Der (Über-)Lebenskünstler: Chris hat es aus der Obdachlosigkeit geschafft
Kinderheim, Alkohol, Obdachlosigkeit: Chris S. (51) hat einiges hinter sich. Sieben Jahre hat er ununterbrochen auf der Straße gelebt, der Wodka war sein bester Freund. Doch er hat es zurück in die Gesellschaft geschafft. Heute zeigt er Hamburgern und Touristen die Ecken der Stadt, die für viele kaum sichtbar, für fast 19.000 Menschen Zuhause-Ersatz sind. Wie lebt es sich unter dem Radar der Gesellschaft? Und welche Vorurteile gehen ihm auf die Nerven?
Kinderheim, Alkohol, Obdachlosigkeit: Chris S. (51) hat einiges hinter sich. Sieben Jahre hat er ununterbrochen auf der Straße gelebt, der Wodka war sein bester Freund. Doch er hat es zurück in die Gesellschaft geschafft. Heute zeigt er Hamburgern und Touristen die Ecken der Stadt, die für viele kaum sichtbar, für fast 19.000 Menschen Zuhause-Ersatz sind. Wie lebt es sich unter dem Radar der Gesellschaft? Und welche Vorurteile gehen ihm auf die Nerven?
Als die MOPO Chris S. (51) an einem Sonntagnachmittag trifft, ist in Hamburg richtiges Schietwetter. Es stürmt und regnet, doch Chris möchte sich nicht in einem Gebäude unterhalten. „Die Obdachlosen sind auch den ganzen Tag draußen“, sagt er. „Wir bleiben hier.“
Manchen mag Chris‘ Art etwas ruppig erscheinen. Die Straße hat ihn abgehärtet. Und er schiebt es auf seine Herkunft: „Ich komme aus dem Ruhrpott. Da sind die meisten so: harte Schale, weicher Kern.“ Er grinst.
Jahrelang bettelte Chris als Obdachloser auf dem Kiez
Chris ist in einem Kinderheim aufgewachsen, unter Nonnen, wie er sagt. Keine Familie, kein fester Halt. Mit elf war er zum ersten Mal für kurze Zeit auf der Straße, doch er fing sich wieder. „Ich habe eine Ausbildung zum Dachdecker gemacht. Den Abschluss habe ich nicht geschafft. Prüfungsangst.“
Ohne Perspektive kam er zunächst bei Freunden und Bekannten unter, erfand immer neue Gründe für seine Wohnungslosigkeit. „Irgendwann ist meine Lügenbrücke zusammengebrochen“, sagt er. „Dann bin ich nach Hamburg abgehauen.“

Die Hansestadt wird auch als Hauptstadt der Obdachlosigkeit bezeichnet. Laut Zahlen der Diakonie waren im Januar 2022 hier 18.915 Menschen ohne Wohnung. Mit mehr als 1000 wohnungslosen Menschen pro 100.000 Einwohner hat Hamburg die höchste Wohnungslosenquote unter den Großstädten. Viele leben so wie Chris damals: „Ich war Vollalkoholiker. Zweieinhalb Flaschen Wodka am Tag waren normal. Ich habe meine Gefühle betäubt.“
Jahrelang bettelte Chris perspektivlos auf der Reeperbahn, bis er 1995 zu „Hinz & Kunzt“ kam. Zunächst verkaufte er das Straßenmagazin nur, bis eine Sozialarbeiterin auf ihn zukam und fragte, ob er nicht ein „Stadtrundgänger“ werden wolle. „Sie hat mich richtig genervt“, sagt Chris. „Irgendwann hab‘ ich zugesagt.“
Drogenhilfezentrum, Tagesaufenthaltsstelle, Stadtmission
Der Job hat alles für Chris verändert. Seit 2011 lebt er in einer Eineinhalbzimmerwohnung in Wandsbek-Gartenstadt, ist nicht mehr auf Bürgergeld angewiesen und führt 25 Stunden in der Woche Menschen durch die Ecken der Stadt, die für Obdachlose eine große Rolle spielen – bei jedem Wetter. Hamburger „Nebenschauplätze“ werden die genannt. „Der Stadtrundgang kommt richtig gut an“, sagt Chris stolz. „Er ist eigentlich immer ausgebucht.“
An diesem Sonntag sind es nur 13 Gäste. Das schiebt Chris darauf, dass der Rundgang übergangsweise im Münzviertel statt am Jakobikirchhof stattfindet. Vielleicht liegt es aber auch ein bisschen am Wetter. Die Anwesenden lauschen jedenfalls gebannt, als Chris über das Drogenhilfezentrum „Drob Inn“, die Tagesaufenthaltsstelle „Herz As“ und die Stadtmission redet. „Was schätzt ihr, wieviel Geld ein Heroinabhängiger pro Tag braucht?“ – „200 Euro“, rät eine Besucherin. „Richtig. Du machst dich verdächtig, junge Dame!“, meint Chris mit mahnendem Ton.

Einmal bleibt er unvermittelt stehen, deutet auf zwei Gebäude links und rechts der Straßenseite: „Rechts ist das Studentenwohnheim der Reichen und Schönen. Da kriegst du sogar die Wäsche gewaschen und gebügelt. Und links – klopf mal gegen die Wand“, sagt er zu einer Besucherin. Es klingt hohl. „Das hier ist das billige Studentenwohnheim. Die Schere zwischen arm und reich ist überall sichtbar.“
Aus seinen Vorwürfen gegenüber der Gesellschaft macht Chris keinen Hehl. Es müsse viel mehr getan werden für die wohnungslosen Menschen: mehr Unterkünfte und Anlaufstellen – und mehr Sichtbarkeit.
Chris möchte Vorurteile gegen Obdachlose ausräumen
Vorurteile gegenüber Obdachlosen möchte er entschieden ausräumen: „Das sind nicht alles Heimkinder oder Alkoholiker wie ich. Die meisten kommen durch Depressionen oder eine Lebenskrise auf die Straße. Viele waren mal Anwälte, Ärzte, Richter. Es kann alle Schichten treffen.“ Das habe auch die Corona-Krise gezeigt, die nochmal mehr Menschen auf die Straße geführt habe.
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Chris bezeichnet sich selbst jetzt als „stabil“. Vom Alkohol lässt er die Finger. Und er hat seinen „Traumjob“ gefunden, wie er immer wieder betont. „Reich werde ich damit nicht. Aber ich brauche auch keine Villa und keinen Porsche! Der Job macht mir Spaß, das ist, was wirklich zählt.“
Jeden zweiten Sonntag im Monat führt Chris Interessierte durch Hamburgs „Nebenschauplätze“. Mehr Informationen gibt es auf der Hinz und Kunzt-Webseite.