Er hat schon über 200 Kiezmenschen fotografiert
Angefangen hat alles mit sechs Kiezianern aus der Nachbarschaft. Porträtiert in Schwarz-Weiß. Das Wichtigste für den Fotografen: Seine Bilder sollten echt sein. Authentisch. „Die Menschen hier sehen gerne mal etwas markant, manche verlebt aus. Das wollte ich zeigen“, sagt Andreas Muhme. Das erste Gesicht, das er vor die Kamera bekam, war Schauspieler Lars Nagel: der „Nasen-Ernie“ aus dem Film „Der Goldene Handschuh“. Mittlerweile sind 200 dazugekommen.
Eigentlich war klar: Bei 200 ist auf jeden Fall Schluss. Mittlerweile hat er 201 Kiezianer fotografiert. Und kein Ende in Sicht. Seit drei Jahren porträtiert Andreas Muhme (52) die Menschen im Stadtteil. Seine „Faces of St. Pauli“ waren im gesamten Viertel zu sehen – in einer großen Open-Air-Ausstellung in Fenstern von Kneipen, Geschäften und Clubs. Ursprünglich war die Ausstellung nur für einen Monat im Sommer geplant – etliche hängen nach wie vor. Seine „Faces“ sind eine Konstante – in einem Viertel, in dem sonst nur der Wandel konstant ist.
Angefangen hat alles mit sechs Kiezianern aus der Nachbarschaft. Porträtiert in Schwarz-Weiß. Das Wichtigste für den Fotografen: Seine Bilder sollten echt sein. Authentisch. „Die Menschen hier sehen gerne mal etwas markant, manche verlebt aus. Das wollte ich zeigen“, sagt Andreas. Das erste Gesicht, das er vor die Kamera bekam, war Schauspieler Lars Nagel: der „Nasen-Ernie“ aus dem Film „Der Goldene Handschuh“. Mittlerweile sind 200 dazugekommen.
Kiezmenschen: Fotograf Andreas Muhme fotografiert Menschen auf St. Pauli
„Eigentlich wollte ich ja jetzt aufhören. Aber es melden sich immer wieder Menschen vom Kiez, die auch dabei sein wollen. Ich kann also gar nicht aufhören.“ Die meisten der „Faces“ sind weitestgehend unbekannt: von Anwohnern über Wirte bis hin zu Altpunkern. Aber auch Kiezgrößen wie Olivia Jones und Corny Littmann sind dabei.
Von Glamour bis Gosse, von Blaulicht bis Rotlicht: Originale gibt es auf St. Pauli so einige. In der MOPO-Serie „Kiezmenschen“ zeigen Ihnen starke Frauen, protzende Kerle und Kultfiguren ihre Welt. Herzlich, persönlich, nah dran. Parallel dazu erzählen sie jede Woche im gleichnamigen Podcast ihre Geschichten.
Alle Podcast-Folgen der „Kiezmenschen“ finden Sie unter MOPO.de/Podcast, bei Spotify und Apple Podcasts.
Kiezmenschen-Podcast: Auf ’ne Buddel mit Andreas Muhme
Anfangs machte Andreas nur ganz „normale“ Porträts von den Kiezianern. Irgendwann fing er an, zusätzlich ein verdecktes Foto zu machen. Dafür durften die „Faces“ einen Gegenstand mitbringen, den sie sich vors Gesicht halten sollten. Der Chef der „Pizzabande“ kam mit 20 Gummibändern und spannte sie sich um den Kopf. „Ich dachte nur: ‚Oh Gott, der Arme. Dem platzt gleich der Schädel.‘“
Besonderen Spaß hatte Andreas mit Burlesque-Queen Eve Champagne. „Mir war klar, dass sie eine Rampensau ist. Aber dass es so heftig ist, wusste ich nicht. Eine irre, herzensgute Frau.“ Die ihn allerdings in eine heikle Situation brachte: Eve kam mit mehreren Outfits zum Fototermin in seine Wohnung. „Sie riss sofort ihre Klamotten runter und schmiss ihren BH in eine Ecke“, erinnert er sich. Abends kam seine Frau mit dem Fundstück in die Küche und sagte bloß: „Sorry, das ist nicht meine Größe.“ Ups. Dumm gelaufen.
Seine Frau konnte zum Glück drüber lachen. Wochen später brachte Andreas den BH zurück zu Eve. „Zum Tausch bekam ich zehn Eier, die sie gerade frisch von ihren Eltern mitgebracht hatte. BH gegen Eier. Das ist typisch Eve“, sagt der Fotograf lachend.
„Faces“-Fotos auf St. Pauli: Wer soll neben wem hängen?
Andreas ist stolz auf das Foto, das er von der Burlesque-Tänzerin gemacht hat. Es zeigt sie echt. Wie viele andere „Faces“ auch. Was daran liegt, dass Andreas kaum retuschiert. „Wenn jemand einen Herpes oder fetten Pickel hat, mache ich das weg. Aber ansonsten sollen die Bilder echt sein. Falten bleiben. Da müssen die Leute mit leben.“ Tun sie auch. Meistens. Manchmal gibt es schon ein wenig Hin und Her. Wer gezickt hat – das sagt Andreas nicht. Nur so viel: Sein kompliziertester Fall war ein Mann.
Größere Probleme gab es bei der Planung der Ausstellung mit den Standorten. Wer hängt wo? Wer hängt neben wem? „Natürlich gab es einige, die auf keinen Fall in bestimmten Läden hängen wollten. Weil sie sich untereinander nicht verstehen. Oder HSV-Fans, die natürlich auf keinen Fall in einer St. Pauli-Kneipe hängen wollten. Es war eine ziemliche Schieberei.“
Die „Faces“ sind Andreas’ längstes Projekt. Und die größte Nummer seiner Karriere. Seine Open-Air-Ausstellung war Teil des Kultursommers im vergangenen Jahr. Gemeinsam mit Panikrocker Udo Lindenberg und anderen bekannten Gesichtern eröffnete er die Veranstaltung auf dem Spielbudenplatz. „Ich bin keine Rampensau und lieber hinter der Kamera. Das war sehr aufregend. Ich habe furchtbar genuschelt, glaube ich“, sagt Andreas und lacht herzlich.
Während des Kultursommers bot der Fotograf Führungen über den Kiez an, um seine Ausstellung zu zeigen. Kiez-Touren? Eigentlich gar nicht sein Ding. „Andere sollen das machen. Total okay. Aber ich möchte da nicht zugehören. Die Führungen im Viertel nehmen so langsam überhand an.“ Deshalb spendete der Fotograf das Geld an das Barkombinat. Für ihn selbstverständlich. „Ich versuche, ein guter Mensch zu sein.“ Aber er könne auch verdammt wütend werden. „Meine Frau sagt immer, dass man Angst vor mir haben könnte, wenn ich ausflippe.“ Andreas findet das nicht. Eigentlich sei er ganz geschmeidig und harmoniebedürftig.
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Harmonie – für ihn auch ein wichtiges Thema auf dem Kiez. Klar, es ist immer wieder die Rede vom großen Zusammenhalt. „Und das stimmt auch.“ Allerdings ist der Kiez für Andreas nicht nur im positiven Sinne das kleine gallische Dorf. „Wenn Feinde von außen kommen, hält der Kiez zusammen. Untereinander herrscht mir aber zu viel Krieg. Da will der eine nichts mit dem anderen zu tun haben und es wird auch gerne mal herabgewürdigt. Das finde ich schade. Obwohl ein bisschen Pöbeln natürlich auch zu St. Pauli gehört.“
In Flottbek fühlte Andreas Muhme sich „völlig unwohl“
Andreas will nicht einen auf Weltverbesserer machen. Aber er versucht die Leute zusammenzubringen. Damit der Kiez an einem Strang zieht. Trotz der Kritik: Andreas liebt seinen Kiez. Und hat ihn durch die Foto-Serie noch mal neu kennengelernt. Etliche Menschen und ihre Läden hatte er vorher nie gesehen. „Seitdem fühle ich mich hier wirklich als Kiezianer.“ Dabei wohnt er schon seit 1995 im Viertel, das sich für ihn wie Heimat anfühlt.
Dieses Gefühl hatte er vorher nie. Als Kind lebte Andreas erst in Quickborn, danach ging es in die Elbvororte. Nach Flottbek. „Da habe ich mich völlig unwohl gefühlt.“ Nach seiner Fotografenlehre zog er auf den Kiez. „Dieses Verruchte damals fand ich großartig.“ Kleine Clubs, in die man einfach ohne Eintritt gehen konnte. Das Gefühl von Abenteuer, wenn man durch die Straßen zog. Feiern bis zum Morgen. Andreas ließ es krachen. „Der Kiez hat mir nicht nur gutgetan.“ Als es zu heftig wurde, zog er für drei Jahre nach Eimsbüttel. „Ich musste einfach mal raus. Es war mir zu viel. Aber dann habe ich es schnell vermisst.“ Andreas musste zurück auf den Kiez. Für sein Seelenheil.
Heute lebt der „Faces“-Erfinder mit seiner Frau in einer Altbau-Wohnung mitten auf dem Kiez. Sie brachte zwei Söhne mit in die Ehe. Er eine Tochter. Entweder sind alle drei da oder keiner. „Die Hälfte der Zeit bei uns, die andere Hälfte bei unseren ehemaligen Partnern – das mögen die Kinder. Und es läuft sehr gut.“ Nichts mit Kleinkrieg. Die Familien verstehen sich, an Feiertagen sitzen alle zusammen an der großen Tafel. Und durch die 50-50-Regel hat Andreas genug Zeit und Ruhe für seinen Job.
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Sein Geld verdient er aktuell mit Business- und PR-Fotos. Viel Zeit jedoch investiert er in sein Kiez-Projekt. Die „Faces“ über hat er nie. „Gefühlt könnte ich das mein Leben lang weitermachen. Erst mal bringe ich jetzt aber mein Buch heraus.“ Fotos von 120 Kiezianern werden gezeigt. Dazu Texte der Fotografierten. Andreas hat eine Crowdfunding-Aktion gestartet. „Mal schauen, ob das nur wir hier auf St. Pauli geil finden oder ob das größere Kreise zieht.“ Im Mai soll das Buch erscheinen. Andreas ist sich sicher, dass alles klappt. Bisher sei er sein ganzes Leben als Träumer durchgekommen. Außerdem steht der Kiez hinter ihm. Seine bunte, verrückte Heimat, die von so vielen Faces geprägt wird.
Steckbrief Andreas Muhme
Spitzname und Bedeutung: Viele sagen Muhme. Und ich habe einen Capoeira-Namen – Ceguinho. Das heißt „Kleiner Blinder“, weil ich Fotograf bin und Brille trage.
Beruf/erlernte Berufe: Fotograf und Fotograf
St. Pauli ist für mich … der geilste Platz der Welt.
Mich nervt es tierisch, wenn … Touristen glauben, dass es hier keine Gesetze gibt.
Ich träume davon, … dass die Leute auf dem Kiez lernen, bei den wichtigen Dingen an einem Strang zu ziehen.
Wenn mir einer blöd kommt, … gibt’s ’nen Spruch.
Zum Abschalten … Gespräch, Bier und Joint. Oder alles zusammen.
Als Kind … hatte ich einen schweren Unfall. Ich wurde von einem Auto angefahren und hatte eine Hirnquetschung. Ich lag lange im Krankenhaus. Vielleicht bin ich deshalb ein Träumer.
Meine Eltern … waren tolle Menschen. Sie leben leider nicht mehr, aber zum Glück habe ich noch meinen Stiefvater.
Vom Typ her bin ich … ambivalent.