Das Geheimnis gelungener Integration? Engagement – und „Polizei-Saft“
Sie schlagen Brücken zwischen Kulturen, machen schüchterne Kinder stark und bändigen Chaoten: Ulrich Gomolzig (70) und Ex-Polizist Claus Niemann (76) haben sich einem besonderen Projekt verschrieben. Beide gehören zum Vorstand des „Vereins zur Förderung der Integration“ in Wilhelmsburg und kümmern sich um Kinder, für die sich niemand einsetzt, die nie im Mittelpunkt stehen – außer wenn es an Silvester zu Krawallen kommt. Die MOPO war vor Ort und hat sich zeigen lassen, wie Integration spielerisch gelingen kann.
Sie schlagen Brücken zwischen Kulturen, machen schüchterne Kinder stark und bändigen Chaoten: Ulrich Gomolzig (70) und Ex-Polizist Claus Niemann (76) haben sich einem besonderen Projekt verschrieben. Beide gehören zum Vorstand des „Vereins zur Förderung der Integration“ in Wilhelmsburg und kümmern sich um Kinder, für die sich niemand einsetzt, die nie im Mittelpunkt stehen – außer wenn es an Silvester zu Krawallen kommt. Die MOPO war vor Ort und hat sich zeigen lassen, wie Integration spielerisch gelingen kann.
Sie kann sprechen – aber keiner bekommt ihre Stimme je zu hören. Elif (Name geändert) ist neun Jahre alt und redet nicht. Mit niemandem. Nicht in der Schule, nicht auf dem Pausenhof, nicht beim Sport. Die Lehrerin ist verzweifelt. Sie ruft bei Ulrich Gomolzig an und bringt das Mädchen anschließend mit zum psychomotorischen Kurs im Haus der Jugend. Der 70-Jährige nimmt sich des Mädchens an, redet und klettert mit ihr. Es ist das zehnte Treffen, als sie das erste Mal spricht. Gomolzig hilft ihr gerade über eine hohe Leiter. „Ich habe einen Zahn verloren und den meinem Opa gegeben“, sagt sie zu ihm.
Wilhelmsburg: Projekt fördert Integration durch Sport
Es sind Momente wie diese, die Ulrich Gomolzig (70) und den Ex-Polizisten Claus Niemann (76) dazu bringen, ihre Freizeit in einer Halle im Haus der Jugend in Wilhelmsburg zu verbringen. Tag für Tag, Stunde um Stunde.
Ihre Arbeit beginnt dort, wo Schulen und Eltern nicht weiter kommen: Seit 2006 begeistern sie wöchentlich 650 Kinder für Sport, sind Ansprechpartner und Erzieher. Doch auch wenn die körperliche Bewegung im Fokus steht, geht es um mehr: Zusammenhalt, Freundschaft, den Abbau von Ängsten und Vorurteilen. Es ist ein besonderes und bereits mehrfach ausgezeichnetes Projekt in Hamburg – und ein Leuchtturm in Wilhelmsburg.

„Sport ist ein Türöffner, um unterschiedliche Kulturen, Nationalitäten, Jung und Alt zusammen zu bringen“, sagt Ulrich Gomolzig. „Hier treffen Menschen aufeinander, die sich sonst nicht begegnen: Geflüchtete, Zugezogene, Einheimische. Sie lernen sich hier kennen, können sich austauschen, Freundschaften entstehen.“
Claus Niemann stimmt seinem Kollegen zu. Niemann hat jahrelange Erfahrung in der Kinder- und Jugendarbeit. In seiner Zeit als Polizist – und Cop4u – war er in den Stadtteilen Wilhelmsburg und Harburg im Einsatz. „Wenn es um Integration geht, müssen wir an die Kinder heran treten“, sagt er. „Die ziehen ihre Eltern mit. Für Kinder spielt es keine Rolle, wie viele einen Migrationshintergrund haben. Das ist ihnen piepegal, die wollen Spaß haben – und sagen ihren Eltern, sie wollen wieder herkommen.“
Hamburg: Eltern in Sport-Angebot aktiv eingebunden
Das Vater-Mutter-Kind-Turnen ist an diesem Tag wieder gut besucht, der Lärmpegel enorm – überall wuseln die Kleinen zwischen Matten, Kästen, Schaukeln und Barren umher, lachen und rufen. Mehr als 80 Eltern mit ihren Kindern nutzen das Angebot, bei dem die Bewegungslandschaften in der Halle jede Woche neu gestaltet und Kinderwünsche immer berücksichtigt werden.
„Wenn ich mit diesen Kindern in einen Fußball-Verein gehen würde, könnte ein Drittel Fußball spielen, ein Drittel hat zwei linke Füße und ein weiteres Drittel hat Angst, den Ball an den Kopf zu kriegen“, sagt Niemann. „Auf so einer Bewegungsbaustelle findet hingegen jedes Kind etwas, was es kann und ihm Spaß macht.“

Das schätzt auch Branka Ibric (36). Sie kommt zusammen mit ihrer achtjährigen Tochter ins Haus der Jugend: „Dieses Angebot ist in einem Brennpunkt wie Wilhelmsburg extrem wichtig für die Kindern“, sagt sie. „Meine Tochter hat sich hier wirklich entwickelt, ihr Selbstbewusstsein ist enorm gewachsen.“ Früher sei Anastasija sehr schüchtern gewesen – heute könne sie es kaum noch erwarten, ihrer Mama zu zeigen, was sie alles kann.

Die Eltern sind in das Sportangebot aktiv eingebunden. Sie sollen sowohl die Lernfortschritte ihrer Kinder miterleben, als auch das gemeinsame Spielen wieder entdecken oder neu erlernen. Aldijana Agic (42) ist sehr dankbar, dass es dieses Projekt gibt: „Meine Tochter hatte während der Pandemie eine sehr komplexe Bein-OP und muss ihre motorischen Fähigkeiten erst wieder aufbauen. Ohne das Angebot wäre das sehr schwierig, denn Physiotherapie ist immer extrem kurz und in der Schule fehlen viele Lehrer, meine Tochter hat dort – auch nach der Pandemie – immer noch keinen Sportunterricht.“
Integration: Hamburger und Geflüchtete arbeiten zusammen mit den Kindern
Bei dem Projekt geht es jedoch nicht nur um Körperbeherrschung, sondern um Psychomotorik. Bedeutet: Neben Gleichgewicht, Koordination und Geschicklichkeit stehen auch das Erleben und Ausdrücken von Gefühlen im Mittelpunkt – und damit die Sprache. Viele der Kinder aus Wilhelmsburg, die ins Haus der Jugend kommen, haben Sprach-Schwierigkeiten. Deshalb achten Gomolzig, Niemann und ihre Kollegen darauf, viel mit den Kindern zu reden. Ein geflüchteter Syrer arbeitet ebenfalls als Honorarkraft in dem Projekt – und ist das große Vorbild vieler Kinder. Er versteht ihre sprachlichen Barrieren, ihr Leben und Leiden.
„Einige Kinder waren sehr traumatisiert. Das war für uns eine riesige Herausforderung, denn sie waren zum Teil sehr aggressiv und roh im Umgang mit anderen Kindern. Wir mussten viel Zeit und Geduld investieren“, berichtet Gomolzig.
„Herr Niemann, wissen Sie noch, der Polizei-Saft?“
Sowohl Gomolzig als auch Niemann sind im Rentenalter – und können sich nicht vorstellen, zeitnah mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit aufzuhören. Wer sie mit den Kindern sieht, versteht das. Die beiden Männer sind für die Jungs und Mädchen Vorbilder, Mentoren, Freunde. Die Kinder strahlen sie an, klatschen ab und erinnern sich auch viele Jahre später noch daran, wer ihnen damals beim Balancieren die Hand hielt.
Erst neulich sei er alleine in einem Restaurant am Stübenplatz gewesen, erzählt Niemann. Plötzlich war er umringt von 18-jährigen Mädchen, die alle auf ihn einredeten: „Herr Niemann, wissen Sie noch, der Polizeisaft?“ Der 76-Jährige lacht und erklärt: „Wir haben damals immer einen Tee nach dem Sport getrunken und um das interessanter zu machen, haben wir das immer Polizei-Saft genannt. Die Mädchen haben im Restaurant über nichts anderes mehr gesprochen.“
Niemann: „Wichtig für Kinder, Regeln und Grenzen zu lernen“
Mit manchen Kindern ist die Zusammenarbeit kompliziert. Einmal hätten sie gespendete Turnschuhe unter den Kindern verteilt, erzählt Niemann. Ein Junge, der aus Ägypten geflüchtet war, wollte unbedingt Puma-Turnschuhe, doch die waren bereits vergeben. Er pfefferte seine in die Ecke. Niemann erklärte ihm, wenn er die nicht haben wolle, bekomme er gar keine Schuhe. Der Junge explodierte, beleidigte die anderen Kinder, schubste eins zur Seite und rannte aus der Halle.
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Am nächsten Tag kam er zurück und wollte die Schuhe aus der Ecke dann doch haben. „Ich habe sie ihm nicht gegeben“, sagt Niemann. „Er sollte nächste Woche mit der Klasse zurückkommen und sich vor allen anderen für sein Verhalten entschuldigen.“ Das sei dem Jungen schwergefallen, doch Niemann nahm ihn beiseite, redete über eine Stunde mit ihm. „Am Ende hat er es gemacht – und er hat die Schuhe bekommen, die wir noch hatten.“
Es sei wichtig für Kinder, Regeln und Grenzen zu lernen. Davon ist Claus Niemann überzeugt. Nur so könne man verhindern, dass aus ihnen Krawall-Jugendliche werden, mit denen jeder – inklusive dem Staat – überfordert ist. Und er weiß auch: Manchmal kann ein Erwachsener, der an ein Kind glaubt und ihm die Hand reicht, den Unterschied machen.