Lehrermangel: „Nur noch Digital-Unterricht wäre eine Katastrophe“, sagt der Experte
Der Corona-Lockdown und die Schulschließungen haben bei einigen Kindern schwere Spuren hinterlassen. Depressionen, Angst- und Essstörungen haben unter den 15- bis 17-Jährigen massiv zugenommen. Der Unterricht vorm Bildschirm hat zu erkennbaren Störungen des Sozialverhaltens geführt. Und trotzdem wollen einige Politiker dem zunehmenden Lehrermangel mit Digital-Unterricht entgegentreten. Ob das sinnvoll ist, darüber sprach die MOPO mit dem Bildungsforscher Prof. Heinrich Ricking.
Der Corona-Lockdown und die Schulschließungen haben bei einigen Kindern schwere Spuren hinterlassen. Depressionen, Angst- und Essstörungen haben unter den 15- bis 17-Jährigen massiv zugenommen. Der Unterricht vorm Bildschirm hat zu erkennbaren Störungen des Sozialverhaltens geführt. Und trotzdem wollen einige Politiker dem zunehmenden Lehrermangel mit Digital-Unterricht entgegentreten. Ob das sinnvoll ist, darüber sprach die MOPO mit dem Bildungsforscher Prof. Heinrich Ricking.
Professor Ricking, zahlreiche Kinder in Hamburg wurden durch die Schulschließungen während der Corona-Pandemie völlig aus der Bahn geworfen. Wie sinnvoll war der Fernunterricht per Zoom?
Der Fernunterricht war eine unvorbereitete Notlösung. Ich denke, da kann man niemandem einen Vorwurf machen. In der Phase des Lockdowns wurde das gemacht, was möglich war. Da ging es ganz pragmatisch nur darum, einen Tag nach dem anderen zu überstehen. Dennoch waren qualitative Unterschiede beim Homeschooling erkennbar.
Wurden die negativen Folgen des Bildschirm-Unterrichts hinterher reflektiert?
Ich habe nicht nachvollziehen können, dass es nach der Wiederöffnung der Schulen vielerorts als erstes darum ging, die Wissenslücken zu füllen. Die psychosoziale Situation der Schüler wurde oftmals ignoriert. Dabei weiß man, dass die Quote von Kindern mit einer Angstproblematik sprunghaft nach oben gegangen ist. Ein längerer Krisenmodus macht etwas mit Kindern. Da kann man nicht einfach weitermachen, als wäre nichts gewesen.

Worin lag der Denkfehler?
Schule ist nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern auch ein sehr wichtiger sozialer Lernort. Kinder lernen in der Schule, wie sie sich in Gruppen integrieren können. Sie üben solidarisches Verhalten. Sie lernen, wie man Konflikte friedlich löst. Sie lernen Selbstfürsorge oder was Motivation und Leistungsbereitschaft sind. Das sind alles Kompetenzen, die sie später brauchen, um einen Job auszuüben oder sich in die Gesellschaft zu integrieren. Das darf nicht aus dem Fokus rutschen.
Was hätten die Schulen besser machen können?
Um lernen zu können, müssen Schüler emotional stabil sein. Für diese Stabilität muss auch die Schule sorgen. Man hätte das Aufholen des Lernstoffs erstmal nach hinten stellen sollen. Stattdessen hätte man sich Zeit für Gespräche nehmen sollen. Gespräche in der Klasse aber auch Einzelgespräche. Gut wären auch Projekte gewesen mit Fragestellungen wie: Wie habe ich die Corona-Pandemie erlebt? Was macht mir eigentlich Angst? Stattdessen sind die Kinder direkt nach der Pandemie mit einem neuen Angst-Thema konfrontiert worden – dem Krieg in der Ukraine. Wenn das nicht thematisiert wird, bleiben diffuse Ängste zurück, mit denen viele Schüler nicht umgehen können.
Angesichts des grassierenden Lehrermangels gibt es immer wieder Überlegungen, stärker auf digitales Lernen zu setzen. Ist das eine gute Idee?
Homeschooling setzt eine ganze Menge voraus. Es braucht geeignete zeitliche, räumliche und technische Bedingungen, die nicht in jedem Elternhaus vorhanden sind. Wir haben eine Studie in Rahlstedt durchgeführt, nach der bei 40 bis 50 Prozent der Schüler diese Voraussetzungen nicht gegeben waren. Natürlich gibt es einzelne Kinder, die gut strukturiert sind. Die Mehrheit braucht aber den schulischen Kontext und die Anleitung durch einen Erwachsenen.
Das heißt, beim Fernunterricht müssen die Eltern helfen?
Nicht alle Kinder haben zu Hause jemanden, der ihnen hilft. Auch deshalb wäre ein alleiniger Digital-Unterricht eine Katastrophe. Er würde die Bildungsschere zwischen arm und reich nur weiter öffnen. Aus meiner Sicht funktioniert Homeschooling nur im regelmäßigen Wechsel zwischen Distanz- und Präsenzunterricht. Und das auch nur für ältere Schüler.