„Finanziell häufig knapp“: Kiez-Club in Sorge vor dem Winter
Eigentlich hat Tino immer gute Laune bei der Arbeit. Auch wenn es mal gestresste Musiker, genervte Manager oder übergelaufene Toiletten zu bewältigen gibt: Constantin „Tino“ von Twickel (48) liebt, was er tut. Der Mann mit Hut ist Künstlerischer Leiter des Nochtspeichers und der Nochtwache. Zwei Live-Clubs an der Bernhard-Nocht-Straße, die wie viele andere in einer schweren Krise stecken. Dass es die Clubs bald nicht mehr geben könnte – für Tino eine schmerzliche Vorstellung.
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Eigentlich hat Tino immer gute Laune bei der Arbeit. Auch wenn es mal gestresste Musiker, genervte Manager oder übergelaufene Toiletten zu bewältigen gibt: Constantin „Tino“ von Twickel (48) liebt, was er tut. Der Mann mit Hut ist Künstlerischer Leiter des Nochtspeichers und der Nochtwache. Zwei Live-Clubs an der Bernhard-Nocht-Straße, die wie viele andere in einer schweren Krise stecken. Dass es die Clubs bald nicht mehr geben könnte – für Tino eine schmerzliche Vorstellung.
Jahrelang haben Tino und seine Kollegen die beiden kleinen Livespielstätten zu dem gemacht, was sie heute sind. Ein „Brutkasten“ für Newcomer und ein Ort der Begegnung. Doch ob sie den Winter überleben, ist ungewiss. Vor der Pandemie waren es bis zu 35 Veranstaltungen pro Monat. Größtenteils Konzerte. Aber auch Lesungen, Firmen- oder Geburtstagsfeiern. Aktuell sind es deutlich weniger. Und es kommen immer mehr Absagen.
„Obwohl wir als Veranstalter in der Regel ein Jahr im Voraus planen, können wir das momentan nur von Woche zu Woche“, sagt Tino. Er findet die Bilder von ausverkauften Stadion-Konzerten fatal. Sie vermitteln den Eindruck, es würde wieder laufen. Bei den Clubs sieht es jedoch anders aus. „Es ist häufig ohnehin finanziell knapp. Wir können weniger Tickets verkaufen, haben aber dieselben Kosten.“ Produktion, Sprit, Unterkunft, Personal und Marketing müssen bezahlt werden. „Wenn du dann am Ende nur 50 Leute vor der Bühne hast, rechnet sich das nicht.“
Ticketpreise werden im Nochtspeicher und der Nochtwache nicht angehoben
Die Ticketpreise anzuheben, kommt für den Nochtspeicher und die Nochtwache nicht in Frage. Kultur für jedermann bieten, ist das Ziel. „Wir sind eine Spielstätte für Newcomer. Auch wenn wir wissen, dass nur 40 Leute kommen, ziehen wir Konzerte durch.“ Bisher war das kein Problem. Dann wurden die Shows durch Einnahmen anderer Veranstaltungen ausgeglichen. Doch die Rücklagen sind seit der Pandemie aufgebraucht. Staatliche Hilfen gibt es nicht mehr. Viele Vorverkäufe laufen miserabel. Woran das genau liegt – darüber können die Veranstalter nur spekulieren.
Tino vermutet, dass noch viele Tickets von verschobenen Konzerten an irgendwelchen Kühlschränken hängen und die Leute diese erst mal wahrnehmen wollen, bevor sie sich neue Karten kaufen. Hinzu kommt die Angst, sich zu infizieren. Eine „german Angst“, wie Tino sie nennt. Viele Künstler seien verwundert darüber, dass es in Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern überhaupt noch Corona-Maßnahmen gibt.
Die fatale Lage der Clubs dürfte eine Mixtur unterschiedlicher Gründe sein, vermutet Tino. Fakt ist: Immer mehr Konzerte werden abgesagt. Auch der Nochtspeicher musste bereits Shows canceln. Die Herbstsaison startete im September noch gut. Doch alleine in der zweiten Oktober-Woche wurden von sieben Konzerten fünf abgesagt. Wegen des miesen Ticketverkaufs und weil ein Musiker Corona hatte. Wie lange die beiden Clubs das aushalten, weiß Tino nicht. „Wir wissen nicht mal, welche Konzerte diesen Monat wirklich stattfinden können. Wenn immer wieder Shows ausfallen, wird es schnell eng.“
Keine Einnahmen. Keine staatlichen Hilfen. Keine Rücklagen. Klingt danach als ständen die Clubs vor dem Aus. „Ja, definitiv besteht diese Gefahr. In diesem Winter wird sich zeigen, wer durchhält. Ein größeres Loch können viele nicht mehr stopfen“, sagt Tino ernst. Es fällt ihm schwer darüber zu sprechen, dass das, was er und seine Kollegen über Jahre aufgebaut haben, derart gefährdet ist. „Wir haben sehr dafür gekämpft, dass diese beiden Clubs so etabliert sind“, sagt der Mann und presst die Lippen aufeinander.
Die Perspektivlosigkeit macht Tino zu schaffen. Auch im Hinblick auf die anderen Livespielstätten Hamburgs. Er hofft auf Hilfen durch die Kulturbehörde, die bisher immer sehr engagiert gewesen sei. „Schließlich ist die Dichte der Musikclubs hier größer als in jeder anderen deutschen Stadt. Das gilt es zu erhalten.“ Die Vielfalt der Musiklandschaft war damals auch der Grund, warum er aus seinem hessischen Heimatort nach Hamburg kam.
Aufgewachsen ist Tino mit den Schallplatten seiner Eltern. Viel Elvis, aber auch Beatles und Dean Martin. „Das hat mich geprägt. Meine Eltern haben sozusagen den Grundstein gelegt.“ Es folgte die erste eigene Band als Schlagzeuger. Damals mit 16 Jahren auf dem Internat. Dort war er gelandet, weil seine Mutter sich mehr Struktur für ihren Sohn wünschte. Schule schwänzen, Partys, Musik machen. „Ich war jung, wild, rebellisch und wollt es halt einfach wissen“, sagt Tino schmunzelnd. Auf dem Internat wurde es noch wilder. „Das war die Partyhölle“, sagt er lachend. Nach der Schule war er allerdings auch fertig mit Ausleben.
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Auf Wunsch seiner Mutter machte Tino was Solides – eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Dabei sollte es aber nicht bleiben. Mit 20 Jahren hatte er die bunte Welt des Kiezes bei einem Besuch mit vier Freunden kennengelernt. „Da war die Hafenstraße noch Hafenstraße und ich dachte nur: ‚Wow, was machen die hier?‘“ Das Pulsieren der Großstadt faszinierte Tino. Und ließ ihn nicht los. Anfang 2000 war es soweit. Er kam nach Hamburg und arbeitete erst als Presse- und Brandmanager bei einer Plattenfirma bevor er sechs Jahre später in die Live-Branche wechselte. Für ihn die ehrlichste Art mit Künstlern zusammen zu arbeiten.
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Als Künstlerischer Leiter kümmert sich Tino um das Programm, betreut die Künstler und Agenturen. Wer in dem 170 Jahre alten Speichergebäude auf die Bühne darf – das richtet sich nach dem Geschmack des Teams. „Hier finden Dinge statt, die wir selber toll und unterstützenswert finden.“ Allerdings muss es vom Sound und auch inhaltlich passen. „Wir mögen alles, was handgemacht ist.“ Techno, House, Rap oder Hip-Hop kommen nicht auf die Bühne. Zumal es da immer wieder Texte gäbe, die nicht mit ihrer Überzeugung übereinstimmen. „Wir sind ein sehr liberal orientierter Komplex auf St. Pauli und haben eine große Gemeinschaft.“ Was nicht bedeutet, dass es politische Veranstaltungen gibt. Auch Anfragen von Parteien werden generell abgelehnt. „Da wollen wir uns nicht positionieren. Jedoch ist uns wichtig, dass alles, was hier stattfindet, weder irgendwelche Menschenrechte verletzt noch irgendwen ausgrenzt. Wir stehen für Diversität.“
Bekannte und unbekannte Künstler kommen in den Nochtspeicher
Das hat nicht immer funktioniert. Der ein oder andere Fehlgriff war anfangs dabei. Grölende Fans vor der Tür, vollgeschmierte Wände, zerstörte Toiletten. Zum Glück kam das nur selten vor. Viel häufiger hat sich Tino schon seine Wunschkünstler erfüllt. Auch Musiker, die sonst große Hallen füllen, kommen gerne. „Der direkte Kontakt zum Publikum ist für sie wichtig.“ Stolz erzählt der Künstlerische Leiter, dass vor Kurzem Slim Jim Phantom, Schlagzeuger der Stray Cats, auf der Bühne stand. „Das ist ein Jugendidol von mir“, schwärmt Tino. Bei solchen Konzerten steht er mit einem breiten Grinsen glücklich hinterm Tresen. Klar ist er dann besonders aufgeregt.
Jedoch seien Konzerte immer aufregend – für alle Beteiligten. Und manchmal auch eine Herausforderung. Lange Fahrten, wenig Schlaf, Zeitdruck, Stress mit Bandkollegen. Manche Musiker kommen völlig entnervt an. Dann liegt es an Tino und seinen Kollegen für gute Stimmung zu sorgen. „Wenn man auf die Leute zugeht, mit ihnen redet und ihnen zeigt, dass man sich um sie kümmert, hilft das schon sehr.“ Kümmern bedeutet für Tino allerdings nicht, dass er jeden Wunsch erfüllt. Einmal stand auf der Liste fürs Catering, dass ein Künstler Wasser von den Fidschi-Inseln möchte. Mumpitz. Das gibt es nicht. Kräuterteemischungen, frischer Ingwer, Haferdrinks und vegane Speisen sind dagegen mittlerweile Standard. Hört sich nicht gerade nach Rock ‚n‘ Roll an. „Die Zeiten von Bier und Mettbrötchen sind vorbei. 99 Prozent der Bands sind sehr zivilisiert. Das Leben auf Tour ist viel zu anstrengend.“ Und Entgleisungen würden in der Branche auch schlicht nicht mehr akzeptiert wie früher. Die Musiker achten auf ihre Gesundheit und Fitness. „Wir haben hier Bands, die kommen an und gehen erst mal ’ne Stunde joggen.“
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Die Zeiten haben sich geändert. Es sind gute Zeiten – findet Tino. Eigentlich. Er hofft, dass die Menschen verstehen, welche Dimension schlechte Ticketverkäufe haben und was die Clubs für sie bedeuten. „Wir sind Orte, die nicht nur Livemusik bieten, sondern auch soziales Leben intensivieren und unterschiedlichste Menschen zusammenbringen.“ Dass diese Begegnungsstätten erhalten bleiben, ist sein großer Wunsch. Nicht nur für sich, seine Kollegen und die gesamte Clubszene. Für jeden Einzelnen.
Einen Mann kann sie seit Jahren nicht vergessen. Über 70, gehbehindert, seit Jahren obdachlos. Der Versuch, ihn von der Straße zu holen, scheiterte. Er wollte und konnte es nicht. Abends sah Mareike ihn häufig auf dem Heimweg beim Flaschensammeln. „Ich wusste, ich gehe gleich in mein Bett und er mit seinen über 70 Jahren wird irgendwo auf der Straße schlafen. Da hat mein Herz geblutet.“
Steckbrief Constantin von Twickel (58)
Spitzname und Bedeutung: Die meisten sagen Tino, manche nennen mich aber auch Twiggelo.
Beruf/erlernte Berufe: Künstlerischer Leiter des Nochtspeichers und der Nochtwache/gelernter Industriekaufmann
St. Pauli ist für mich… ein buntes Viertel mit diversen Menschen und einem großartigen Fußballverein.
Mich nervt es tierisch, wenn… Leute mir ins Wort fallen.
Ich träume davon, dass… es mehr Toleranz, Zufriedenheit und Frieden auf der Welt gibt. Klingt total kitschig, ist aber so.
Wenn mir einer blöd kommt,… versuche ich die Sache im Gespräch zu klären.
Zum Abschalten… setze ich mich an die Elbe oder gehe im Wald spazieren.
Als Kind… bin ich leidenschaftlich gerne Ski gefahren. Ich wollte früher Skirennfahrer werden.
Meine Eltern… sind super.
Vom Typ her bin ich… leidenschaftlich.