„Das Ghetto hat mein Leben zerstört“: Hier singen Hamburger Kinder ihren Frust weg
Es mangelt an Geld, es mangelt an Deutschkenntnissen: Aufgrund ihrer Lebensumstände bekommen Kinder in den ärmsten Stadtteilen Hamburgs nur selten die Möglichkeit, ein Musikinstrument zu erlernen. Für sie gibt es ein ganz besonders Angebot – bei dem sich zeigt, mit welchen Sorgen sich bereits die jüngsten Hamburger herumschlagen.
- Deutsch (Deutschland)
MOPO+ Abo
für 1,00 €Jetzt sichern!Die ersten 4 Wochen für nur 1 € testen!Unbeschränkter ZugangWeniger Werbung
Danach nur 7,90 € alle 4 Wochen
Wenn Sie E-Paper Kunde sind, betrifft diese Änderung Sie nicht.
Es mangelt an Geld, es mangelt an Deutschkenntnissen: Aufgrund ihrer Lebensumstände bekommen Kinder in den ärmsten Stadtteilen Hamburgs nur selten die Möglichkeit, ein Musikinstrument zu erlernen. Für sie gibt es ein ganz besonders Angebot – bei dem sich zeigt, mit welchen Sorgen sich bereits die jüngsten Hamburger herumschlagen.
„Wir freuen uns die ganze Woche auf den Freitag!“, ruft Jayden. Mit einem Bass in der Hand steht der 12-Jährige neben seinen Bandkollegen Sea (10), Ioana (11) und Arvid (11). Jeden Freitagvormittag hält der Bus am Baererplatz in Harburg. Dann kommen die vier Kinder für eine Stunde zum „Jamliner“, um ihren Song zu üben. Sonst ist auch Vasile (11) dabei.
Der „Jamliner“ tourt durch Hamburgs Problem-Stadtteile
Bereits seit 22 Jahren gibt es den „Jamliner“, einen umgebauten HVV-Bus, der mit allerlei Musikinstrumenten und Tontechnik ausgestattet wurde. Er tourt durch die Stadtteile Osdorfer Born, Dulsberg, Steilshoop, St. Pauli, Jenfeld, Billstedt, Horn, Harburg, Neuwiedenthal und Kirchdorf-Süd – eben die Stadtteile, in denen viele Eltern ihren Kindern eine Musikschule nicht bezahlen können. Oder zu wenig Deutsch können, um sie dort anzumelden.
Deshalb ist das Musizieren im Bus für Jayden und seine Freunde auch etwas ganz Besonderes. „Wir haben unsere Band „Ariosvaja“ genannt. Das setzt sich aus unseren Anfangsbuchstaben zusammen“, erklärt Sea. Während des Gesprächs mit der MOPO macht sie immer wieder Scherze mit ihren Freunden.
Vormittags wird der „Jamliner“ in Kooperation mit den Stadtteilschulen genutzt. Jeweils ein halbes Jahr lang werden vier bis sechs Schüler einer Klasse freigestellt, um einmal wöchentlich für eine Stunde im Bus Musik zu machen. Die Teilnahme ist kostenlos und sehr niedrigschwellig – aufwändige Anträge der Eltern sind nicht notwendig. „Wir halten die Lehrer an, die Teilnahme nicht als Belohnung für gute schulische Leistungen oder gutes Benehmen zu nutzen“, sagt Winfried Stegmann, pädagogischer Leiter der Jugendmusikschule Hamburg, die den „Jamliner“ gemeinsam mit dem Musikschulverein und dem Verein „Nestwerk“ finanziert. „Alle Kinder sollen die Möglichkeit bekommen, zu musizieren.“
So schlimm sind die Probleme der Kinder im „Jamliner“
Beim Songschreiben kommt zum Vorschein, mit welchen Problemen die Kinder zuhause zu kämpfen haben oder welche traumatischen Erfahrungen sie bereits durchleben mussten. „Polizisten haben mein Herz vergiftet, mit Angst und Schrecken über uns gerichtet, Schüsse fielen und Hunde bellten, Gedränge und Gestank zwischen den Zelten“, singt die Band „Äpfel und Dreck“ in ihrem Song über ihre Fluchtgeschichte. In einem anderen Song der Band „Stress gebaut“ aus Jenfeld heißt es: „Das Ghetto in mir hat mein Leben fast zerstört. Hat mir die Zukunft verbaut, ich war total verwirrt. Jetzt hab‘ ich einen anderen Weg gewählt“.
Der Song „Lifestyle“ von „Ariosvaja“ ist nicht ganz so harter Tobak. Dennoch bekommen die Musikpädagogen „Jamliner“ viel über die Zustände in den Familien der Kinder mit. „Wir sprechen viel mit den Lehrern darüber. Und auch die meisten Kinder sind sehr offen“, so Winfried Stegmann. „Mit den Eltern selbst haben wir nur selten Kontakt.“
Nach Schulschluss steht der kunterbunte „Jamliner“ allen Kindern offen. Sie können so oft kommen, wie sie möchten. So werden pro Jahr etwa 120 Bands gegründet und 120 Songs produziert.
Jayden, Sea, Ioana, Vasile und Arvid sind seit dem Sommer mit dabei. Der Unterricht geht ein halbes Schuljahr. „In der Zeugniswoche wird es ein Konzert mit ganz vielen ,Jamliner‘-Bands geben“, sagt „Jamliner“-Koordinator Matthias Möller-Titel. „Bekommen wir dann unser Zeugnis?“, fragt Sea mit großen Augen, woraufhin Möller-Titel lachend den Kopf schüttelt. „Nur das Schulzeugnis. Von uns bekommt ihr die fertige CD mit eurem Song und eurem eigenen Cover.“
Das könnte Sie auch interessieren: Gelähmt über Nacht: Plötzlich konnte ich mich nicht mehr bewegen
Die genauen Standorte des „Jamliners“ sind auf der Webseite abrufbar. Dort kann man auch in das eine oder andere Lied hineinhören, das die Schüler bereits geschrieben haben.