„Das macht einen fertig“ – Hamburger Seenotretter über dramatische Szenen an Bord
Seit fünf Jahren ist der Hamburger Gorden Isler Teil der Seenotretter von Sea-Eye e.V. Derzeit nimmt das Schiff der Organisation Kurs auf den Hafen Livorno in der Toskana, mit 108 Geretteten an Bord. Vorausgegangen war ein Kampf mit Malta, dessen Behörden die Rettung unbedingt verhindern wollten. Die MOPO sprach mit Isler über dramatische Szenen auf dem nächtlichen Mittelmeer, über Verätzungen, die passieren, wenn Benzin und Salzwasser auf Menschenhaut treffen, über fehlende Spenden und die Frage, ob ihn nicht manchmal der Mut verlässt.
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Seit fünf Jahren ist der Hamburger Gorden Isler Teil der Seenotretter von Sea-Eye e.V. Derzeit nimmt das Schiff der Organisation Kurs auf den Hafen Livorno in der Toskana, mit 108 Geretteten an Bord. Vorausgegangen war ein Kampf mit Malta, dessen Behörden die Rettung unbedingt verhindern wollten. Die MOPO sprach mit Isler über dramatische Szenen auf dem nächtlichen Mittelmeer, über Verätzungen, die passieren, wenn Benzin und Salzwasser auf Menschenhaut treffen, über fehlende Spenden und die Frage, ob ihn nicht manchmal der Mut verlässt.
Herr Isler, was ist in der Nacht zu Sonntag passiert?
Gorden Isler: Wir hatten 63 Menschen an Bord, die wir kurz zuvor in der libyschen SAR-Zone gerettet hatten …
SAR-Zone?
SAR steht für „Search and Rescue“. Die internationalen Gewässer sind in Zonen eingeteilt, in denen unterschiedliche Länder für die Seenotrettung zuständig sind. Jedenfalls hatten wir diese Menschen gerade an Bord genommen, als sich Italien meldete und uns sofort Livorno in der Toskana als sicheren Hafen zuwies. Wir hatten noch gar nicht nach einem Hafen gefragt, das war sehr ungewöhnlich.
Aber es klingt doch erstmal gut. Gibt ja auch Schiffe, die nirgendwo anlegen dürfen.
Tatsächlich ist das eine perfide Schikane der neuen italienischen Regierung: Schiffe sollen nach jeder Rettungsaktion sofort einen Hafen anlaufen und dort soll sich dann der jeweilige Flaggenstaat um die Aufnahme der Geretteten kümmern. Großen Schiffen wie der Sea-Eye 4 werden dann die am weitesten entfernt liegenden Häfen zugewiesen, damit sie das Rettungsgebiet möglichst lange verlassen müssen. Wir verlassen unser Einsatzgebiet aber nicht, wenn noch weitere Menschen in Seenot sind. Und dann ist dieser Skandal mit Malta passiert.
Die Nacht zu Sonntag. Was war da los?
In der maltesischen SAR-Zone war ein Seenotfall mit 45 Menschen. Wir vermuteten aus unserer Erfahrung der letzten Monate, dass Malta keine Hilfe schicken würde und teilten Italien mit, dass wir noch nicht nach Livorno fahren, sondern zu dem Seenotfall, der rund 36 Stunden von uns entfernt war. Es suchten schon zwei Handelsschiffe nach dem Boot, eines aus Norwegen und eines aus Singapur. Malta forderte sie auf, die Suche abzubrechen, es handele sich nicht um einen Notfall, sie sollen ihren Kurs fortsetzen. Man muss sich das mal vorstellen! Die Rettungsstelle hat Schiffe, die helfen wollten, angewiesen, abzudrehen. Da irren Menschen tagelang in einem kleinen, seeuntauglichen Fiberglasboot über das Mittelmeer, und in einem warmen Büro der maltesischen Rettungsleitstelle entscheidet jemand, dass die nicht in Seenot sind.
Die Sea-Eye 4 hat sie aber gerettet.
Ja, der Kapitän aus Singapur hat sich nicht an diese illegale Anweisung der Malteser gehalten, der hat die Menschen gefunden und blieb bei ihnen, bis wir in der Nacht zu Sonntag ankamen. Ohne die Courage des Kapitäns der MTM Southport wären diese Menschenleben bei Nacht vielleicht verloren gegangen. Wir hätten sie um Mitternacht kaum noch finden können.
In welchem Zustand waren die Menschen?
Die starrten fassungslos in die Ferne, taumelten über unser Deck. Ihre Kleidung war von Benzin durchtränkt, 17 von ihnen hatten Verätzungen an den Beinen von dem Benzin- und Salzwassergemisch und mussten in unserem Bord-Hospital behandelt werden. Die Sea-Eye 4 ist nun also mit 108 Menschen auf dem Weg nach Livorno. Wir prüfen jetzt eine Strafanzeige gegen die maltesische Rettungsstelle.
Wann wird die Sea-Eye 4 in Livorno ankommen?
Am 23. Dezember, das ist eine wirklich weite Strecke. Uns wurde noch nie ein Hafen zugewiesen, der weiter von unserem Einsatzgebiet entfernt lag. Das ist auch für die Geretteten an Bord eine unnötige, zusätzliche Tortur.
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Spüren Sie, dass die Spenden weniger werden?
Ja, die Spenden sind um rund 23 Prozent bei Sea-Eye eingebrochen. Allein der Betrieb des Schiffes kostet zwei Millionen Euro im Jahr an Liegeplatzkosten, vorgeschriebene Crew-Größen, Versicherungen, Wartungen. Eine Mission kostet um die 250.000 Euro, das meiste davon fällt für Treibstoff an. Die Oktober-Mission mussten wir ausfallen lassen, weil die Rücklagen aufgebraucht waren, auch der Einsatz im Januar 2023 ist ernsthaft gefährdet. Was toll ist: Die Moderatorin Ruth Moschner hat ihre 400.000 Follower jetzt gebeten, uns zu helfen. Bisher kamen rund 30.000 Euro von über 1000 Menschen zusammen.
Und die Kraft? Wird die auch weniger?
Ich mache das seit fünf Jahren, ich habe mich über alles schon einmal aufgeregt und es fühlt sich so an, als hätte ich schon alles mehr als einmal gesagt. Man bringt diese Ungerechtigkeit in die Öffentlichkeit, aber es geht weiterhin nicht um die Menschen, die ertrinken, sondern politisch immer nur um die Zahl der „Ankünfte“, die man möglichst niedrig halten will. In der maltesischen SAR-Zone ist vor einigen Wochen das syrische Mädchen Loujin, vier Jahre alt, auf einem Boot verdurstet, weil die Malteser tagelang keine Hilfe geschickt haben, obwohl sie von dem Boot wussten. Ja, das macht einen schon fertig. Wir müssen dankbar sein für die Seelen, die wir gerettet haben und wir gehen erst vor Anker, wenn unsere Hilfe nicht mehr benötigt wird.