszuzahlen, kommt für die Gründerin nicht infrage. „Ich habe vorher von Hartz IV gelebt und werde es dann wieder müssen. Genau wie die Menschen, die ich betreue.“ Sie habe als alleinerziehende Mutter schon viel Armutserfahrungen gemacht. Julia weiß, wie es ist, am Ende des Monats nicht mal mehr Geld für das Nötigste zu haben. Für Essen, Hygieneartikel. Ihr ist bewusst, dass sie zu den Frauen gehört, die in die Altersarmut rutschen werden. „Obwohl ich mein Leben lang gearbeitet habe.“
„Bully-Ecke“: Neuer Standort am Hein-Köllisch-Platz
Klingt bitter. Doch Julia lächelt. Sie ist nicht frustriert. „Ich bin in einer Phase, in der viele Menschen Bilanz ziehen und sich fragen, wofür sie ihre Zeit eigentlich noch investieren möchten. Ich bin fast 60 und was ich mache, mache ich aus voller Überzeugung.“ Sie habe Partys besucht, Sport gemacht, sei mit dem Campingbus gereist. „Mir fehlt nichts. Für mich ist das mein Lebenselixier“, sagt die Frau und zeigt hinter sich auf ein Regal mit Kisten. Die neue Kleiderkammer im Keller am Hein-Köllisch-Platz. Hier entsteht der erste eigene Standort des Vereins: die „Bully-Ecke“. „Das soll ein Stück Zuhause sein für Menschen auf der Straße und alle, die zusammen an einem Tisch sitzen möchten und kein Geld für Essengehen haben.“ Aber nicht nur eine warme Mahlzeit soll es in der „Bully-Ecke“ geben. Auch Beratung, frische Kleidung, Waschmaschinen und Duschen werden angeboten.
Ursprünglich sollte Ende Oktober eröffnet werden. „Als wir die Räume jedoch übernommen haben, gab es keine Stromanschlüsse mehr, keine Wasserleitungen. Dass wir nicht mal eine Steckdose vorfinden, hat uns ziemlich erschlagen.“ Mit vielen freiwilligen Helfern wurde das ehemalige Restaurant, das jahrelang leer gestanden hatte, saniert. Julia hofft im Dezember eröffnen zu können. Das „Bully-Team“ kann es kaum noch erwarten. Momentan ist der Verein nur zwei Mal die Woche mit einer warmen Mahlzeit unterwegs, weil es seit Juni keine Küche mehr gibt. „Da wir unsere deftigen Eintöpfe nicht selber kochen können, müssen wir teuer zukaufen und verteilen derzeit gerade mal ein Viertel der üblichen Essensmengen.“ Normalerweise sind es alleine an einem Sonntag 600, dienstags und donnerstags 300 bis 400 Portionen.
Um überhaupt Essen verteilen zu können, sind Julia und ihr Team pausenlos am Klinkenputzen. „Jeder Supermarkt, jede Veranstaltung zählt. Es wird unglaublich viel Essen weggeschmissen.“ Das liegt auch an gesetzlichen Vorgaben, da der Spender dafür haftbar gemacht werden kann, wenn etwas mit dem Essen nicht stimmt. „Das sorgt dafür, dass große Caterer mal eben 2000 Portionen am Tag wegschmeißen. Die hätte ich gerne.“ Daran arbeitet Julia. Sie plant regelmäßige „Topf-Patenschaften“ mit Restaurants, Hotels und Kantinen. „Ich komme dann angefahren mit einem großen Thermotopf und wir bringen das Essen direkt auf die Straße.“
Gründerin Julia: „St. Pauli ist ein Ort der Hilfsbereitschaft“
Julia ist sich sicher, dass das funktionieren wird. Schließlich eröffnet die „Bully-Ecke“ jetzt auf St. Pauli. An einem Ort der Hilfsbereitschaft, Toleranz und Vielfalt. „Die Menschen sind purer, direkter, freier. Es wird viel selbstverständlicher mit Situationen umgegangen, die in Eppendorf empören würden.“ Allerdings sei die Lage auf St. Pauli seit der Pandemie deutlich schwieriger geworden. Die Not der Gastronomen und Anwohner ist größer. Viele haben nichts mehr, das sie abgeben könnten. Stattdessen stehen deutlich mehr Anwohner in der Schlange vor dem Bully und fragen nach Essen und Kleidung. „Wir könnten jeden Tag Lebensmittel verteilen. Aber wir haben nicht genug. Auch die Hamburger Tafel, die uns sonst beliefert, hat so wenig wie noch nie“, sagt Julia besorgt.
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Sie sieht den Staat in der Pflicht und fragt sich, warum nicht mehr Unterstützung kommt. Es macht Julia wütend, wenn sie an all die Menschen denkt, die ihre Hilfe benötigen. Manche gerade mal aus dem Kindesalter raus, andere schon über 80. Nicht nur Obdachlose werden vom Verein versorgt. Auch verarmte Menschen, die noch eine Wohnung oder einen Schlafplatz haben. Gerade viele Frauen würden sich lange über Wasser halten. „Mit körperlichen Leistungen, als Haushaltshilfen oder Pflegekräfte. Dafür bekommen sie dann ein Sofa. Von vielen denkt man nicht, dass sie wohnungslos sind.“
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Am meisten berühren Julia die Schicksale junger Menschen. Die früh Missbrauch erleben mussten. Keine Achtung und Fürsorge erfahren haben. Die auf die Straße und in die Sucht geflüchtet sind. „Mit elf, zwölf Jahren habe viele schon angefangen, Drogen zu nehmen.“ Wie eine junge Frau und ein junger Mann, die seit sie zwölf sind auf der Straße leben. Julia nennt sie ihre „Königskinder“. Seit sechs Jahren versucht sie alles, um sie zu stärken, von den Drogen zu lassen. „Sie waren auf einem guten Weg. Doch nach zwei Jahren sind sie jetzt rückfällig geworden.“ Beide leben wieder auf der Straße – dort wo Julia sie kennenlernte. Die Frau presst die Lippen aufeinander. „Das macht mich sehr traurig, weil sie einfach mehr Schutz, anhaltende Fürsorge und therapeutische Hilfe bräuchten.“ Enttäuscht ist Julia nicht. Nie würde sie ihre Königskinder oder andere Gäste fallen lassen. Es ist ihr egal, wie oft sie rückfällig werden. Wie oft sie auf einmal weg waren und wie aus dem Nichts wieder auftauchen. „Ich bin da. Immer und immer wieder.“